Verkehrsprofessor in Amsterdam: „Das Rad steht für eine nahezu perfekte Sache“

Vor zwölf Jahren verkaufte der Niederländer Marco te Brömmelstroet Fahrräder aus seinem Heimatland in München. Heute ist er Professor an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Universität Amsterdam. Er nennt sich selbst „Fietsprofessor“, also Radfahrprofessor, hat ein Labor für neue Denkansätze zur Mobilität (Lab of Thought to Rethink Mobility) mitgegründet – und bei Vorträgen schon mal seine blaue Ukulele dabei. „Das Übliche“ ist ganz offensichtlich nicht sein Ding, Interviewfragen beantwortet er am liebsten schriftlich. „Dann habe ich mehr Zeit, über die Antworten nachzudenken“, erklärt er via E-Mail.

Marco te Brömmelstroet nennt sich selbst „Fietsprofessor“ und hat ein Labor für neue Denkansätze zur Mobilität mitgegründet. Sein Motto: Innehalten statt mehr Geschwindigkeit. (Bild: Christa Klomp)
Dieses Interview ist erstmals in der Ausgabe 5/2023 von MIT Technology Review erschienen. Wir veröffentlichen es an dieser Stelle als Leser:innenservice erneut. Das Heft könnt ihr hier als pdf bestellen.
MIT Technology Review (TR): Sie bezeichnen sich als Radfahrprofessor. Warum?
Marco te Brömmelstroet: Warum lagen John Lennon und Yoko Ono in den 1960er-Jahren in Amsterdam mit einem Fahrrad im Bett? Weil es einen hohen symbolischen Wert hat! Radfahren hat für mich schon immer etwas Magisches gehabt. Das Fahrrad steht, ähnlich wie eine Büroklammer, für eine puristische, nahezu perfekte Sache: was den Ressourcenverbrauch betrifft, das Verhältnis von Energieeinsatz zu Entfernung und das Verhältnis von individuellem Nutzen zu gesellschaftlichen Kosten. Das haben auch schon viele andere erkannt, zum Beispiel der Philosoph Iwan Illich, der Anthropologe Luis Vivanco und Steve Jobs.

John Lennon und Yoko Ono 1969 im Amsterdamer Hilton-Hotel: Das Fahrrad, ein Geschenk von Fans, galt als Symbol für eine bessere Welt. (Foto: Bettmann / Getty Images)
„Das Fahrrad zeigt klar die Richtung für einen radikalen Wandel“
TR: Dennoch spielt das Fahrrad in Ihren Büchern und Publikationen oft nicht die zentrale Rolle.
te Brömmelstroet: Genauso wie das Auto nicht das Problem schlechthin ist, sondern uns nur die grundlegenden Mängel der Mobilität deutlich vor Augen führt, ist eben auch das Fahrrad allein nicht die Lösung. Es zeigt aber klar die Richtung für einen radikalen Wandel.
TR: Können Sie das genauer erklären?
te Brömmelstroet: Tatsächlich gab es in den Niederlanden schon in den frühen 1970er-Jahren den Ansatz, die Art und Weise, wie wir Mobilität und Straßen denken, planen und gestalten, radikal zu ändern. Er war aber derzeit Teil einer noch viel größeren Bewegung, die die Gesellschaft als wachstumsorientierte, technokratische und auf Effizienz ausgerichtete Maschinerie insgesamt infrage stellte. Das Fahrrad war ein starkes Symbol dafür. Dann wurde es aber von genau dem System vereinnahmt, das es anfangs infrage gestellt hat.
TR: Und das ist der Grund, warum Sie das Mobilitätssystem in den Niederlanden – das viele Deutsche als Paradies für Radfahrer ansehen – kritisieren?
te Brömmelstroet: Genau. Wie in Deutschland wird auch bei uns die vom Auto dominierte Denkweise in der Regel nicht infrage gestellt und auch nicht die zugrunde liegende verkehrstechnische, technokratische Auffassung von Mobilität und Straßen. Die symbolische Kraft des Fahrrads für eine Gegenerzählung ist verschwunden. Und damit die Möglichkeit, dadurch die Diskussionen um Mobilität und Straßen zu politisieren. Das ist durchaus problematisch, denn unsere Städte und Gesellschaften brauchen meiner Meinung nach nicht nur eine Verkehrswende. Sie brauchen eine Gesellschaftswende.
