„No Ego. Company First“ – Amorelie-Gründerin Lea-Sophie Cramer im t3n-Interview
t3n Magazin: Du bist jung, hübsch und führst einen Online-Sexshop – eine Mischung, die vielleicht manche überfordert. Wie reagieren die Leute im Arbeitsalltag auf dich?
Lea-Sophie Cramer: Ich habe festgestellt: Je selbstbewusster und authentischer wir bei Amorelie mit dem Thema umgehen, desto besser können das auch die anderen. Aber das war natürlich ein Prozess. Vor zwei Jahren konnte ich Sachen wie „Penisring“ selbst nicht sagen, ohne rot zu werden, schon gar nicht vor vielen Leuten. Und mir sind auch anzügliche Sprüche begegnet wie „ich bräuchte dieses oder jenes Produkt natürlich in XXL“ – Dinge, die man nicht unbedingt von potenziellen Partnern oder Investoren hören möchte.
Eine wirklich negative Situation hat es aber nie gegeben, wahrscheinlich auch, weil wir bewusst immer auf einer sachlichen Ebene bleiben. Im Großen und Ganzen stehen die Leute mir – und auch Amorelie – viel lockerer und positiver gegenüber, als wir anfangs gedacht hätten.
t3n Magazin: Wie kommt es, dass du nach außen stärker als „das Gesicht von Amorelie“ auftrittst als dein Mitgründer Sebastian?
Lea-Sophie Cramer: Zum einen wollten wir uns ganz bewusst vom traditionellen Image der Erotikbranche abgrenzen – dunkle Gassen, rotes Licht und eben auch das männliche Publikum. Amorelie richtet sich an eine junge, online-affine Zielgruppe, die durchaus mit einem konservativen deutschen Wertekonstrukt groß geworden ist und sich an das Thema Sexspielzeug noch herantasten muss, und diese Zielgruppe repräsentiere ich stellvertretend für uns beide. Aber ein Stück weit hat sich der Schwerpunkt in der Außendarstellung auch von selbst ergeben.
Viele Leute fühlen sich beim Thema Sex einfach wohler, wenn sie mit einer Frau reden können. Sebastian und ich sind als Geschäftsführer und Gründer auf jeden Fall komplett auf Augenhöhe, mit denselben Kompetenzen, Unternehmensanteilen und so weiter. Wir entscheiden alles gemeinsam.
t3n Magazin: Wie wichtig war es dir, als CEO Teil eines Teams zu sein?
Lea-Sophie Cramer: Alleine hätte ich nicht gegründet. Vor Amorelie habe ich Groupon Asien geleitet und dort auch gelebt, weit weg von meinem Berliner Freundeskreis. Und ich muss wirklich sagen: Allein an der Spitze ist es einsam. Das wollte ich nicht mehr. Wenn du im Team gründest, ist eins plus eins viel mehr als zwei. Weil du dich gegenseitig ausgleichen kannst, weil du Ängste oder schwierige Situationen nicht alleine durchstehen musst. Man ist so unfassbar viel stärker, wenn man zu zweit ist.
t3n Magazin: Wie haltet ihr es mit Hierarchien?
Lea-Sophie Cramer: Da wir mittlerweile 55 Leute sind, gibt es eine Zwischenebene – die „Leading Lovers“, unsere Team Leads, mit denen wir uns wöchentlich treffen. Eigentlich finde ich es cooler, mit dem Trainee auf derselben Ebene zusammen zu arbeiten wie mit dem COO, bei uns definiert sich niemand darüber, wie viele Leute ihm unterstellt sind. Aber je größer du wirst, desto mehr Struktur brauchst du einfach.
Sebastian und ich haben seit ein paar Wochen zum ersten Mal ein separates Büro – wir brauchen Ruhe für die anstehende Finanzierungsrunde. Aber es fühlt sich komisch an, trotz der Glaswände und der immer offenen Tür. Ich glaube, nach der Finanzierungsrunde ziehen wir wieder um ins Großraumbüro.
t3n Magazin: Je größer man wird, desto schwieriger wird es, den Zusammenhalt zu wahren. Wie haltet ihr euer Team bei Laune?
