Ungewöhnliche Zielgruppe: So hilft KI Senioren und Menschen mit Behinderung
Smartphones, VR-Brillen, Alexa: Typische User moderner Technik sind junge Menschen, Digital Natives. Aber gerade für ältere Menschen und für Menschen mit Behinderung bietet die moderne Technik große Chancen: an die Medizin erinnern, Arbeitsschritte erklären oder die Jalousie herunterfahren. Solche Systeme müssen sich allerdings auf besondere Eigenschaften einstellen, überdurchschnittlich intuitiv bedienbar sein und vor allem müssen sie auch mit sprachlich eingeschränkten Menschen kommunizieren können.
Helga Darenberg ist 74 Jahre alt, Rentnerin, lebt alleine. Vor ein paar Wochen haben Forscher in ihrer Wohnung ein neues Möbelstück aufgebaut: einen Sekretär, ausgestattet mit Lautsprechern, Kameras, Mikros und einem Display. „Hallo Helga“, hat der digitale Assistent auf dem Bildschirm die Seniorin begrüßt, wenn sie das Gerät angeschaltet hat, „was kann ich für dich tun?“. Hellblaues T-Shirt, kurze, braune Haare, sanfte Stimme: Billie, der digitale Assistent, soll Darenberg helfen, ihren Alltag zu strukturieren.
Billie wurde vom Bielefelder Excellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (Citec) entwickelt. Das System steckt noch in der Entwicklung und wurde in der Wohnung von Helga Darenberg zum ersten Mal in der Praxis getestet. Zwei Wochen stand der Sekretär in ihrem Wohnzimmer, dann musste Billie wieder ausziehen. Untersucht wurde, wie die Kommunikation zwischen der Seniorin und dem digitalen Assistenten klappt. Als nächstes zieht Billie bei einem Probanden mit geistiger Behinderung ein.
Pflegenotstand: Technische Unterstützung ist nötig
Das Citec ist spezialisiert auf Roboter und Avatare, die sich auf den User einstellen und intuitiv bedienbar sind. Bei verschiedenen Projekten arbeiten die Forscher mit den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, einem der größten Sozialunternehmen Europas, zusammen – auch bei der Entwicklung von Billie. Die Forscher vom Citec entwickeln ihre Systeme in enger Absprache mit den Bethel-Mitarbeitern und den Menschen, die dort betreut werden. „Ohne solche technischen Hilfsmittel wird es langfristig in der Pflege nicht gehen“, meint Stefan Kopp, der am Citec die Arbeitsgruppe Kognitive Systeme und soziale Interaktion leitet. Schon jetzt gibt es schließlich zu wenig Pflegepersonal – und die Gesellschaft wird immer älter.
Das weiß man auch bei den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Albrecht Stangier arbeitet für Bethel am Projekt Kompass. Vom Pflegepersonal musste er vor allem am Anfang der Kooperation mit dem Citec Kritik einstecken: „Nimmt uns das nicht den Arbeitsplatz weg?“, „Sowas kann doch keinen Menschen ersetzen!“, „Und was ist eigentlich mit dem Datenschutz?“. Aber er hat festgestellt, dass sich in den letzten zwei, drei Jahren etwas geändert hat an dieser Einstellung: „Die Kollegen merken, dass es zunehmend schwieriger wird, qualifiziertes Personal zu finden. Vielleicht sind wir in fünf oder zehn Jahren froh, wenn wir in unserer Arbeit, der Betreuung von Menschen, technische Unterstützung erfahren, um der steigenden Nachfrage zu begegnen.“ Zwar könne Technik den Pflegenotstand nicht komplett beheben – aber ein Teil der Lösung seien solche Entwicklungen schon.
Technik hilft bei alltäglichen Handlungen
Auch einen intelligenten Waschtisch und eine intelligente Brille entwickelt das Citec in Kooperation mit Bethel: Wenn ein demenzkranker Nutzer die Zahnbürste ohne Zahnpasta zum Mund führt, merkt der Waschtisch das und gibt entsprechende Hinweise. Die Brille erinnert zum Beispiel beim Kuchenbacken an einzelne Arbeitsschritte. Senioren mit Demenz oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sollen damit selbstständig Zähneputzen oder Kochen können. Für einfache Handgriffe wäre dann kein Pflegepersonal mehr nötig und die Menschen könnten länger selbstständig leben und in ihrem gewohnten Zuhause bleiben.
