Produktentwicklung: Von der User-Experience zur Business-Experience

Digitalisierung entsteht nicht durch eine neue Website oder App – sie geht einher mit sich verändernden Unternehmensstrukturen und Arbeitsweisen. Nachhaltig erfolgreiche Unternehmen beziehen deswegen schon vor der Produktentwicklung sämtliche Geschäftsbereiche in den Entstehungsprozess mit ein. Die Coronapandemie hat in den vergangenen Monaten wie ein Verstärker für die Digitalisierung gewirkt. Im Privaten wie im Arbeitsumfeld wurden in Höchstgeschwindigkeit neue Strukturen aufgebaut; auf einmal wurde klar, dass vieles, was zuvor nur physisch erledigt wurde, auch digital funktioniert. Auch in der digitalen Landschaft selbst fand und findet ein Umbruch statt, die Grenzen zwischen einzelnen Produkten bröckeln. Ein Grund dafür: Anforderungen an Standards, Funktionsweise und Optik von digitalen Produkten sind nicht an einzelne Branchen gebunden, sondern bestehen übergreifend. Eine Online-Apotheke zum Beispiel muss sich nicht nur mit konkurrierenden Online-Apotheken, sondern auf einer gewissen Ebene auch mit jedem anderen Shop im Netz messen lassen. Den Benchmark setzen große, designgetriebene Unternehmen wie Airbnb, Instagram oder Google, die sich konstant weiterentwickeln und die digitalen Interaktionsformen von Nutzer:innen prägen. Durch die Vergrößerung des Wettbewerbs haben Unternehmen die User-Experience (UX) zunächst als Faktor zur potenziellen Abhebung für sich entdeckt. Eine positive Entwicklung, die mittlerweile aber in einer homogenen Masse an digitalen Erscheinungsbildern resultiert. Die Interfaces sehen sich immer ähnlicher, denn grundlegende Funktionen wie Informieren, Bewerten, Auswählen, Ausfüllen, Bezahlen oder Kommunizieren werden bei einer Vielzahl an Produkten und Vorgängen benötigt. Ein Vorteil entsteht dadurch insofern, dass Nutzer:innen gelernte Muster intuitiv und flächendeckend im digitalen Raum anwenden können. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings eine entstehende Auswechselbarkeit der Anbieter. Die Anwendung der sogenannten UX-Standards hat mit der Zeit keineswegs an Bedeutung verloren, sie sind aber zu dem geworden, was ihr Name bereits beinhaltet: Standard. Damit stechen sie eben auch nicht mehr positiv hervor. Am deutlichsten zeigt sich das im Bereich von E-Commerce. Best Practices zu bestimmten Vorgängen, zum Beispiel die Gestaltung von Checkout-Prozessen, gibt es in Massen. Wer hier gängige Regeln missachtet und beispielsweise erst im letzten Schritt Kund:innen mit zusätzlichen Kosten überrascht, verspielt seine Chance, von diesem bestehenden Wissen zu profitieren. Weil die UX-Standards und damit die nutzerfreundliche Digitalisierung von analogen Prozessen nun also nicht mehr ausreichen, um sich von anderen Anbietern abzuheben, muss sich der Blickwinkel auf Digitalisierung und Experience insgesamt verändern. Aus dem bislang reinen Nutzerfokus beim Thema wird so ein Stakeholder-Fokus, die UX wird zur Business-Experience (BX) ausgeweitet. [caption id="attachment_251545" align="alignnone" width="1200"] Wer bei Google „Best Practices -Check out” eingibt, erhält 607.000.000 Ergebnisse. Gute User-Experience ist also gefragt. (Abbildung: Google)[/caption] Experience größer denken Aktuell werden Projekte zur Verbesserung der User-Experience vor allem der Marketingabteilung zugeordnet. Unternehmen fokussieren sich hier auf die Digitalisierung und Optimierung von bereits Bestehendem. Der Rahmen für ein Projekt ist dann beispielsweise ein Web-, App- oder Feature-Design mit der Zielsetzung, moderner zu werden, Klickwege zu verkürzen, Fehlerraten zu minimieren oder Konversionsraten zu