Mitarbeiterbindung: Ob jemand bleibt, entscheidet oft schon das Onboarding

Weder mit Obstkörben noch mit Geld allein lassen sich Mitarbeiter im Unternehmen halten. Das gilt ganz besonders für stark umworbene IT-Fachkräfte. Ob jemand langfristig bleibt, entscheidet sich oft bereits im Onboarding. Bei Secfix fehlt, womit manch andere IT-Unternehmen ihre Mitarbeiter bei Laune halten wollen: der Billardtisch, der Tischkicker, der Obstkorb oder ein Kühlschrank mit kostenlosen Getränken. In Zeiten des Fachkräftemangels steht das Büro als Wohlfühloase vielerorts ganz weit oben in der Rangliste der Tools zur Mitarbeiterbindung. Doch Secfix, ein Startup für Cybersicherheit, geht einen anderen Weg. Sie haben nicht einmal ein Büro – zumindest keines, in dem sich Teile der Belegschaft treffen. Zwar befindet sich der Firmensitz formell in Berlin. Doch faktisch arbeiten die vierzehn IT-Experten dort, wo sie gerade sein wollen – zum Beispiel in El Salvador unter Palmen, auf Zypern am Strand oder im Café in New York City. Eine Zeiterfassung kennt Secfix nicht. Die Coder teilen sich ihre Arbeit selbst ein. „Jeder kann jederzeit an den Strand gehen, aber wenn es etwas Dringendes gibt, muss er auch damit rechnen, von dort sehr schnell zur Arbeit zurückkehren zu müssen“, sagt Marketingleiterin Jessica Doering. Bei den Mitarbeitern kommt das alles gut an, sie halten Secfix die Treue. Seit der Unternehmensgründung Anfang 2020 hat nur eine IT-Fachkraft das Unternehmen verlassen. Ob durch flexibles Arbeiten wie bei Secfix, durch üppige Gehaltssprünge oder die Erledigung privater Angelegenheiten durch den Arbeitgeber: Um begehrte Fachkräfte im Unternehmen zu halten, ist Kreativität gefragt. „Viele Personaler oder Chefs sind gerade bei der Bindung von IT-Leuten eher hilflos“, sagt Gunther Wolf, Unternehmensberater in Wuppertal und Buchautor zum Thema Mitarbeiterbindung. Jeder fünfte ITler verlässt sein Unternehmen Zahlen belegen den Trend zur bröckelnden Loyalität: Die Mitarbeiterfluktuation in der IT-Services-Branche hat einen neuen Höchststand erreicht. Nachdem sich im ersten Jahr der Coronapandemie die Fluktuation von 20 auf elf Prozent nahezu halbiert hatte, bewegt sie sich seit dem dritten Quartal 2021 bereits wieder auf Vorkrisenniveau. Laut einer Langzeituntersuchung des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens ISG lag die Quote Ende 2021 bei 21,2 Prozent: Pro Jahr verlässt also jeder fünfte ITler sein Unternehmen. „Viele Personaler oder Chefs sind gerade bei der Bindung von IT-Leuten eher hilflos.“ Oft werden die Fachkräfte noch mit Geld geködert. Ablesen lässt sich dies an IT-Gehältern, die steil ansteigen. Laut der Beratungsfirma Willis Towers Watson haben die Engelte in Deutschland zum Beispiel für Systemarchitekten zwischen den Jahren 2019 und 2021 von knapp 73.000 Euro pro Jahr um 24 Prozent auf 91.400 Euro zugelegt. Das Gehalt für Systemadmins legte im gleichen Zeitraum um zwölf Prozent auf 88.700 Euro zu. Um Abwerbeversuchen von Headhuntern Einhalt zu gebieten, hat sich Innogames für einen ungewöhnlichen Schritt entschieden: Das Hamburger Entwicklerstudio von Browsergames wie zum Beispiel „Forge of Empires“ hat im vergangenen Jahr zunächst intern, im Sommer 2022 dann auch öffentlich, die Gehaltsspannen der verschiedenen Berufsgruppen öffentlich gemacht. Branchenkennern zufolge liegt Innogames mit seinen Entgelten im oberen Drittel unter den Spieleentwicklern. „Wir zahlen gut und fair, warum sollen wir darüber nicht reden“, sagt Andreas Lieb, Personalleiter bei Innogames. Die Botschaft an Mitarbeiter: Seht her, ihr verdient bei uns schon ziemlich ordentlich. Die öffentlichen Gehaltsspannen sollen auch eine klare Karriereperspektive aufzeigen. Denn so ist jedem Beschäftigten klar, welches Gehalt auf der nächsten Karrierestufe wartet. Um dorthin zu gelangen, können Mitarbeiter fehlende Qualifikationen im Innogames-eigenen Weiterbildungsinstitut Innoversity erwerben. Für Beschäftigte, die noch nicht ganz das nächste Karrierelevel erreicht haben, aber diesen Weg anstreben und bereits hervorragende