Lea-Sophie Cramer: Wir legen viel Wert auf gemeinsame Aktivitäten, lassen die Arbeitswoche Freitags zusammen ausklingen und machen einmal im Monat eine Office-Feier. Zudem gibt es den Mystery Lunch, bei dem man einmal in der Woche mit irgendjemandem aus dem Team Essen geht und sich besser kennenlernt. Und Montags und Freitags beim Stand-up-Meeting tanzen wir einen Wake-up-Dance. Den gibt es schon so lange wie es Amorelie gibt, und jeder muss mitmachen, vom Management bis zum Praktikanten.
Wir tanzen verschiedene Moves, die von unserem Produktportfolio inspiriert sind. Das ist uns wichtig, denn natürlich bringt gerade das, was wir verkaufen, viel Spaß und Witz in unseren Alltag. Ich fände es extrem schade, wenn wir so tun würden, als wären das einfach Backöfen oder so. Und das Team zieht voll mit: Ständig kommt jemand mit neuen Moves um die Ecke.
t3n Magazin: Welche Werte fördert ihr bei Amorelie?
Lea-Sophie Cramer: Unternehmenskultur ist bei uns ein extrem wichtiges Thema, denn für Sebastian und mich war das einer der ausschlaggebenden Punkte, um selbst zu gründen: Wir wollten eine Firma so bauen, dass wir – und alle unsere Mitarbeiter – sich richtig wohl fühlen. Wir fragen uns immer: Wenn ich Trainee, Praktikant oder Team Lead wäre, wie würde ich behandelt werden wollen?
Im Vordergrund steht dabei, dass wir uns immer gegenseitig helfen und Entscheidungen nie im Hinblick auf Positionen oder das persönliche Vorankommen fällen. Wir ändern laufend unsere interne Organisation und Struktur. Wenn die Firma wächst, müssen die Mitarbeiter mit wachsen, das erwarten wir – niemand kann sich eine Ego-Show leisten oder ein persönliches kleines Reich aufbauen. Deswegen ist unser Firmencredo auch „No Ego. Company First.“
t3n Magazin: Was veranlasst euch dazu, interne Strukturen zu verändern?
Lea-Sophie Cramer: Wir gucken uns auf einer Matrix das Verhältnis von Aufwand und „Money Value“ an und wenn wir feststellen, dass zu viel Zeit von uns oder von einer Abteilung für Themen draufgeht, die geringen Money Value haben, dann optimieren wir. Manchmal verteilen wir auch Ressourcen neu, um schneller zu werden: Wenn wir an der Website arbeiten, ziehen wir vielleicht kurzfristig Grafiker in das UX-Team und Texter hinzu, um das Projekt schneller abzuschließen.
Neben der Matrix fließen auch äußere Einflüsse wie zum Beispiel Aktionen der Wettbewerber und das Feedback aus dem Team in diese Entscheidungen ein. Das ist schon sehr datengetrieben und wir versuchen, die Entscheidungen wirklich auf möglichst aktuellen, am liebsten Echtzeit-Daten aus dem Geschäft zu basieren. Zahlen sind letztlich die einzige Wahrheit, wenn du ein Unternehmen führst. Um wirklich abwägen und vergleichen zu können, ist aber noch ziemlich viel manuelles Gefrickel nötig, mit Excel-Tabellen, einem selbst erstellten Punktesystem und so weiter. Das CSI-mäßige Riesen-Dashboard, von dem aus wir unser Unternehmen steuern können, gibt es noch nicht.
t3n Magazin: Inwiefern nutzt ihr Daten, um Innovationen voranzutreiben?
Lea-Sophie Cramer: Für uns spielen die Daten aus Kundeninteraktionen eine enorm wichtige Rolle, sei es durch direktes Feedback oder durch die Auswertung des Kundenverhaltens auf unserer Website. Insbesondere durch unseren Kundenservice-Online-Chat merken wir, an welchen Punkten Fragen auftauchen. Für Amorelie ist das in besonderer Weise wichtig, denn natürlich sind unsere Produkte für alle, die das Thema Sexspielzeug gerade erst entdecken, extrem erklärungsbedürftig.