maximieren. [crosslinks ids=“250493,248877”] Eine App zu entwickeln, klingt zwar zunächst nach viel Spielraum, ist in der Realität aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Alle der gerade genannten Zielsetzungen sind durchaus essenziell für den Erfolg eines Unternehmens, ersticken jedoch Innovationsbemühungen im Keim, wenn der langfristige Fokus allein auf sie gerichtet ist. Der Grund: Sie sind nicht strategisch in die Gesamtunternehmung eingebunden. Ein einfaches Beispiel ist ein Waschmaschinenhersteller, der die UX seines Onlineshops optimieren möchte, um die Konversionsrate zu erhöhen. Bei einem Projekt, das sich rein auf die Website fokussiert, können Klickpfade optimiert und Suchfilter verbessert werden, um die Nutzererfahrung beim Einkauf zu verbessern. Wird jedoch im Rahmen qualitativer Forschung klar, dass das Hauptproblem der Nutzer:innen gar nicht die Handhabung des digitalen Warenkorbs ist, sondern der analoge Transport und Anschluss einer neuen Waschmaschine, befindet sich das Unternehmen in einem Bedürfnisbereich, der den Aufbau einer völlig neuen Infrastruktur erfordern würde. Hier könnte sich für das Unternehmen eine wichtige Chance auf Verbesserung und potenziellen Mehrumsatz bieten. Es muss also ein Verständnis dafür entstehen, dass eine gute Experience die gesamte Organisation mit einbezieht. Vom Marketing über Beratung, Buchung, Lieferung, Anschluss, Supply-Chain, Rückgabe und Garantiefälle bis hin zu Entsorgung spielen sämtliche Interaktionen eine Rolle. Beschränkt sich der Projekthorizont hier nur auf die Website, hindert sich der Anbieter selbst daran, echten Mehrwert zu generieren, indem bisher unerfüllte Bedürfnisse in die Produktentwicklung mit einfließen. Es sind aber genau diese Bedürfnisse, die Produkte hervorbringen, die nicht einfach von Mitwettbewerbern übernommen werden können, da ihre Entwicklung eine Änderung der zugrunde liegenden Abläufe im Unternehmen erfordert. Die User-Experience wird zur Business-Experience, denn sämtliche Stakeholder und Akteure einer Interaktion leisten ihren Beitrag zu einer gelungenen Erfahrung der Nutzer:innen. Diese Art von Bedürfnissen endet allerdings auch nur sehr selten rein im Hoheitsbereich der Marketingabteilung – Digitalisierung und BX sind dementsprechend Themen der Geschäftsführung und sollten die treibende Kraft für Entscheidungen darstellen. [caption id="attachment_251546" align="alignnone" width="1200"] Einstieg in die digitale Experience von Tourlane. Das Unternehmen verbindet die Vorteile der Digitalisierung mit den Vorteilen von Reisebüros und setzt stark auf digitale Beratung. (Abbildung: Tourlane.de)[/caption] Der eigene USP muss klar sein Durch die ganzheitliche Betrachtung des Unternehmens und die Frage, wie einzelne Unternehmensbereiche einen Mehrwert für Nutzer:innen bieten können, eröffnen sich neue Perspektiven. Das Beispiel eines kleinen Reisebüros mit Buchungsportal für Hotels, Flüge und Mietwagen, das sich ein Redesign seiner Website wünscht, verdeutlicht das. Das Problem: Eine solche Website steht in direkter Konkurrenz zu großen Playern mit hohem Budget und dedizierten Design-Teams wie Airbnb, Booking.com oder Trivago. In einem derartigen Projekt die Website so zu optimieren, dass Nutzer:innen die Buchung fehlerlos und schnell durchführen können, bringt zwar einen Mehrwert; er ist jedoch marginal. Außerdem kann die Einbindung von Drittanbieterlösungen für die Buchung in einer recht generischen Experience resultieren. Durch die Optimierung der Buchungsabläufe wird zudem nicht das Problem behoben, dass es für das kleine Unternehmen insgesamt nicht möglich ist, mit dem Benchmark für