„Kinder sind sehr gefährdet – und auch die Natur“
TR: Wieso ist das wichtig?
te Brömmelstroet: Mobilität beziehungsweise der öffentliche Raum sind nun mal keine isolierten Phänomene, die Ingenieure optimieren können. Sie sind mit allen anderen gesellschaftlichen Funktionen eng verbunden. Und wir sehen diejenigen, die im Laufe der Zeit am stärksten betroffen sind. Kinder sind sehr gefährdet – und auch die Natur. Wir sehen auch eine Art Pandemie der Fettleibigkeit und andere massive Gesundheitsprobleme, die auf eine sitzende Lebensweise zurückzuführen sind. Außerdem ein explosionsartiges Ausmaß an Einsamkeit und psychischen Problemen in der gesamten Bevölkerung, die mit einer individualisierten und atomisierten Lebensweise zusammenhängen. Und all das hat eben auch etwas mit unserer aktuellen Mobilitätsauffassung und dem öffentlichen Raum zu tun.
TR: Im Jahr 2021 wurden allein in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 22.272 Kinder unter 15 Jahren im Straßenverkehr verletzt, 49 starben. Wie können wir unsere Kinder schützen?
te Brömmelstroet: Nicht, indem wir sie disziplinieren, ihnen die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übertragen oder sie aus öffentlichen Räumen verbannen. Sondern indem wir die Gefahr beseitigen. Das heißt: keine gefährlichen Geschwindigkeiten und Fahrzeuge dort, wo Kinder sind.
Auf dem Fahrrad „im Flow sein“
TR: Sie hinterfragen die eingebrannten Denkstrukturen mit ungewöhnlichen Projekten. Zum Beispiel haben Sie das mentale Phänomen des „im-Flow-Sein“ bei Radfahrenden untersucht. Welche Idee steckt dahinter?
te Brömmelstroet: Die Studie ist ein gutes Beispiel dafür, bestehende Denkweisen zur Mobilität infrage zu stellen. Denn das Unterwegssein wird in der Regel als etwas Negatives gesehen, als eine Quantität, die es zu minimieren gilt, um möglichst schnell von A nach B zu kommen. Doch anstatt Radfahrer in solche Modelle zu zwingen, könnten wir doch versuchen herauszufinden, was sie bei ihrer Routenwahl antreibt. Und die Theorie des „Flow“ bietet dafür eine sehr interessante Erklärungsmöglichkeit. Denn unsere Studie zeigt: Wie niederländische Radfahrer:innen das Radfahren erleben, das entspricht den meisten neurologischen Effekten, die auch in Untersuchungen zum Flow-Zustand gefunden wurden. Dass man zum Beispiel Klarheit, Selbstwirksamkeit und Kreativität erfährt. Könnte es also sein, dass Reisen tatsächlich keine Quantität ist, die es zu reduzieren gilt, sondern eine Qualität, die wir maximieren sollten? Das ist eine Frage, die wir beantworten müssen. Und auch, was das für die Verkehrsforschung und die Mobilitätspolitik bedeuten würde.
TR: Aber hat es nicht oft Vorteile, schnell von A nach B zu kommen: Wenn Menschen zum Beispiel mehr Zeit zu Hause mit den Kindern verbringen können, weil sie früher von der Arbeit zurück sind?
te Brömmelstroet: Das ist sicher auch richtig. Meine Kritik ist, dass diese Art, über Mobilität nachzudenken, als gesetzt gilt. Dabei handelt es sich um ein eher junges, monopolartiges Konstrukt. Dieses Streben, möglichst schnell von A nach B zu kommen, erschöpft nicht nur jeden Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft und die Umwelt. Nur auf den ersten Blick gewinnen wir mehr, als es kostet.
Das liegt auch daran, dass wir die meisten Kosten externalisiert haben. Allein die Verkehrsunfälle in den Niederlanden verursachen im Jahr 27 Milliarden Euro, die nicht von den Verursachern, sondern von der Gesellschaft getragen werden. Damit schafft man eine subjektive und willkürliche Systemgrenze. Und am Ende kommen wir trotzdem nicht schneller von A nach B. Unsere As und Bs haben sich einfach weiter voneinander entfernt. Das zeigen auch Studien: Wir sparen keine Reisezeit, sondern die Entfernungen werden immer größer. Und das führt zu einer zunehmenden Erschöpfung von Ressourcen. Auch Radschnellwege sind daher übrigens keine Lösung, sondern nur eine Fortführung der alten Denkschule.