Auch die Wirtschaft hat inzwischen das Potenzial von Technik erkannt, um Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten im Alltag zu helfen: Die KI-Technologie von Huawei erkennt beim Fotografieren mit dem Smartphone das Motiv und gleicht Verwackler aus – damit kann etwa der an Parkinson erkrankte Wildlife-Fotograf David Plummer trotz zitternder Hände und Arme scharfe Fotos machen. Microsofts Seeing AI nimmt über die Kamera die Umgebung wahr und beschreibt blinden Usern, was sie nicht sehen können. Die App kann Texte vorlesen, Farben beschreiben, Freunde erkennen.
Google hat 2014 das Biotech-Startup Liftware gekauft. Das hat einen Löffel entwickelt, der das Zittern in der Hand von Parkinson-Patienten ausgleicht. Der Suchmaschinengigant macht aber noch mehr – unter dem Titel „Verily“ laufen verschiedene Forschungsprojekte: Blutabnehmen ohne Nadel, eine smarte Kontaktlinse, ein Krebsdetektor in Brillenform – das sind nur einige von vielen Ideen. Sogar am Algorithmus der Unsterblichkeit wird geforscht.
Billie, der vom Citec entwickelte digitale Assistent, ist im Moment quasi ein sprechender Kalender. Er speichert Termine und erinnert daran. Während des Tests bei Helga Darenberg hat das System verschiedene Parameter analysiert: Nickt Darenberg? Sind ihre Augen auf den Avatar gerichtet oder auf einen Eintrag im Kalender? Runzelt sie verständnislos die Stirn oder lächelt sie? Wenn sie Billies Frage nicht verstanden hat, hat er sie umformuliert – wenn Billie Darenbergs Befehl nicht verstanden hat, hat er nachgefragt. So tauschen Mensch und Maschine mehrere Sätze aus, bis der richtige Termin im Kalender steht.
Sparse Data statt Big Data
Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, dass es sowas wie Billie doch schon in der Praxis gibt und Alexa heißt. Und auch Siri kann sich schon ziemlich gut mit Usern unterhalten. Aber das sei etwas anderes, sagt Kopp: „Google baut Systeme für den Massenmarkt – unser System passt sich stärker an den einzelnen Menschen an.“ Schließlich soll Billie nicht mit dem 0815-User arbeiten, sondern mit Senioren oder Menschen mit Behinderung. „Da kann man keine große Datenmengen sammeln, sondern muss auch auf Wissen zurückgreifen.“ Die Forscher vom Citec arbeiten dabei nicht mit Big Data, sondern mit Sparse Data, mit wenigen Daten aus der gerade laufenden Interaktion. Die Basis sind Strukturen – die Forscher suchen nach Mustern, wie Dialoge in bestimmten Situationen funktionieren. Das Ziel ist, Interaktionsintelligenz in Maschinen zu bringen.
Auch wenn Helga Darenberg sich nach ein paar Tagen ganz gut an das neue, sprechende Möbelstück gewöhnt hat – ein paar Hemmschwellen gab es doch. Wenn Billie morgens um acht Uhr geklingelt hat, um sie an ihre Augentropfen zu erinnern, ist sie nicht direkt aus dem Schlafzimmer zum Bildschirm im Wohnzimmer gegangen – „Ich geh ja nicht ungewaschen vor das Gerät“, erklärt sie. „Das ist erstmal gut, das heißt ja, dass der Assistent auch eine gewisse soziale Präsenz und Wirkung entwickelt hat“, meint Kopp dazu.
Dass Billie wirklich irgendwann Menschen beim selbstständigen Leben im Alter hilft, ist keine Utopie: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe plant Gebäude für innovative Lebenskonzepte für Senioren, die gemeinsam in sogenannten Quartieren leben. Das Citec soll mit einem Projekt dabei sein: Wenn in ein bis zwei Jahren die ersten Bewohner in den Neubau einziehen, zieht Billie mit ein. Er wird dann noch mehr können als Termine und Aktivitäten verwalten, sagt Kopp. „Der nächste Schritt ist, noch andere Dienste zu integrieren, vor allem im Umfeld einer intelligenten Wohnung.“
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Älteren Senioren zu helfen wird immer wichtiger. Diese Technik kann dabei helfen, damit Senioren auch Freude und Erfolgserlebnisse im Leben haben. Toller Beitrag.