Ampeln und Co.: Wie technische Regelwerke die Verkehrsplanung beeinflussen

Deutschland ist gespalten. Das zeigt sich nirgends so drastisch wie in der Verkehrspolitik. Tempolimit auf Autobahnen? Auf keinen Fall, denn freie Bürger brauchen freie Fahrt. Mehr Radwege? Gerne, aber nicht zulasten von PKW-Fahrspuren und Parkbuchten. Egal was Verkehrsexperten für mehr Klimaschutz vorschlagen: Das Jammern ist groß, häufig müssen Gerichte entscheiden. „Eine Fahrspur wird grün, die Leute sehen rot“, titelte erst 2023 der Spiegel – demnächst bestimmt auch in Ihrer Stadt.
Wenn den Skeptikern der Verkehrswende die Argumente ausgehen, ziehen sie ihr stärkstes Ass aus dem Ärmel: die Regelwerke der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen. Die FGSV ist ein eingetragener Verein, der definiert, nach welchen technischen Vorgaben der Verkehr in Deutschland zu funktionieren hat. Wenn eine Autobahn gebaut, Parkbuchten geplant oder die Schaltzeiten von Ampelanlagen festgelegt werden, dann geschieht dies nach Vorgaben, die in Dutzenden Arbeitskreisen des Vereins erarbeitet wurden. Trotz dieses Einflusses kennen selbst manche Mitglieder des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestags diese Organisation nicht, wie Oliver Schwedes festgestellt hat.
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 5/2023 von MIT Technology Review erschienen. Darin beschäftigen wir uns mit Mobilität – ohne Auto. Hier könnt ihr die TR 5/2023 als pdf- oder Print-Ausgabe bestellen.
Blick auf die FGSV
Der Verkehrsforscher, der neun Jahre den Fachbereich Integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin geleitet hat, wirft ihr Intransparenz und fehlende demokratische Legitimierung vor – sowie eine über Jahrzehnte tradierte Bevorzugung des Autoverkehrs. Schwedes kann sich die Kritik leisten: Als Sozialwissenschaftler ist er Quereinsteiger, die obligatorische ehrenamtliche Mitarbeit in der FGSV blieb ihm erspart. Junge Wissenschaftler und Ingenieure, die in der Verkehrsforschung und -planung Karriere machen wollen, kommen dagegen in solche Positionen nur, wenn sie lange in den Gremien der FGSV aktiv sind und sich mit den Mitgliedern gut stellen. Die sehen ihr Wirken längst nicht so negativ wie Oliver Schwedes.
„Die FGSV sorgt für Funktionalität und Sicherheit im Straßenverkehr. Sie ist für die Straße so etwas wie die DIN für technische Normen“, erläutert Jürgen Gerlach, Professor für Straßenverkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik an der Universität Wuppertal und Mitglied in zahlreichen Arbeitskreisen der FGSV. Sie treffe aber keine politischen Entscheidungen. So steht im Regelwerk nicht, ob ein Fahrradweg gebaut werden darf oder ob stattdessen dort Parkplätze einzurichten sind. Es sagt nur: Wenn ein Fahrradweg gebaut wird, muss er eine bestimmte Breite haben. Entscheidet sich eine Gemeinde dafür, doch lieber Parkbuchten zu bauen, dann müssen auch diese eine bestimmte Größe haben.
Was die FSGV regelt – und was nicht
Formal stimmt das. Gesetze wie zum Beispiel die Straßenverkehrsordnung (StVo) bilden die Grundlage. In der StVo steht, dass Ampeln – in der Fachsprache „Lichtsignalanlagen“ – den Verkehr an Kreuzungen regeln und was die unterschiedlichen Zeichen für ein Verhalten „anordnen“. Doch erst in der Richtlinie für Signalanlagen (RiLSA) der FGSV steht, wie so eine Signalanlage zu schalten ist. Sie legt „maximale Umlaufzeiten“ fest, in denen eine Ampel alle Phasen durchlaufen haben muss. Das darf maximal 120 Sekunden dauern, während die minimalen Grünzeiten für Fußgänger fünf Sekunden betragen müssen. Und weil Fußgänger laut Richtlinie die Überwege mit einer durchschnittlichen Gehgeschwindigkeit von 1,2 Meter pro Sekunde queren, führt die Auslegung der Regeln oft dazu, dass Fußgänger mehrspurige Hauptverkehrsstraßen in einer Grünphase nur bis zur Mittelinsel queren können. Alles andere würde die Umlaufzeit – vor allem der Autospuren – und damit die „Verkehrsqualität“ negativ beeinflussen.
Vor allem aber garantiert das Befolgen dieser Richtlinien, dass solch eine Ampelschaltung per Definition dem „Stand der Technik“ entspricht. Das bedeutet, dass sie gerichtsfest ist. Technische Richtlinien wie die RiLSA sind also so etwas wie das Bios der Verkehrsplanung – sie stellen grundlegende Funktionen zur Verfügung, geben allerdings auch einen technischen Rahmen vor.