Durch die Interaktion mit den Kunden merken wir: Hier brauchen wir ein Erklärvideo, dort eine 3D-Grafik oder eine Themenseite. Auch unsere Einsteiger-Boxen sind so entstanden oder unser Toy-Finder, eine Art Fragebogen, bei dem du verschiedene Parameter angeben kannst, um die Auswahl einzugrenzen. Die Daten haben uns gezeigt, dass unser Sortiment viele Erstbesucher überfordert, also holen wir sie nun besser ab.
Die Tatsache, dass wir Online-Natives sind und den E-Commerce beherrschen, ist ein riesengroßer Vorteil gegenüber unseren Wettbewerbern. Wir wissen, was und wie man alles tracken kann und mit diesen Daten arbeitet. Außerdem sind wir selbst die Zielgruppe und bringen daher viel intuitives Wissen mit – oder besser gesagt: Nichtwissen. Unsere Wettbewerber erklären Vieles nicht, weil sie es als gegeben voraussetzen. Wir dagegen fangen selbst bei Null an und nehmen unsere Kunden mit auf Entdeckungsreise. Diese naive Herangehensweise ist unser Vorteil – und wir bewahren ihn uns auch: Wir haben mit Ausnahme unseres Kundenservices niemanden aus der Erotikbranche eingestellt.
t3n Magazin: Wie viel Raum gebt ihr unternehmerischen Experimenten, Tests und Pilotprojekten?
Lea-Sophie Cramer: Total viel. Zum Beispiel bei unserer Abo-Box, bei der man alle drei Monate etwas geschickt bekommt und die letztlich die logische Verlängerung unserer Einsteigerboxen ist. Da haben wir – bevor es das Produkt überhaupt gab – einfach eine Landingpage gebaut, die Conversions beobachtet und geschaut, ob Nachfrage besteht. Und das war so. Oder wir verschicken einen Newsletter und analysieren die Öffnungsraten. Wir testen, wie gut etwas angenommen wird, bevor wir über die perfekte Umsetzung nachdenken. So sind wir schnell und sparen gleichzeitig Ressourcen.
t3n Magazin: Du bist bei deinem letzten Arbeitgeber Groupon superjung zur Führungskraft aufgestiegen, mit 22 Jahren warst du für mehr als 1.000 Leute verantwortlich. Wie hat sich das angefühlt?
Lea-Sophie Cramer: Es gab nicht diesen einen Moment, in dem ich damit konfrontiert wurde – meine Aufgaben bei Groupon haben sich einfach innerhalb sehr kurzer Zeit stark ausgeweitet. Vor konkreten Begegnungen oder Situationen habe ich natürlich schon manchmal gedacht: „Wow, werden die mich akzeptieren?“ Ich hatte ja auch viele Leute unter mir, die viel älter waren und viel mehr Berufserfahrung hatten.
Mir war aber von Anfang an klar: Ich muss das inhaltlich lösen, nicht durch Beharren auf „Ich stehe jetzt aber über dir“. Ich habe immer vermittelt, dass ich gekommen bin, um Probleme zu lösen und inhaltlich zu helfen. Und sobald die Leute gemerkt haben „OK, seit Lea hier ist, kommen wir voran“, war alles gut.
t3n Magazin: Gab es denn Leute, die ein Problem mit dir als Chefin hatten?
Lea-Sophie Cramer: Das ist schon mal vorgekommen. Wenn jemand sich jahrelang für ein Unternehmen engagiert und dann bei der Besetzung des Chefpostens übergangen wird – zugunsten einer anderen, viel jüngeren und vermeintlich unerfahrenen Person –, dann sorgt das manchmal für Frust. Ich habe das in der Regel ganz direkt angesprochen: „Hey, ich habe das Gefühl dass du nicht so glücklich damit bist, dass ich jetzt über dir arbeite.
Ich kann zwar nicht ändern, dass ich den Posten habe und du nicht, aber vielleicht finden wir eine Möglichkeit, die Situation für uns beide erträglicher zu machen.“ Das war natürlich nur möglich, weil ich absolute Rückendeckung „von oben“ hatte. Wenn du extrem ehrlich und transparent bist, kann dir letztlich niemand böse sein. Und selbst wenn man am Ende entscheidet, dass man nicht miteinander klar kommt und sich die Wege trennen müssen, ist mir das sehr viel lieber als ein unangenehmes Miteinander.
t3n Magazin: Also ist Ehrlichkeit für dich eine wichtige Führungsstrategie?