Arbeit leisten, sieht das Unternehmen ein so genanntes Übergangsgehalt vor. „Es dient als Anerkennung des bisher Erreichten und als zusätzliche Motivation, auch noch den letzten Schritt zu gehen“, sagt Lieb. „Bei uns soll niemand, der die nötige Leistung bringt, lange auf den nächsten Karriereschritt warten.” Innogames setzt zudem auf flexible Arbeitszeiten zwischen sechs Uhr morgens und elf Uhr abends vor Ort in Hamburg. Auch Remote-Work ist möglich. Doch aus steuerlichen Gründen und wegen der deutschen Sozialversicherung müssen Beschäftigte von Innogames ihren Wohnsitz in Deutschland haben, heißt es beim Unternehmen. Man arbeite an einer Lösung. Durch den Arbeitsplatz im Ausland soll es für Programmierer attraktiver werden, bei Innogames zu arbeiten. Individuelle Betreuung Für das Hamburger Unternehmen New Work arbeiten bereits mehr als 200 IT-Fachkräfte in Spanien und Portugal. Damit sie möglichst lange bleiben, haben die Macher des Karrierenetzwerks Xing die Standorte auch nach Attraktivität ausgewählt: Barcelona, Valencia, Porto. Gut drei Jahre bleiben die dortigen IT-Fachkräfte im Schnitt im Unternehmen. „Das ist in etwa so lange wie am Stammsitz im Hamburg. Mehr kann man nicht erwarten“, sagt Technikvorstand Jens Pape. Der Vorteil: Noch sind die dortigen Gehälter um fünf bis zehn Prozent niedriger als in Deutschland. Wollen IT-Firmen dies ausnutzen, müssen sie sich allerdings sputen. „Die Schere geht immer weiter zu. In drei Jahren dürfte das Gehaltsniveau das gleiche sein“, sagt Pape. Im Ausland indes müssen Unternehmen wie New Work einen ähnlichen Aufwand wie in Deutschland betreiben, um die Loyalität von Mitarbeitern zu erhöhen. Die Büros befinden sich in Top-Lage. Der Stand der IT-Technik muss immer aktuell sein. New Work beschäftigt auch in Spanien und Portugal HR-Fachkräfte, die sich auch individuell um die Belange der ITler kümmern und zum Beispiel Mitarbeiter-Events organisieren: So stärkt das Unternehmen den Zusammenhalt der Teams. „Jeder Standort muss zudem der örtlichen Mentalität Rechnung tragen“, so Pape. Gutes Essen hat etwa in Spanien einen höheren Stellenwert als in Deutschland. Deshalb erhalten Mitarbeiter Restaurantgutscheine. In Katalonien habe man zudem die Erfahrung gemacht, dass die Menschen dort sehr freiheitsliebend seien. So müsse man sich auch mit dem dort häufig geäußerten Wunsch nach der Vier-Tage-Woche auseinandersetzen, berichtet Pape. „Erfolgreiche Mitarbeiterbindung ist das erfolgreichste Recruitingtool.“ Große Zugeständnisse wie die von New Work hält Experte Wolf für richtig, um die Treue von Mitarbeitern zu gewinnen. „Unternehmen müssen ihre Arbeitgebermarke pflegen. Was wollen wir darstellen? Wie wollen wir wahrgenommen werden, wie wollen wir uns von anderen Arbeitgebern abheben? Diese Fragen müssen Chefs beantworten können, wenn sie Mitarbeiter binden wollen“, sagt er. Allein mit mehr Geld jedenfalls lässt sich eine hohe Mitarbeiterfluktuation nicht bremsen, ist Berater Wolf überzeugt: „Boni sind für viele ITler nur ein Mitnahmeeffekt, aber kein Argument zu bleiben.“ Er kennt aus seiner Praxis Unternehmen, die 30 Prozent weniger Gehalt bezahlen als andere, denen es dennoch gelinge, ihre Mitarbeiter zu binden. Gerade jüngere Arbeitnehmer wollen sich mit ihrem Arbeitgeber identifizieren. So hat eine Studie von Deloitte gezeigt, dass Beschäftigte bereit sind, länger als fünf Jahre im Unternehmen zu bleiben, wenn sie mit dessen Werten konform gehen. Ist das nicht der Fall, kündigen sie schon nach zwei Jahren. Es geht um Bedürfnisse Statt nach dem Gießkannenrezept immer mehr Geld in Gehaltssteigerungen zu stecken, sei es sehr viel wirksamer, individuell auf die Mitarbeiter und ihre Bedürfe einzugehen, findet Wolf. „Ein Programmierer, der frisch von der Uni kommt, hat andere Bedürfnisse als ein langjähriger Familienvater.