Mysteriöse Mikroben: China findet unbekannte Lebensform auf Raumstation Tiangong

(Foto: Shutterstock / Alejo Miranda)
Forscher:innen aus der Volksrepublik China haben erstmals einen zuvor unbekannten Mikroorganismus auf der Raumstation Tiangong nachgewiesen. Die Bakterienart, die den Namen Niallia tiangongensis trägt, wurde von einem Forschungsteam der Shenzhou Space Biotechnology Group sowie dem Beijing Institute of Spacecraft System Engineering identifiziert und nun im Fachjournal International Journal of Systematic and Evolutionary Microbiology wissenschaftlich beschrieben.
Entnommen wurde der Mikrobenstamm im Rahmen des sogenannten China Space Station Habitation Area Microbiome Programme (CHAMP). Die Proben stammen von einer Oberfläche im Innenraum der Tiangong-Station und wurden bereits im Mai 2023 durch die Besatzung der Shenzhou-15-Mission gesichert.
Forscher sprechen von eigener Spezies
Die entdeckte Lebensform gehört zur Gattung Niallia, die erst vor wenigen Jahren aus dem Umfeld der Bodenbakterien Bacillus neu klassifiziert wurde. Der nächste bekannte Verwandte ist Niallia circulans, ein weitverbreiteter Umweltkeim aus Erde, Schlamm oder Abwässern. Doch die genetischen Unterschiede sind so gravierend, dass die Forscher:innen von einer eigenen Spezies sprechen.
Laut der veröffentlichten Genom-Analyse liegt die genetische Übereinstimmung bei nur 83 Prozent – zu wenig für eine taxonomische Gleichstellung. Damit ist Niallia tiangongensis offiziell eine neu entdeckte Art.
Die Erbinformation wurde unter anderem mithilfe von digitaler DNA-DNA-Hybridisierung und der sogenannten Average Nucleotide Identity (ANI) ermittelt. Beide Methoden dienen dazu, die genetische Ähnlichkeit zweier Mikrobenstämme präzise zu quantifizieren und werden international als Standard zur Artabgrenzung anerkannt.
Anpassung an das All bringt hohe Widerstandskraft hervor
Besonders bemerkenswert ist die Biologie der Mikrobe: Niallia tiangongensis besitzt laut den Wissenschaftler:innen mehrere genetische Merkmale, die auf eine hohe Widerstandskraft gegen Weltraumbedingungen hindeuten. Dazu zählen ein robuster DNA-Reparaturmechanismus, eine ausgeprägte Toleranz gegenüber oxidativem Stress sowie die Fähigkeit zur Bildung widerstandsfähiger Biofilme.
Zudem konnte nachgewiesen werden, dass das Bakterium in der Lage ist, Gelatine zu zersetzen – ein für Mikroorganismen in nährstoffarmen Umgebungen nützlicher Mechanismus, da Gelatine sowohl Kohlenstoff als auch Stickstoff liefert. Diese Eigenschaft wird laut dem Forschungsteam vermutlich durch spezielle Enzyme unterstützt, die bei verwandten Arten nicht vorkommen.
Gefahr für Astronaut:innen?
Ob Niallia tiangongensis gesundheitlich bedenklich für Raumfahrer:innen ist, lässt sich derzeit nicht abschließend sagen. Die untersuchte Art selbst zeigt keine typischen Merkmale pathogener Organismen. Allerdings ist der nächste Verwandte, Niallia circulans, laut dem US-Magazin Science Alert in seltenen Fällen bei immungeschwächten Personen mit schweren Infektionen wie Sepsis in Verbindung gebracht worden.
Raumfahrtmediziner:innen mahnen daher seit Jahren zur Vorsicht, wenn es um unerwartete Mikrobenpopulationen im All geht – insbesondere in geschlossenen Habitaten, in denen Biofilme zu hygienischen oder technischen Problemen führen können.
Mikrobiologische Mitreisende als wahrscheinlichste Erklärung
Die Entdeckung von Niallia tiangongensis ist kein Einzelfall. Auch auf der Internationalen Raumstation ISS wurden in den vergangenen Jahren mehrere neue Mikrobenarten identifiziert. Wie die US-Raumfahrtbehörde Nasa schon im Jahr 2021 in einem Pressebericht mitteilte, fand ein Forschungsteam dort drei neue Spezies aus der Familie der Methylobakterien. Auch diese Bakterien zeigten laut Nasa eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit an Umweltbedingungen im Orbit.
Dass sich Keime in Raumstationen verändern oder weiterentwickeln, ist laut Mikrobiolog:innen keine Überraschung. Eine Untersuchung des Nasa Jet Propulsion Laboratory in Pasadena im US-Bundesstaat Kalifornien kam zu dem Schluss, dass sich selbst in den Reinräumen von Raumfahrtmissionen Dutzende bislang unbekannte Mikrobenarten finden lassen – teils mit Eigenschaften, die unter irdischen Bedingungen kaum eine Rolle spielen würden.
Vom Störenfried zum Forschungsobjekt
Trotz möglicher Risiken sehen die beteiligten Forscher:innen in dem Fund vor allem eine Chance: Die Mechanismen, mit denen sich Niallia tiangongensis gegen Strahlung, Oxidation und Ressourcenknappheit behauptet, könnten Hinweise darauf liefern, wie sich Organismen unter extremen Bedingungen anpassen – nicht nur im All, sondern auch in lebensfeindlichen Regionen der Erde.
Langfristig könnten solche Mikroben sogar nützlich sein: zur biologischen Reinigung, zur Verarbeitung von Reststoffen oder zur Herstellung von Materialien in geschlossenen Lebenserhaltungssystemen. Voraussetzung ist allerdings, dass ihre genetische Stabilität verstanden und ihre Interaktion mit Mensch und Technik beherrscht wird.
Und woher kommt die mysteriöse Mikrobe nun?
Dass Niallia tiangongensis wirklich im All entstanden ist, gilt als unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass der Organismus als Spore von einem Crewmitglied oder mit der Ausrüstung eingeschleppt wurde – und sich dann an das neue Habitat angepasst hat. Die Fähigkeit zur Sporenbildung macht viele Vertreter:innen der Niallia-Gattung zu zähen Überlebenskünstlern.
Dass diese Anpassung möglicherweise innerhalb der Raumstation erfolgte, macht die Entdeckung dennoch nicht weniger bedeutsam: Sie zeigt, wie sich selbst einfache Organismen unter Mikrogravitation und kosmischer Strahlung verändern – und stellt besondere Anforderungen an Hygiene- und Sicherheitskonzepte im All.