Höre auf dein „Inneres Kind“: Ein intuitiver Ratgeber für Konflikte am Arbeitsplatz
Wir waren alle auch einst Kind und tragen nach wie vor Erfahrungen und Kindheitsprägungen aus dieser Zeit mit uns. Das Innere Kind beschreibt diesen Teil unserer Psyche modellhaft. Insbesondere in der Kindheit erfahrene Kränkungen prägen sich ein und bestimmen oft unbewusst unser Verhalten im Erwachsenenalter und somit auch unsere Reaktion im Umgang mit Menschen. Gerade im Arbeitsalltag kann dies zum Problem werden, unter anderem durch fehlendes Selbst- und Urvertrauen, Misstrauen gegenüber Autoritätspersonen oder dem übertriebenen Bedürfnis zu gefallen.
Das Persönlichkeitsmodell
Sigmund Freud war der Erste, der die Persönlichkeit in verschiedene Instanzen aufteilte (das Drei-Instanzen-Modell). Das Innere Kind ist ein psychotherapeutisches Konzept, das unter anderem durch John Bradshaw in den 1980er Jahren bekannt wurde. Es ist eine Metapher, eine Betrachtungsweise, die unbewusste Anteile unserer Persönlichkeit umschreibt und gleichzeitig die Persönlichkeit in verschiedene psychologische Modelle teilt. Neben dem Inneren Kind beherbergen wir auch noch das „Erwachsene Ich“ und das „Eltern-Ich“. Das Innere Kind symbolisiert dabei alle unterschiedlichen Emotionen, Wünsche und Erinnerungen aus der eigenen Kindheit.
Was ist dein Inneres Kind?
Positive Erfahrungen wie Liebe, Zuwendung und kindliche Neugier nähren das Innere Kind ebenso wie es negative Erfahrungen wie Zurückweisung, übermäßige Kontrolle oder fehlende Sicherheit prägen. Unsere positiven Erlebnisse fördern ein gesundes Selbstbewusstsein und stärken uns im Erwachsenenalter. Negative Einflüsse hingegen können sich manifestieren und unsere Wahrnehmung maßgeblich formen. Als Kind können wir noch nicht beurteilen, ob das Verhalten unserer Eltern gut oder schlecht ist. Sie sind für uns groß und unfehlbar. Wir nehmen die Kindheitsgefühle und Erfahrungen mit unseren Eltern bzw. dem engsten Vertrautenkreis ungefiltert auf und interpretieren sie als „wahr“. Vereinfacht gesagt: Wenn wir uns gut fühlen, sind wir ein gutes Kind. Wenn wir uns schlecht fühlen, sind wir ein schlechtes Kind.
Konfliktpotenzial am Arbeitsplatz
Wir tragen das Innere Kind immer mit uns, auch zur Arbeit. Es beeinflusst all unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Situationen, die unbewusst Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis rufen, können bestimmte Verhaltensmuster triggern. Wir „spulen“ dann ein angelerntes Programm ab, welches gleichzeitig dazu führen kann, dass unsere Verhaltensweisen oder Reaktionen nicht überlegt oder womöglich fehl am Platz sind. Um solche Reaktionen hervorzurufen, reicht die subjektive Wahrnehmung, dass man beispielsweise nicht fair behandelt worden sei.
Machtgefüge in Unternehmen können ebenfalls dazu führen, dass Erinnerungen an die Eltern-Kind-Dynamik wachgerufen werden und das Gefühl erzeugt wird, dass man jemanden „unterlegen“ ist oder „gehorchen“ muss. Es muss nicht zwangsläufig der Wahrheit entsprechen. Das Innere Kind folgt nicht der Ratio, es folgt dem Gefühl. Die Schwierigkeit liegt zudem darin, solche Eskalationen selbst zu antizipieren um sich nicht durch angelernte Verhaltensmuster leiten zu lassen. Der Beteiligte, zum Beispielt der Vorgesetzte, steht häufig vor dem Dilemma, solch eine Situation rational entschärfen oder lösen zu wollen, obwohl sie emotional gefüttert und der Betroffene von dem Inneren Kind geleitet wird.
Finde dein Inneres Kind
Die erlebten Erfahrungen und angelernten Verhaltensweisen sitzen tief und sind meist fest programmiert in unserer Psyche. Um diese Programmierung umzuformen, muss erst ein Bewusstsein und Zugang zu diesem Teil von uns geschaffen werden. Es gibt verschiedene Übungen, mit denen man sich frühkindliche Erfahrungen in Erinnerung rufen und sich insbesondere mit den negativen Empfindungen als Erwachsener auseinandersetzen kann.
- Kindheit wiederbeleben
Um einen Erstkontakt zu deinem Inneren Kind herzustellen, ist es hilfreich, sich an konkrete Situationen zu erinnern und diese auch aufzuschreiben oder zu visualisieren. Stelle dir eine Situation mit einem Elternteil vor, welche du als Kind als lieblos empfunden oder in der du dich ohnmächtig gefühlt hast. Versuche diese Situation zu verbildlichen und Stichworte zu sammeln. Es hilft, sich bestimmte Fragen zu stellen, um die Gefühle und Erfahrungen zu verdeutlichen.
- Was hast du getan?
- Wie war eure Lebenssituation in der Zeit?
- Haben sich deine Eltern scheiden lassen, gab es Schicksalsschläge oder große Veränderungen in deiner Familie?
- Wie alt warst du?
- Wie hat sich deine Mutter oder dein Vater in der Situation verhalten? War ein Elternteil wütend, enttäuscht oder lieblos?
- Hat deine Mutter oder dein Vater typische Sprüche verwendet, wie „Du bist schuld, dass …!“ oder „Du kannst doch gar nichts!“?