TR: Sie machen in Ihren Büchern und auch in einer Studie darauf aufmerksam, welche wichtige Rolle die Sprache bei neuen Denkansätzen zur Mobilität spielt.
te Brömmelstroet: Man sollte sich in der Tat sehr bewusst sein, welche Narrative wir verwenden. Bei der Mobilität war der Ausgangspunkt die Wassertechnik, weil die ersten Straßennetze in den USA von Wasseringenieuren geplant wurden. Straßen wurden Pipelines genannt, die nicht verstopfen dürfen, später – biologisch – Arterien. Oder die Physik wird bemüht: Städte als Planeten, die durch schnellere Verbindungen näher zusammenrücken. Und die Wirtschaft: Menschen als rationale Nutzenmaximierer.
Dabei sind auch andere Narrative denkbar: Mobilität als individuelles Spiel zum Beispiel, sodass Straßen Orte zum Spielen werden, zum Entdecken und Interagieren. Oder Mobilität als soziale Interaktion, Mobilität als Gemeinschaftsgut – oder auch Mobilität als etwas Überflüssiges, was den Fokus auf lokale soziale Kontakte und die Schonung von Ressourcen lenken würde. Solche Narrative müssen nicht besser sein, sie machen uns aber bewusst, dass wir eine Wahl haben.
„Die Straße vor der eigenen Haustür zurückerobern“
TR: Was ist Ihre Vision vom Leben auf der Straße in zehn, zwanzig Jahren?
te Brömmelstroet: Meine Vision im Detail ist irrelevant. Es geht darum, den Menschen zu helfen, die aktuelle Situation zu hinterfragen, auch ganz lokal, und ihre Kreativität zu aktivieren. Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Gestaltung unserer Straßen und die Mobilität ein entpolitisiertes, technokratisches Optimierungsproblem für Experten sind. Dieser Reflex, komplexe Probleme zu vereinfachen, hat unsere Urwälder zu Produktionswäldern gemacht, was zu einer ökologischen Krise führt, und unsere Landwirtschaft zu einer Industrie, was eine Umweltkatastrophe zur Folge hat. Und wir haben aus eigentlich sinnvollen Straßen Pipelines für den Fahrzeugdurchsatz gemacht: alles Monokulturen.
Eine Vision reicht nicht aus, um diesen Mechanismus wieder rückgängig zu machen. Nötig ist jetzt, genau diese Problematik aufzuzeigen und auch im Kleinen zu handeln, die Straßen vor der eigenen Haustür mit ökologischer und sozialer Vielfalt zurückzuerobern. Hört auf zu planen und fangt wieder an zu gärtnern!
TR: Was kann denn jeder Einzelne tun?
te Brömmelstroet: Jeder kann zum Beispiel sofort damit beginnen, aufmerksamer unterwegs zu sein und aufzuschreiben, was einem auffällt. Man kann sich über Projekte und Aktionsbündnisse informieren, mit anderen vernetzen und diskutieren. Es kann außerdem helfen, Politiker zu kontaktieren, vor allem solche, die gar nichts mit Verkehrsplanung zu tun haben, und sie mit Missständen oder Ideen zu konfrontieren. Weitere Tipps sind auch in einem Buch nachzulesen, das ich gemeinsam mit der Journalistin Thalia Verkade geschrieben habe. Es heißt „Movement – Wie wir unsere Straßen zurückerobern und unser Leben ändern“.
TR: Thalia Verkade berichtet darin auch von einem regelrecht schockierenden Erwachen, als ihr bei ihren Recherchen bewusst wurde, wie selbstverständlich sie die bestehende Infrastruktur hingenommen hatte. Hatten Sie selbst auch einen solchen augenöffnenden Moment?
te Brömmelstroet: Ja, ich habe diesen Schock schon als Kind erfahren.
TR: In ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie als neunjähriges Kind miterlebt haben, wie Ihr Freund Dion le Comte beim Spielen auf die Straße lief und von einer Autofahrerin getötet wurde.
te Brömmelstroet: Ich konnte das nie wieder vergessen. Und Thalia kann das jetzt auch nicht mehr. Das Buch ist ein Segen und ein Fluch. Es führt einem die Absurdität der Dinge vor Augen, die viele Menschen als gegeben hinnehmen. Und dann gibt es keinen Weg mehr zurück.