“ Zu Jobwechseln komme es meist dann, wenn ein Arbeitnehmer von einer Lebensphase in die nächste trete. Genau zu diesen Zeiten könnten sich Arbeitgeber profilieren. Gründen Programmierer zum Beispiel eine Familie, kann das für Unternehmen bedeuten, dass sie ihre Bemühungen verstärken müssen. „Sie können dann zum Beispiel bei der Suche nach einer neuen Wohnung oder einem Grundstück helfen“, erklärt Wolf. Wichtig sei es auch, nicht nur das Wohlbefinden des Angestellten im Blick zu haben, sondern die Aufenthaltsqualität seiner Familie oder des Partners zu verbessern. „Programmierer kündigen auch, wenn es ihrem Partner am Lebensort nicht mehr gefällt“, sagt Wolf. [crosslinks ids="251944,251947,251904"] Für Unternehmen hieße das beispielsweise: Fortbildungen für Partner organisieren, sich um Kitaplätze kümmern, Kooperationen mit örtlichen Vereinen eingehen. „Davor dürfen Unternehmen nicht mehr zurückschrecken“, sagt Wolf. Aktuell könnten Firmen auch mit einem verstärkten Angebot für die Erhaltung der mentalen Gesundheit punkten, sagt der Experte. Denn ausgangs der Pandemie wünscht sich jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland ein besseres Bewusstsein des Arbeitgebers für die mentale Gesundheit von Mitarbeitern. 44 Prozent der Befragten geben jedoch an, in ihrem Unternehmen gebe es keine betriebliche Gesundheitsförderung. Das hat eine Studie der Frankfurter Personalberatung S-Three ergeben. HR-Abteilungen sind dadurch geforderter denn je. Doch der steigende Aufwand für die Mitarbeiterbindung könnte die Personaler an anderer Stelle entlasten: bei der Gewinnung von Fachkräften. „Gute Arbeitsbedingungen sprechen sich herum. Das weckt das Interesse derer, die woanders vor dem Absprung stehen“, sagt Berater Wolf. „Erfolgreiche Mitarbeiterbindung ist das erfolgreichste Recruitingtool.“ Mitarbeiterbindung beginnt mit der Vertragsunterzeichnung Erfolgreiches Recruiting wiederum geht nahtlos in Mitarbeiterbindung über. Oft streichen die mühsam rekrutierten Fachkräfte schon die Segel, bevor sie überhaupt so richtig an Bord gegangen sind: Fast 36 Prozent der frisch rekrutierten Mitarbeiter springen schon vor dem ersten Arbeitstag wieder ab, zeigt eine Umfrage des HR-Software-Anbieters Haufe unter 363 Personalverantwortlichen. Vor zwei Jahren lag die Zahl der frühen Kündigungen mit 30 Prozent noch um sechs Prozentpunkt niedriger. Immer weniger Fachkräfte fühlen sich also durch eine Vertragsunterschrift an den neuen Arbeitgeber gebunden. „Wenn die Integration auf fachlicher, sozialer und kultureller Ebene lückenhaft ist oder der Kandidat wochenlang nichts vom Arbeitgeber hört, kann es passieren, dass er noch vor dem ersten Arbeitstag abspringt – oder später während der Probezeit. Gerade in Branchen wie zum Beispiel der IT kann sich so etwas kein Arbeitgeber mehr leisten“, sagt Veit Lemke, Trainer der Haufe Akademie. Dass Unternehmen bei der Integration von Mitarbeitern noch viel Luft nach oben haben, ist vielen von ihnen durchaus bewusst. Jedenfalls sehen laut Haufe-Studie knapp sieben von zehn HR-Fachleuten Verbesserungspotenziale beim Onboarding im eigenen Haus. Lemke nennt einen Kardinalfehler: „Das Onboarding wird häufig sehr konservativ mit fachlichem Schwerpunkt gestaltet. Es fehlen die kreativen Ideen für die soziale und kulturelle Integration, die noch immer zu stark vernachlässigt werden.“ Vor allem der Gesprächsfaden müsse zwischen Vertragsunterzeichnung und Jobeintritt aufrechterhalten werden. Dabei kann spezielle Onboarding-Software helfen. Über die hält ein Pate im Unternehmen oder ein HR-Verantwortlicher Kontakt zum neuen Mitarbeiter. Der Vorteil: Die Inhalte wie zum Beispiel Leitlinien des Unternehmens oder eine spielerische Auseinandersetzung des neuen Mitarbeiters mit seinem Arbeitgeber – etwa in Form eines Quiz – werden regelmäßig ausgesendet. So reißt der Kontakt nicht ab. Auch individuelle Anliegen können erledigt werden – etwa ein Aufruf an freiwillige Umzugshelfer im Unternehmen. Ist ein neuer Mitarbeiter erst einmal im Job angekommen, gilt es, sein Arbeitsumfeld so angenehm wie möglich zu gestalten. „Dazu zählt vor allem ein spannendes Projekt. IT-Fachkräfte wollen auf ihre Arbeit stolz sein“, sagt Berater Wolf. „Wem langweilig ist oder wer seinen Arbeitgeber für langweilig hält, der denkt schnell wieder an Abschied.“