Renaturierung am Oder-Delta: Wie Naturschutz ohne Zäune gelingen kann
ROD spielt dabei auch auf Zeit. Die Deiche werden nicht ewig halten und die ersten Pumpstationen, die das Hinterland entwässern, versagen bereits. Dass hier großflächig entwässert wird, liegt an der aktuellen Agrarförderpolitik. Die Landwirte bekommen Subventionen für die Bewirtschaftung der Flächen. Auch wenn das Erntegut weitgehend wertlos ist, lohnt es sich, die Flächen weiter zu bewirtschaften, wenn sie nur groß genug sind. Landwirte, die 1.000 Hektar Grünland besitzen, haben kein Interesse daran, Flächen an die Natur abzugeben – kleinere Betriebe schon eher. Die Deiche zu erneuern und Pumpstationen zu reparieren, wird jedoch so teuer werden, dass es sich trotz Subventionen nicht lohnen wird – hofft Torkler.
„Wir haben hier gerade so einen Fall“, erzählt er. „Ein Landwirt, mit dem wir zusammenarbeiten, hält 30 von 40 Hektar Land, die von einer Pumpstation entwässert werden.“ Diese Pumpstation sei nun defekt, aber die Eigentümerin, der die restlichen zehn Hektar gehören, habe Sorge, dass ihr Keller vollläuft, wenn die Pumpe nicht repariert würde. „Das heißt, der Landwirt ist gezwungen, mehrere 100.000 Euro für eine neue Pumpstation auszugeben, die die Entwässerung voranbringt, obwohl sich das wirtschaftlich nicht lohnt.“ Also versucht ROD jetzt, die Deutsche Umwelthilfe an Bord zu holen und politisch für solche Fälle zu sensibilisieren, um Lösungen zu finden.
Wenig Naturromantik, mehr schöne Wildnis
Allianzen schmieden, mit Behörden sprechen, Strippen ziehen – Rewilding zu betreiben, hat wenig mit Naturromantik zu tun. Aber es kann diese verkaufen. Wenn die Natur sich ausbreitet, bleibt weniger Raum für ihre Nutzung. Dafür kommt die Schönheit, es kommen die Tiere und die sind touristisch attraktiv. Nicht ohne Grund versuchen Rewilding-Zonen, möglichst schonenden Natur-Tourismus als nachhaltigen Wirtschaftszweig zu entwickeln. „Tourismus ist natürlich naheliegend, also setzen erst einmal alle darauf“, sagt Schiller. Das sei ein großer Kritikpunkt in der Szene. Aber mit dem Tourismus können sich auch andere nachhaltige Wirtschaftszweige entwickeln. Er denke etwa an naturbasierte Produkte. „Damit wird man nicht BMW ersetzen, wenn man Industrie-Aktivität vor Augen hat.“ Allerdings hat das Oder-Delta auch nicht die Populationsdichte von München.
„Die Voraussetzungen am Oder-Delta sind gut, aber das funktioniert natürlich nicht überall“, zuckt Schiller mit den Schultern, „eine Eins-zu-eins-Übertragung auf andere Regionen wird nicht funktionieren, dazu sind die Systeme zu heterogen. Rewilding allein wird nicht die Welt retten, aber es hat Strahlkraft.“

Im Peenetal brüten mehr Seeadler als sonst irgendwo in Europa. Sie sind eine der wichtigsten touristischen Attraktionen der Region.(Bild: Staffan Widstrand / Rewilding Europe)
Die Vermessung der Wildheit
Was am Oder-Delta geschieht, ist, wenn man die gesamte Rewilding-Szene betrachtet, eigentlich „Rewilding light“. Die Gegend ist dünn besiedelt, offen, strukturell wenig verändert und die Schlüsselarten sind entweder schon da oder in der Nähe. „In England, wo ich herkomme, gibt es Gebiete, in denen wäre ein Rewilding-Konzept nach dem Oder-Delta-Prinzip unmöglich. Allein schon, weil es so viele Zäune gibt, dass Schlüsselarten gar keine Chance hätten, sich zu verbreiten“, sagt Biodiversitätsforscherin Josiane Segar. „Schlüsselarten müssten zudem erst einmal angesiedelt werden – Großbritannien ist eine Insel. Da müsste zwingend in das Ökosystem eingegriffen werden, bevor man es sich selbst überlassen könnte.“ Sprich: Die Voraussetzungen für Rewilding sind überall unterschiedlich. Das macht Rewilding schwer vergleichbar und den Erfolg noch schwerer messbar. Soll sich so ein Konzept als Joker für Biodiversität und Klimaschutz durchsetzen, sind messbare Parameter jedoch ein Muss – und diese hat Segar im letzten Jahr entwickelt. „Wir haben ein Rahmenwerk aufgebaut, das es uns möglich macht, den Erfolg von Rewilding-Projekten zu quantifizieren“, erzählt sie.
Ein Pfeiler dieser Quantifizierung ist die Auswertung von Satellitendaten über einen Zeitraum von zehn Jahren. Ist die Region grüner geworden, wie haben sich Flussläufe verändert, wachsen Bäume? Diese „spontane Regeneration“ sei auf Satellitenbildern gut zu erkennen. Der zweite Pfeiler ist ein Dialogprozess mit Experten, die unterschiedliche Indikatoren bewerten. „Um den Bias durch die Experten zu minimieren, haben wir ein mehrstufiges iteratives, partizipatives Verfahren entwickelt, das am Ende zu einer Kennzahl zwischen Null und Eins führt“, sagt Segar. Eins steht für maximale Wildheit. Sieben Rewilding-Gebiete, die alle zu Rewilding Europe gehören, haben Segar und ihre Kollegen bewertet. Die Spanne der Entwicklung über die letzten zehn Jahre reicht von 47,1-prozentiger Wildnis-Steigerung in den italienischen Zentral-Apenninen bis zu einer Verschlechterung von 13 Prozent in den bulgarischen Rhodopen oder 6,7 Prozent im kroatischen Velebit.
Das ist ein tolles Projekt, da würde ich gerne unterstützen.