- Hast du eine bestimmte Rolle in der Situation übernommen?
- Hast du ein bestimmtes Verhalten angenommen, um den Konflikt beizulegen?
Je genauer du dich in diese Situation hineinfühlst, umso stärker ist der Kontakt zu deinem Inneren Kind. Gleichzeitig kannst du mit dieser schrittweisen Annäherung nachempfinden, was das Verhalten deiner Eltern in dir ausgelöst hat. Diese Erfahrungen zu verbildlichen oder Stichworte aufzuschreiben kann dir dabei helfen zu verstehen, welche negative Überzeugung du aus deiner Kindheit mitgenommen hast. Versuche diese Überzeugung in einem Satz zusammenzufassen. Von welchem Selbstverständnis wurden deine Emotionen dominiert? Beispielsätze könnten sein: „Ich bin schuld“, „Ich muss alles richtig machen!“ oder „Ich muss auf dich aufpassen!“. Dieser Glaube ist die Wurzel der Probleme im Alltag. In Situationen, welche dieses Selbstbild wachrufen, wird das angelernte Programm abgespult und dein Inneres Kind übernimmt.
- Schutzstrategien und Verhaltensmuster erkennen
Daran anknüpfend stellst du dir vermutlich die Frage, welche Verhaltensformen du dir durch dieses Selbstbild angelernt hast. Es gibt zahlreiche klassische Schutzmechanismen, um auf solche Erfahrungen zu reagieren. Im Folgenden werden zwei beleuchtet – der Narzissmus und das Helfersyndrom.
- Narzissmus
Narzisstische Verhaltensweisen können beispielsweise bei Menschen auftreten, die sich in ihrer Kindheit wertlos oder hoffnungslos gefühlt haben. Sie schaffen sich ein Selbstbild, welches unfehlbar und groß ist und strengen sich unheimlich an, etwas Besonderes zu sein. Gleichzeitig werten Narzissten andere Menschen oft ab, unter anderem da sie ihre eigenen Schwächen nicht ertragen und dies auch nicht bei ihren Mitmenschen aushalten können. Der Fokus auf die Schwächen anderer schützt sie davor, sich mit ihren eigenen Schwächen nicht auseinandersetzen zu müssen. Im Arbeitsalltag können Narzissten durch ihren extremen Ehrgeiz und ihr Machstreben auffallen. Auch sind sie sehr schnell gekränkt, was den Umgang mit ihnen als Kollegen zusätzlich erschwert.
- Helfersyndrom
Indem sich Menschen anderer annehmen, die bedürftig erscheinen, werten sie ihr eigenes Selbstwertgefühl auf. Oft kann dies durch Vernachlässigung entstehen und dem Glauben, liebevoll und wertvoll zu sein, wenn andere ihnen dankbar sind. Menschen, die an einem Helfersyndrom leiden, erwähnen sich oft als Ritter oder Märtyrer, der sich für andere aufopfert. Im Arbeitsumfeld kann dies so weit gehen, dass sie ihre eigenen körperlichen Grenzen überschreiten oder auch die Unterstützung anderer vehement ablehnen. Im Gegenzug erwarten sie oft Anerkennung und Dankbarkeit für ihre Leistung und „Selbstausbeutung“.
Damit du dir über deine eigenen Schutzmechanismen bewusst wirst, kannst du dir zwei oder drei Situationen der letzten Wochen vorstellen, in denen du dich unwohl gefühlt hast oder sogar ein Problem erkennst. Dies können beispielsweise Konfliktsituationen aus deinem Arbeitsalltag sein. Sind solche Situationen schon häufiger aufgekommen? Hast du das Gefühl, in solchen Situationen zu überreagieren oder zu übertreiben? Du wirst vermutlich ein Muster erkennen können, welche Situationen dir Probleme bereiten und möglicherweise sogar erkennen, welche Reaktionen wachgerufen werden. Versuche dir diese Situationen vor Augen zu führen und einzuprägen. In Zukunft kann dir dieses Bewusstsein dabei helfen zu antizipieren, wann du gewisse Verhaltensweisen an den Tag legst, und dein Verhalten gezielter steuern.
Die Arbeit mit dem Inneren Kind kann verschieden ablaufen und es gibt vielfältige Herangehensweisen, um sich Kindheitsprägungen bewusst zu werden. Die beschriebenen Übungen sind daher kein Patentrezept, um all seine Probleme zu lösen. Sie geben Anstoß eigene Verhaltensmuster zu erkennen und Inspiration für weitere Introspektion.
Der Nutzen
Die Selbsterkenntnis und das Erforschen des Inneren Kindes kann dabei unterstützen frühzeitig zu realisieren, dass die Kränkung aus einer bestimmten Prägung herrührt, um anschließend eine neue Perspektive einzunehmen. Gerade für Führungskräfte ist ein Verständnis für diese Thematik in der Kommunikation und der Konfliktbewältigung nützlich, insbesondere wegen des Vorbildcharakters und der maßgeblichen Rolle in der Prägung der Gruppenhygiene. Unterstützend zum Konzept des Inneren Kindes kann auch die Transaktionsanalyse von Eric Berne hilfreich sein, um Kommunikationsstörungen zu verstehen und zu entschärfen. Da das Innere Kind jeden von uns in unterschiedlichen Ausprägungen begleitet, wirkt sich die Sensibilisierung für unser aller Zusammensein positiv aus. Die Auseinandersetzung und Selbsterkenntnis als Erwachsene führt zudem zu einer reflektierteren Wahrnehmung der Realität. Wie Erich Kästner sagte: „Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.“
Informationen und Anmeldung unter www.developer-week.de