Lea-Sophie Cramer: Ja. In dieser Hinsicht haben mich meine Eltern sehr geprägt, die beide BWL und Psychologie studiert haben. Ich bin dazu erzogen worden, alles sofort anzusprechen. Sebastian musste das auf die anstrengende Tour lernen, als wir mit Amorelie angefangen haben: Ich bin aus Meetings rausgegangen und habe gesagt: „Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie fühle ich mich nicht gut mit der Situation.“ Dann mussten wir dem Gefühl nachspüren und den Konflikt lösen. Das war manchmal wirklich anstrengend – am Ende war es aber immer sehr gut, dass wir es so gemacht haben. Auch für uns als Gründerteam. Wir haben viel diskutiert, manchmal auch über ganz kleine, vielleicht unwichtige Anlässe.
Heute kennen wir uns so gut, dass die Zusammenarbeit extrem rund läuft. Auch unseren Mitarbeitern gegenüber sind wir bewusst offen. Sie wissen fast alles von uns, auch die Umsätze und Gewinnmargen von Amorelie. Das fördert die Loyalität und den Zusammenhalt enorm. Neulich kam ein Kollege, der zu einer Konferenz nach Paris wollte, und hat angeboten, bei einem Bekannten zu übernachten – um Geld einzusparen, weil wir ja gerade in einer Finanzierungsrunde sind. In solchen Momenten merkst du, wie sehr Transparenz sich auszahlt.
t3n Magazin: Neben dieser Offenheit: Welche Softskills sind heute noch unabdingbar?
Lea-Sophie Cramer: Ich glaube, als Chef musst du Veränderung lieben. Es funktioniert nicht, wenn du eigentlich willst, dass alles beim Alten bleibt, gerade in der Digitalbranche. Google verändert irgendwelche Parameter, es kommt ein neuer Wettbewerber – heute kannst du so einfach eine Company launchen! – oder eine Firma, von der du abhängig warst, geht insolvent. Als Chef musst du Lust auf solche Veränderungen haben und diese Flexibilität auch im Team fördern.
Auch das ist ein Grund, warum wir immer wieder umorganisieren und jeder Mitarbeiter regelmäßig den Arbeitsplatz wechseln muss. Die Leute haben bei uns alle paar Wochen einen anderen Blickwinkel, im wahrsten Wortsinn.
t3n Magazin: Und welche Verhaltensweisen passen heute nicht mehr zum Chefsein?
Lea-Sophie Cramer: Was mir sehr wichtig ist: Ich will die Zeit meiner Mitarbeiter nicht unnötig in Anspruch nehmen, nur weil ich der Chef bin. Früher hat der Chef zum Meeting gebeten und alle mussten sich Zeit nehmen. Oder noch schlimmer: Ganze Abteilungen haben in stundenlanger Arbeit an ihren PowerPoint-Präsentationen gebastelt und gefeilt, nur um ihre Idee dem Chef zu präsentieren.
Da gehen so viele wertvolle Ressourcen verloren! Wenn jemand eine gute Idee hat, dann lese ich mir einfach die E-Mail durch oder schaue in die Excel-Tabelle oder auf die Website oder was auch immer. Chefs sollten heute nicht mehr davon ausgehen, dass ihre eigene Zeit die allerwichtigste ist. Wir schätzen die Zeit unserer Mitarbeiter genauso wert wie unsere eigene.
ich habe damals den printartikel gelesen und dann kurz darauf von dem aufkauf durch ein medienkonzern gehoert.
vor diesem hintergrund stelle ich mir dann schon die frage, wie langfristig sich ich ein solcher stil leben laesst. sowohl im hinblick auf die angestrebte unternehmenskultur als auch auf den darauf aufgebauten geschaeftserfolg? oder ist es am ende doch nur ein schnelles, kurzfristiges „aufbretzeln“ und dann „wegheiraten“ lassen in einem uebersichtlichen umfeld und im hintergrund regeln das anschliessend die geldgeber mit ihren bewaehrten prozesse von selber, schoepfen renditen auf basis des hippen images ab und loeffeln die marke aus.
die interssante frage ist daher fuer mich: wie geht es weiter und laesst sich eine solche kultur ueber diesen punkt hinaus LANGFRISTIG weiterleben?