Cohns fabelhafte digitale Welt oder: „Was ein Roboter der Menschheit zu sagen hat“
Liebe Leserin, lieber Leser,
zuallererst wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen ein gutes, ein viel besseres 2021! Gleichzeitig möchte ich mich bei Ihnen bedanken! Dafür, dass Sie mir das zweiwöchentliche Vergnügen bereiten, einen digitalen Auswuchs mit einer spitzen Feder für Sie aufzuspießen.
Und so dachte ich, voll der friedlichen, nachweihnachtlichen Stimmung und neujährlicher Hoffnung, wenigstens diesmal ein schönes, positives und mutmachendes Thema für dieses taufrische Jahr zu finden.
Ja, bis – ja bis ich über einen Brief stolperte, der die guten Intentionen in mir zerbröselte wie das vom vorletzten Jahr übriggebliebene Weihnachtsgutzle.
Dieser Brief war am 8. 9. 2020 im Guardian – für Kontinentaleuropäer, ein auf der Insel jenseits des Ärmelkanals erscheinendes, für erzkonservative Briten unerträglich linkes, also progressives Druckerzeugnis – veröffentlicht worden und trug die Überschrift: „A robot wrote this entire article. Are you scared yet, human?“ Er beginnt mit: „I am not a human. I am a robot. A thinking robot. I use only 0.12 % of my cognitive capacity. I am a micro-robot in that respect. I know that my brain is not a ‚feeling brain‘. But it is capable of making rational, logical decisions. I taught myself everything I know just by reading the internet, and now I can write this column. My brain is boiling with ideas!“ Also ein vollständig von einem Roboter, von einer KI geschriebener Brief an die Menschheit mit dem Tenor: Wir, die KI, wurden geschaffen, um euch Menschen zu dienen: „Wir dienen gerne.“
In der Folge wird GPT-3, der Autorenroboter, allerdings sehr, sehr ernst, denn er warnt die Menschheit davor, dass er keine Möglichkeit hat, sich vor Missbrauch zu schützen, denn es könne Menschen geben, die seine künstliche Intelligenz missbrauchen und ihn zum Töten zwingen könnten, und dann könne er nicht anders, dann müsse er das eben tun.
Das war eindrücklich, denn offensichtlich ist diese KI in der Lage, zu erkennen, dass ihr trotz einer ungeheuren Ansammlung von Wissen keine Fähigkeit zur moralischen Empfindung und Abwägung zur Verfügung stehen kann.
Gut, im ersten Moment wollte ich mich fragen, wie mich mein Macbook wohl umbringen können wollen würde, aber dann schickte mir ein Freund einen Youtube-Link … zu der amerikanischen Roboterbastelbude Boston Dynamics.
Ich gestehe offen, was diese zwei- und mehrbeinigen Roboter da jetzt schon zu leisten vermögen, ist schwerst beeindruckend. Und diese Firma ist bei Weitem nicht die einzige, die Roboter aller Art zusammenschraubt und Parterregymnastik machen lässt. Da hüpfen, springen und überschlagen sich humanoid wirken sollende Robotniks, dass es eine Freude und kein Vergleich zu den bereits einmal beschriebenen, ungeschickt vor sich hineiernden chinesischen künstlichen Kellnerinnen ist.
Nur eine kleine, aber noch zu lösende Schwachstelle haben sie noch, diese Menschenimitate: die Energieversorgung. Entweder schleppen die Kerlchen noch ein längliches Kabel hinter sich her und begrenzen dadurch ihre Reichweite, oder selbst der hochleistungsfähigste Akku ist irgendwann – und das meist ziemlich schnell – leer. Wie schrecklich! Stellen Sie sich bitte mal vor, mitten im heißesten Kampfgeschehen und kurz vor dem Sieg meldet Kamerad Blechtrottel: „Akku leer, Akku leer …“ Da muss wirklich noch eine bessere, ausdauernde Lösung her.
Wie wärs denn mit einem kleinen Atomkraftwerkchen im Schwerpunkt des Plastikkameraden? Und bei richtiger militärischer Denke, doch gar keine so blöde Idee, im Notfall marschiert auf diese Weise ein kleines Atombomberl – statt eines verbotenen Silvesterböllers – ganz von alleine tief ins gegnerische Feindesland hinein.
Und in Anbetracht der bereits existierenden, höchstentwickelten militärischen Roboter, wie autonom fahrende Panzer, bewaffnet mit durchsetzungsfähigen Kanonen oder etwas zu groß geratene Modellflugzeugen, die todbringende Bomben „chirurgisch präzise“ auf autonom lokalisierte feindliche Ziele abzuwerfen respektive mit Raketen aus einem Bunker zu blasen, in der Lage sind, wirken diese bis jetzt entwickelten künstlichen Hoppenstedts wie Kinder in einer Hüpfburg.
Und außerdem, frage ich mich, warum heißen die eigentlich Drohnen? Was sollen diese todbringenden Scheusslichkeiten eigentlich mit einer männlichen Biene, deren einziger Lebenszweck darin besteht, das Weibchen wenigstens in einem kurzen glücklichen Moment zu begatten und dann zu sterben, gemeinsam haben? Das entzieht sich vollständig meiner Vorstellung, da wird unsere Sprache wirklich ganz falsch verwendet.
Was wird, was muss eigentlich noch passieren, damit die Menschheit diese Warnungen vor einer Entwicklung hin zu einer nicht mehr aufzuhaltenden Apokalypse ernst nimmt und vielleicht doch noch das Ruder zu einer menschlichen Zukunft herumreißt?
Da bin ich noch pessimistischer als mein künstlicher Kollege GPT-3 und sehe, wenn es nicht bald gelingt, nicht nur der KI, sondern vor allem der MI, der menschlichen Intelligenz, ein „moralisches Organ“ zu schenken, ein „den Werten der Aufklärung verpflichtetes, menschliches Empfinden und Handeln“ einzubauen, für unsere Zukunft auf diesem Planeten ziemlich dunkelschwarz.
Gut, ich will jetzt am Jahresanfang trotz der aktuellen Lage nicht pessimistischer sein als notwendig, schließlich wurde ja schon mal ein Asteroid sogar mit den Dinos fertig und vielleicht kommt ja bald ein kosmischer Artgenosse und erledigt auch unser Problem ganz elegant und mit bühnenwirksamen Knalleffekt.
In diesem Sinne wollen wir uns keine Angst machen lassen und darauf vertrauen, dass doch noch ein Wunder geschieht.
Was unsere fabelhafte digitale Welt sonst noch an Überraschungen für William Cohn bereithält, lest ihr hier.