Ampeln und Co.: Wie technische Regelwerke die Verkehrsplanung beeinflussen
Planer, die alternative Verkehrskonzepte fördern wollen, sollten nicht auf ein schnelles Umdenken bei der FGSV hoffen – aber das müssen sie auch gar nicht. „Verkehrsplaner können schon heute von den Vorgaben abweichen – und sollten es sogar, denn jeder Einzelfall ist anders“, fordert Udo Becker, Senior-Professor an der TU Dresden. Doch das passiere zu selten, denn dann müsse man mit Klagen rechnen.
Bürgerwut
Thilo Becker kann ein Lied davon singen. Er war Doktorand bei Udo Becker in Dresden, sie seien nicht verwandt oder verschwägert, wie beide betonen. Seit Mai dieses Jahres ist der Verkehrsingenieur Baudezernent in Trier. Doch bereits in seiner vorigen Funktion als Fachbereichsleiter für Tiefbau und Verkehr in Offenburg lernte er das erstaunliche Beharrungsvermögen mancher Bürger kennen. Thilo Beckers Amt in Offenburg initiierte 2022 einen Verkehrsversuch, bei dem drei Hauptverkehrsstraßen für drei Monate zu Tempo-30-Abschnitten erklärt wurden – was eigentlich nur möglich ist, wenn eine „erhöhte Unfallgefahr“ vorliegt, die durch das Tempolimit verringert wird.
Doch Becker fand gemeinsam mit Juristen eine fachliche Begründung, die zumindest den befristeten Versuch als Lärmschutzmaßnahme rechtfertigte und genehmigungsfähig war. Allerdings ging ein Jurist aus einer Nachbargemeinde auf die Barrikaden. Er warf Becker mit Verweis auf die StVo fachliche Inkompetenz und parteipolitische Befangenheit vor und forderte vom Baudezernent – später sogar vom Oberbürgermeister – Beckers Entlassung. „Ich stehe da drüber“, sagt Becker, „aber manche andere Mitarbeitende in der Verwaltung lassen sich davon einschüchtern.“ Er kenne Kolleginnen und Kollegen aus anderen Städten, die sich für mehr Radverkehr oder eine klimafreundliche Verkehrsplanung eingesetzt hätten und die an den permanenten Attacken zerbrochen seien, manche seien dauerhaft krankgeschrieben, andere hätten den Beruf gewechselt. „Kein Wunder, dass Mitarbeitende in Verwaltungen manchmal mutlos sind und nicht alle Möglichkeiten ausreizen, die in den Regelwerken stecken.“
„Möglichkeiten ausreizen, die in den Regelwerken stecken“
Dass Wandel dennoch möglich ist – wenn man nur hartnäckig genug ist – hat er in einem anderen Fall gezeigt. An einer großen Kreuzung gibt es dort seit Jahrzehnten ein Rundum-Grün für Fußgänger und Radfahrende. Das heißt: Alle Rad- und Fußgängerampeln schalten gleichzeitig auf Grün, die Nicht-Motorisierten können dann sämtliche Fahrbahnen queren und so etwa in einem Zug auf die diagonal gegenüberliegende Seite kommen. Das Rundum-Grün hatte Bestandsschutz aus einer Zeit, als es die aktuelle Richtlinie noch nicht gab. Die aktuell gültige Richtlinie lässt eine solche Schaltung nur bei „starkem Fußgängerverkehr und geringem Kraftfahrzeugverkehr“ zu – das wäre hier aber nicht anwendbar gewesen.
Wegen vermehrter Linksabbieger-Unfälle musste die Ampelschaltung angepasst werden, damit wäre dieser Bestandsschutz erloschen. Aber natürlich stellten diese Unfälle die Regelung infrage. Es hätte eine Regelung gefunden werden müssen, die das Rundum-Grün für Radfahrer einschließt. Der Ingenieur wälzte Forschungsberichte und wies nach, dass das Rundum-Grün für Radfahrer im Ausland wunderbar funktioniert. „Eine Richtlinie verbietet nicht, dass man sich Abweichungen für mehr Sicherheit überlegt“, sagt Thilo Becker. Wenn man allerdings von den Richtlinien der FGSV abweiche, müsse man sich gut wappnen, denn das ziehe fast automatisch Widersprüche oder gar eine Klage nach sich.