Agenturchef Matthias Schrader im Interview: „Wir Deutschen denken immer erst ans Risiko“

t3n Magazin: Deutschland ist beim kürzlich veröffentlichten Web-Index auf Platz 16 von 61 gelandet – hinter Staaten wie Irland und nur knapp vor Chile. Ist der Zug für die digitale Wirtschaft in Deutschland bereits abgefahren?
Matthias Schrader: Das glaube ich nicht. Aber sicherlich gehören wir in Deutschland nicht zur vordersten Spitze. Es gibt verschiedenste Untersuchungen, die das anhand von Indikatoren wie der Breitband-Durchdringung oder der Förderung von Gründern hierzulande aufzeigen. Ich glaube allerdings nicht, dass in Deutschland das Optimum erreicht wurde und wir jetzt immer weiter zurückfallen.
t3n Magazin: Aber es lässt sich schon feststellen, dass Deutschland gerade im Vergleich zu den USA oder auch anderen europäischen Ländern hinterherhinkt – und das, obwohl Deutschland schon immer ein hochtechnologisiertes Land war. Woran liegt das, was läuft aktuell falsch?
Matthias Schrader: Auch in anderen Technologiebereichen waren die USA immer schon meilenweit vor Deutschland und auch Europa – wenn man beispielsweise an die PC-und Software-Industrie der 1980er und 1990er Jahre denkt. Insofern setzt sich in der digitalen Wirtschaft nur das fort, was bereits in den 1970ern und 1980ern Jahren versäumt wurde. Ein Punkt ist beispielsweise der Transfer zwischen dem universitären Bereich und der Wirtschaft, ein weiterer das gesamte System von Unternehmensgründung und Unternehmensfinanzierung. Was die Amerikaner im Valley in Sachen Internetwirtschaft erschaffen und zum Teil an der Ostküste jetzt wiederholt haben, haben sie in den vergangenen 20 bis 30 Jahren gelernt.
t3n Magazin: Gelernt? Was genau haben die Amerikaner gelernt?
Matthias Schrader: Die VCs, die heute die Startups finanzieren, wurden in den 80er und 90er Jahren selbst finanziert. Marc Andreessen zum Beispiel, der heute einen der erfolgreichsten VC-Fonds führt, hat als 21-Jähriger Anfang der 1990er Jahre den Mosaic-Browser (später Netscape Navigator, Anm. d. Red.) entwickelt und erhielt von den Silicon-Graphics-Gründern, allen voran James Clark, seine Startup-Finanzierung. Wir haben in den USA also schon die zweite, dritte, vierte Generation von Gründern, die wiederum von ihrer Vorgeneration finanziert wurde. Und diesen Geist, der im Silicon Valley in den 70er Jahren mit der ersten Gründergeneration um Intel und die gesamte Mikroprozessor-Industrie herum entstand, haben wir in Deutschland und Europa einfach nicht. Diese kulturellen Muster, wie Gründungen funktionieren und dass aus solchen Gründungen gute Ideen und Weltkonzerne entstehen können, kennen wir in Deutschland so nicht. Es gibt wenige gute Beispiele in Deutschland, SAP zum Beispiel. Es gibt Versuche der Rockets (Rocket Internet, Anm. d. Red.), in ähnliche Dimensionen vorzustoßen. Aber diese Beispiele basieren nicht auf tradierten, kulturellen Erfahrungen.

t3n Magazin: Für wie wichtig halten Sie diesen kulturellen Aspekt?
Matthias Schrader: Ich glaube dieser kulturelle Aspekt ist der wesentliche Grund, weshalb wir in Deutschland in Sachen Digitalisierung hinterherhinken. Es gibt sicherlich, und das ist schwer zu quantifizieren, eine Reihe von Unternehmen, Gründern und Ideen, die gar nicht erst „zum Fliegen“ kommen. Würde man beispielsweise so etwas wie Google Street View in Deutschland erfinden? Vermutlich schwierig. Hätte es die deutsche Automobil-Industrie gegeben, wenn ein Carl Benz vor 125 Jahren vor der ersten Probefahrt mit jedem seiner Prototypen zum TÜV gemusst hätte? Wohl nicht. Wir denken sehr schnell an Risikovermeidung, wir sind eine Risikovermeidungsgesellschaft geworden. Jedes Risiko, das kommen könnte, gilt es, vorher schon abzufedern und unter Kontrolle zu bringen, als eher die Chancen zu sehen. Wir bauen in vielen Fällen erst den Airbag und den Sicherheitsgurt, bevor wir das Auto bauen. So ist es im Internet auch. Wir sehen überall erstmal die Gefährdungslagen und Risiken und versuchen das zu managen, anstatt einfach erst mal zu machen.