Onlinereisebuchungen mitzuhalten – und das sollte auch nicht das Ziel sein. Es gibt jedoch andere Chancen für das Reisebüro, erfolgreicher zu sein, für die in einem ersten Schritt das Verständnis geschaffen werden muss: Der USP eines Reisebüros und der Bedarf der Kund:innen liegt nicht bei der einfachen Onlinebuchung, sondern bei der persönlichen Beratung, Expertise, Konsultierung und Entscheidungsfindung. Um die User-Experience in diesem Fall zu verbessern, ist eine Optimierung der Usability demnach erst im zweiten Schritt relevant. Die primär zu beantwortende Frage ist, inwiefern und ob die Website die Kernarbeit der Mitarbeiter:innen und die Schaffung des Mehrwerts für Kund:innen unterstützen und wie die Anpassung der Seite deren Arbeit erleichtern kann. Ein gutes Beispiel für ein Unternehmen, das sich dem bereits angenommen hat, ist Tourlane. Das Portal hat sich darauf fokussiert, die Vorteile der Digitalisierung mit den Vorteilen von Reisebüros zu kombinieren und ein Geschäftsmodell entstehen zu lassen, das sowohl zeitgemäß als auch differenziert genug ist, um nicht in der Masse der Anbieter unterzugehen. [caption id="attachment_251544" align="alignnone" width="1200"] Nutzer:innen haben oft wertvolles Feedback für Unternehmen. Beim Design-Tool Figma wird die Community eingebunden, um Rückmeldungen zu Produkten zu erhalten und Ideen zu bewerten. (Abbildung: Figma)[/caption] Feedback als konstanter Prozess Wie aber kommen Unternehmen zu einem entsprechenden Umdenken und neuen Ideen für Maßnahmen? Die Impulse hierfür kommen nicht aus dem Management, sondern direkt von den Nutzer:innen: Sie bilden den Kern für die Weiterentwicklung der Business-Experience. Ein kontinuierlicher Austausch mit ihnen ist unerlässlich, um grundlegende Probleme und Bedürfnisse einzuordnen. Was Unternehmen oftmals nur punktuell nach einem Produktlaunch ansetzen, muss also ein fortlaufender Prozess werden, um mit den sich ändernden Anforderungen Schritt zu halten – und das im Idealfall schon vor der Konzeptionierung eines Produktes. Der Austausch kann durch Umfragen, qualitative Interviews, Nutzendentests, aber auch die Integration eines offenen Kanals für Feedback entstehen. Das Design-Tool Figma bindet die eigene Community beispielsweise proaktiv in die Weiterentwicklung ein, indem es ein Forum für Feedback eingerichtet hat. Hier können die Nutzer:innen Ideen und Wünsche einreichen, zu denen die Community ihr Voting abgeben kann. Figma kann so konkret Potenziale analysieren und priorisieren. [crosslinks ids=“1380395,246467,1346517”] Neben dem Schaffen eines Mehrwerts für die Kund:innen beachten moderne Produkte im Idealfall alle Stakeholder in der Wertschöpfungskette. Für die Erweiterung der User-Experience zur Business- oder Stakeholder-Experience müssen also auch die Probleme und Bedürfnisse der Unternehmung und des Marktes erkannt und in den Kontext des Geschehens gesetzt werden. Ein erster Schritt in diese Richtung: Die internen und externen Stakeholder eines Produktes werden in die Journey-Map integriert, es entsteht ein Überblick, welche Unternehmensbereiche wo in der Nutzerreise ansetzen und wie sie zur Schaffung des Mehrwertes beitragen. Durch das Einbeziehen der Stakeholder kann also nicht nur bestehender Kontext angereichert werden, sondern es bieten sich auch weitere Ansatzpunkte, um das Produktpotenzial voll auszuschöpfen. Interne Nutzer:innen beispielsweise werden in vielen UX-Projekten stiefmütterlich betrachtet. So kann unter anderem die Qualität vom Kundenservice deutlich gesteigert werden, wenn im Rahmen der Produktentwicklung die Service-Desk-Mitarbeiter:innen in die Entwicklung eingebunden sind. Mit