Blogs und Twitter im Wahljahr 2009: Die Politosphäre
Gäbe es im Internet eine Wahl zum „Unwort des Jahres“ wäre der Sieger wohl der „rechtsfreie Raum“. Es ist kaum mehr zu zählen, wie oft irgendjemand erklärte, das Internet dürfe ein solcher nicht sein. Verschwiegen wird dabei, dass das Netz schon heute nicht rechtsfrei ist. Eher im Gegenteil: Vieles ist strenger geregelt als es im sonstigen Leben üblich ist. Wer eine Website oder gar einen Online-Shop betreibt, steht praktisch mit einem Bein vor Gericht.
Kein Wunder, dass man im Netz für den Satz „Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ vor allem Hohn und Spott übrig hat. Auf Twitter grassierte eine Welle von Abwandlungen: „Die Bibliothek darf kein brechtfreier Raum sein“, „Der Wald darf kein spechtfreier Raum sein“ – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Schäubles Plakat im Satire-Remix
Überhaupt: Humor und Satire sind die Waffen der Wahl. Weiteres Beispiel: Kaum hatte die CDU ihre Großplakate zur Bundestagswahl vorgestellt, gab es Neufassungen im Netz. Vor allem das Motiv mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble stand im Mittelpunkt. Der Spruch „Wir haben Kraft für Sicherheit und Freiheit“ war darauf zu lesen. Dazu muss man wissen, dass Wolfgang Schäuble wegen seiner Vorliebe für Überwachung gerade auch im Internet unter dem Namen „Stasi 2.0“ bekannt ist. Die Seite netzpolitik.org rief zum „Remixen“ des Plakats auf [1], bald darauf gab es gar ein Onlinetool, um es neu zu texten [2]. „Wir haben die Kraft für sichere Unfreiheit“, war da dann zu lesen oder: „Ich weiß, was Du letzten Sommer getan hast“. Das ZDF-Morgenmagazin berichtete über die Aktion.
Aber es geht nicht nur um kleine Späßchen. Vor allem die von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen auf den Weg gebrachten Internetsperren sorgten für Aufruhr. Die Ministerin gehört unter dem Spitznamen „Zensursula“ inzwischen zu den Feindbildern vieler Netzaktivisten. Und obwohl zahlreiche Experten gute Argumente gegen die Sperrpläne vorbrachten, wurden sie letztlich von Bundestag und Bundesrat abgesegnet.
Markus Winde (Spreeblick, mobile-macs.de) brachte die Stimmung mit einem Tweet auf den Punkt: „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen“. Eine Kampfansage: Wir lassen uns nicht unterkriegen, wir mischen mit. Topblogger René Walter („Nerdcore“) formulierte eine „Unabhängigkeitserklärung des Internets von der deutschen Politik“ [3] : „Sie haben folgenden Fehler begangen: Sie unterschätzen das Netz. Und das im Jahr 2009, herzlichen Glückwunsch.“
Telefonanbieter Vodafone setzte sich mit dem Thema heftig in die Nesseln. Im Zuge einer neuen Werbekampagne hatte man sich die „Generation Upload“ als Leitthema ausgeguckt und wollten sich nun mit Bloggern und anderem Netzvolk schmücken. Allerdings gehört Vodafone zu den Firmen, die besonders eifrig dabei waren, als die Bundesfamilienministerin die Internetsperren öffentlichkeitswirksam durchsetzen wollte. Freiwillig hatte Vodafone mit vier anderen großen Internetanbietern einen Vertrag mit dem Bundeskriminalamt unterschrieben, ohne die laufende Gesetzgebung abzuwarten. Entsprechend war Vodafone bei der angepeilten Clientel zum Start der Kampagne bereits vielfach untendurch und die Werbung löste heftige Diskussionen aus. Zudem lief die Vodafone-Werbung über den Vermarkter Adnation (an dem der t3n-Verlag yeebase media beteiligt ist) auch auf Blogs. Hatten die ihre Glaubwürdigkeit verraten, in dem sie für einen „Zensurprovider“ Werbung machten?
Cartoonistin Ute „Schnutinger“ Hamelmann gab schließlich entnervt auf. Sie gehörte zu den Protagonisten in Vodafones TV-Werbespot und musste sich besonders für ein Posting im Vodafone-Blog [4] heftige Kritik anhören. „Ich werde vielleicht irgendwann an einer ganz anderen Stelle, ganz anders weitermachen, gewiss werde ich nicht mehr Web 2.0 machen“, schrieb sie auf ihrer Seite [5].
Man sieht: Das Netz kann heute eine ungeheure Macht haben. Aber Macht bedeutet auch immer: Verantwortung.