Pride Month 2023: Wie ist das Machtverhältnis zwischen Boykott und Support? - t3n

Dieser Pride Month ist für Marken noch stärker zu navigieren als jeder davor: Boykottdrohungen sind laut wie nie, Rechte werden der queeren Community genommen, umso lauter fordern sie Support. Schauen wir mal hin!Willkommen im Juni – es ist Pride Month! Alles ist „schrill“, überall Regenbogen und zugleich wird überall diskutiert: Ist das Rainbow-Washing? Ist das echter Support? Ist die Unterstützung genug? Was ist mit der rechtskonservativen Ecke, die „Sexualisierung von Kindern“ unterstellt, die „Wokeness“ bemängelt und mit Boykotten droht? Und damit einhergehend: Sollten Unternehmen Stellung beziehen und hoffen, dass die Allys mehr sind als die Boykottierenden – oder das Risiko gar nicht erst eingehen? Direkt im Voraus: Wir können das Machtverhältnis nicht eindeutig klären. Es hängt von zu vielen Faktoren ab: der Zielgruppe, dem Produkt oder der Dienstleistung, der Haltung zur LGBTQIA+-Community und wie diese ausgedrückt wird und vielem mehr. Wir können uns aber Einzelfälle ansehen und Hinweise liefern. Exkurs: Das Wort „woke“ Ganz knapp gesagt: Ursprünglich haben sich als „woke“ selbst Schwarze Menschen bezeichnet, die ihre eigene Diskriminierung realisiert haben, also „aufgewacht sind“, und sich dem nicht mehr fügen wollen. Dann begannen weiße Personen, den Begriff zu übernehmen – und schließlich wurde er von rechts neu konnotiert, um politisch linke Menschen als „weltfremd“ und „chronisch online“ zu diskreditieren. Daher sollte das Wort mit Vorsicht genutzt werden. Target, Boykott und die angeblichen 10 Billionen: Astroturfing Die größte Debatte gibt es aktuell um den US-Discounter Target. Nicht nur gibt es dort jährlich eine Pride-Kollektion, Target bietet auch außerhalb des Junis Pride-Artikel an. Nun wurden Ende Mai, ausgerechnet kurz vor dem Pride Month, die Pride-Produkte aussortiert – unter anderem, weil Rechtsextreme Angestellte bedrohten. Das Ziel des Boykotts, so der rechtsextreme Kommentator und Autor Matt Walsh: „Das Ziel ist, ‚Pride‘ für Marken toxisch zu machen.“ [crosslinks ids="1435885,1542703,1493551"] Was ist bei Target passiert? Nandini Jammi hat nach ihrer Karriere in der Werbebranche Check My Ads mit Claire Atkin gegründet – die Watchdogs der Werbebranche setzen sich dafür ein, dass Marken mehr Kontrolle über ihr Display-Werbebudget haben und nicht versehentlich Desinformationsseiten finanzieren. Sie analysiert: Target war Opfer einer koordinierten Desinformationskampagne – erfolgreiches Astroturfing. Nachdem ein Grund fingiert worden war, warum sich alle aufregen müssten, wurde die Wut befeuert – inklusive der Veröffentlichung auf einer ganzen Reihe von Fake-News-Kanälen. Eine rechtsextreme Gruppe namens „Gays against Groomers“ startete den vermeintlichen Boykott mit Tweets darüber, dass Target Kinder indoktrinieren würde, die Bubble sprang auf den Zug auf. Influencer Oli London tweetete, dass Targets Börsenwert in zehn Tagen um zehn Milliarden US-Dollar gesunken sei. (Das stimmt zwar – der Kurs erholt sich aber aktuell wieder.) Letztlich berichteten sogar die seriösen Medien von einem „großen nationalen Boykott“, der in dem Maße nicht stattfand. Jammi betont: Target ist als Discounter zu relevant in der Versorgung und viel zu bequem, als dass US-Amerikaner:innen es ernstlich boykottieren. Und nachdem rechte Menschen zu glauben begannen, dass sie in der Überzahl seien, begannen sie, persönlich in Target-Filialen Mitarbeitenden Gewalt anzudrohen. Das wiederum führte zum Erfolg: Pride-Produkte wurden aus dem Sortiment gestrichen. Kohl’s und The North Face sind aktuelle Ziele. [linkedin iframe='']Das ist nicht aussagekräftig für alle Boykottsituationen. Natürlich gibt es Menschen, die einen Boykott ankündigen und tatsächlich durchziehen. Der Target-Fall illustriert aber sehr gut den Spruch: Die Lauten sind nicht die Mehrheit. Insbesondere die rechte Szene ist bekannt dafür, die Klaviatur des Internets zu beherrschen und Desinformationskampagnen sehr geschickt aufzuziehen. [crosslinks ids="1532986,1498778,1534598"] Support vor allem durch die jungen Menschen Unternehmen haben eine mehr oder minder realistische Angst vor Boykotten und einem folgenden Umsatzeinbruch. Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Es gibt Umfragen, die Hinweise liefern: Insbesondere junge Menschen unterstützen Marken, die sich gegen Sexismus, Homophobie, Transphobie, Rassismus und Co. äußern. In einer Yougov-Umfrage von 2020 forderten 54 Prozent der Befragten einen Standpunkt von Marken, 66 Prozent wollen, dass dieser Standpunkt auch kommuniziert wird. 65 Prozent mögen Marken mit einer Haltung. In einer Befragung der Columbia Business School stimmten 87 Prozent zu, dass Unternehmen nicht nur Gewinne erwirtschaften, sondern auch einen Wert für die Gesellschaft stiften sollten. In einer Befragung von Wider Sense, einer B‑Corp-Consulting-Firma zu CSR-Fragen, aus dem Jahr 2022 erwarten 58 Prozent der deutschen Befragten, dass sich Unternehmen gesellschaftlich engagieren. Site Core ist Anbieter einer Digital-Experience-Plattform und hat ebenfalls Menschen befragt. Hier ist es noch deutlicher: 85 Prozent denken, dass sich Menschen durch die Markenkommunikation wahrgenommen fühlen müssen. 72 Prozent finden es wichtig, dass es Unternehmen am Markt gibt, die von Minderheiten geführt werden. 77 Prozent möchten von Unternehmen kaufen, die nicht nur reden, sondern auch entsprechend handeln. Auf der anderen Seite will die Hälfte der Menschen keine politischen Statements. All diese Erhebungen sind aber tendenziell nicht wissenschaftlich sauber, weil sie wahrscheinlich nicht repräsentativ sind – es sind eher Marketingstudien. Für eine repräsentative Studie benötigt es mehr als die Tatsache, dass mehr als 1.000 Menschen befragt worden sind – diese müssen zufällig ausgewählt sein und die Gesellschaft widerspiegeln. LGBTQIA+-Community: Support so dringend nötig wie nie Dieses Jahr ist es noch wichtiger als zuvor, die Stimmen der queeren Community zu hören. Denn: Queeren Menschen werden nach und nach ihre Rechte entzogen. Besonders auffällig ist das in den USA. Sollte doch eigentlich nicht unbedingt ein Problem für uns sein, oder? Schön wär’s! Tatsächlich haben sich deutsche CDU/CSU-Politiker:innen mit dem republikanischen Gouverneur Ron DeSantis getroffen, darunter Ex-Verkehrsminister Andres Scheuer, der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Florian Hahn, und die Vizevorsitzende der Unionsbundestagsfraktion, Dorothee Bär. DeSantis ist für eine Politik bekannt, die queeren Menschen und Frauen ihre Rechte abspricht. Auch Aufklärung darf nicht mehr geschehen: In Florida darf bis zur zwölften Klasse nicht über sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität im Unterricht gesprochen werden. Trans Menschen dürfen nach seinen neuesten Gesetzen nicht mehr öffentliche Toiletten oder Umkleidekabine nutzen, die ihrer Identität entsprechen; auch ihre medizinische Behandlung hat er eingeschränkt. Die Chefin der Human Rights Campaign, Kelley Robinson, spricht von DeSantis’ „Dämonisierung von queeren Menschen“. Die Haltung, die DeSantis hat, ist nicht neu in Deutschland und wird durch solche Besuche salonfähiger. Die LGBTQIA+-Community fordert deswegen dieses Jahr umso mehr: Wenn sich Firmen entscheiden, Unterstützung zu zeigen, geht es um mehr als „Love is Love“ – es geht darum, dass queere und trans Menschen gefährdet sind und werden. [instagram url="https://www.instagram.com/p/CsUfZtGNE_r"] Das Regenbogenlogo: Manchmal doch kein Rainbow-Washing Zum Schluss ein Punkt zum Grübeln: Stuart Bruce Cameron, CEO der Uhlala Group und LGBTQIA+-Aktivist, wies in einem Linkedin-Post darauf hin: Nicht immer ist das Regenbogenlogo gleichzusetzen mit Rainbow-Washing. Manchmal steckt hinter dem Logo nämlich viel Arbeit von LGBTQIA+-Mitarbeitenden, die sich sehr für dieses bisschen Sichtbarkeit eingesetzt haben. Wird das sofort als Pinkwashing oder Rainbow-Washing kritisiert, kann es sein, dass das Unternehmen sofort zurückrudert. Auch wir haben in der Vergangenheit kritisch über Regenbogenlogos berichtet. Allyship ist und bleibt im Unternehmenskontext schwierig zu beurteilen – selbst bei echter Allyship ist der kapitalistische Anspruch, Umsatz zu generieren, immer ein Faktor, der der Unterstützung entgegensteht. [linkedin iframe=' [articlegallery id="94"]