ihrem Erfahrungsschatz lässt sich identifizieren, welche Informationen sie vorab benötigen, um Kundenanfragen schnellstmöglich zu beantworten – oder welche Fragen besonders häufig auftreten und durch eine Anpassung des Produkts gelöst werden können. Diese Anpassungen führen dann nicht nur zu einer Erhöhung der Zufriedenheit aufseiten der Endnutzer:innen, sondern haben auch großes Potenzial, Kosten einzusparen und Mitarbeiter:innen zu entlasten. Eine Win-win-win-Situation. Projektrisiko minimieren Die größte Herausforderung für Unternehmen liegt zu Beginn darin, sich von den eigenen Annahmen über ihre Stakeholder, deren Bedürfnisse und der daraus vermeintlich resultierenden Lösung loszusagen. Genau das ist aber essenziell; deshalb werden die bestehenden Annahmen gemeinsam mit den Stakeholdern zunächst identifiziert und überprüft. Um das Potenzial zur erfolgreichen digitalen Produktinnovation voll auszuschöpfen, werden Probleme und Bedürfnisse der Stakeholder sowie benötigte Produkteigenschaften herausgearbeitet. Der BX-Prozess vermindert das Risiko, viel Zeit und Aufwand in eine Produktrichtung zu investieren, die letztendlich überhaupt keine großen Verbesserungen bringt. Das geschieht, indem die Grundlagen für die Digitalisierungsmaßnahmen neu definiert werden. Eine gute Produkt- oder Projektleitung ist dabei immer zuerst Kritiker und sorgt infolge dafür, dass ein Produkt nicht an Stakeholdern vorbei entwickelt wird – unabhängig, ob der Stakeholder der Kunde ist oder ein Mitarbeiter, der mit dem Produkt interne Prozesse gestalten muss. Grundvoraussetzung für diese Vorgehensweise ist es, die Silos zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen zu sprengen. Projekte werden mit einem ganzheitlichen Blick auf das Unternehmen und die Generierung von Mehrwert in jedem einzelnen Unternehmensbereich realisiert. Eine entsprechende Umstrukturierung funktioniert nicht von einem auf den anderen Tag, jedoch trägt jedes einzelne Projekt dazu bei, einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Fazit Digitale Produkte haben das Potenzial, ganze Unternehmen zu verändern – wenn man sie lässt. Um die Chancen zu nutzen, muss sich eine neue gedankliche Ausrichtung im Unternehmen etablieren, die einen ganzheitlichen Blick auf die Erfahrungen rund um das Produkt fördert. Digitale Touchpoints sind weder Start noch Ende eines Erlebnisses. Jeder Schritt auf der Reise ist verbunden mit Bedürfnissen, Problemen und Anforderungen, die eben nicht nur im Digitalen und nicht nur aufseiten der Endnutzer:innen bestehen. Die Einblicke von Belegschaft, Partner:innen oder auch politischen Anspruchsgruppen können einen wichtigen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Dafür braucht es jedoch einen konstanten Austausch mit sämtlichen Stakeholdern und die Einordnung der verschiedenen Bedürfnisse in die Wertschöpfungskette rund um ein Produkt sowie Unternehmensstrukturen, die flexible Anpassungen zulassen. [author ssoId="3e08ebdf-dcae-4871-b152-b870c0438c40"] Tessa Mäder ist Product Experience Managerin bei Mermaid Studios. Dort erarbeitet sie kollaborativ den Sweet Spot zwischen Design- und Businessanforderungen und verknüpft somit innovative Designkonzepte mit nachhaltigen Produktstrategien. [/author] [author ssoId="ef5ea9b8-42ba-4d89-b730-33433e038a61"] Hester Hilbrecht ist Gründerin von Mermaid Studios und hat als Human Centered Design Evangelist im Silicon Valley eine Formel für komplexe Innovationen entwickelt. Für sie basieren UX-Prozesse auf Leadership, der Betrachtung aller Stakeholder und effektiven Durchführungsschritten. [/author]

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