- Von der Angst, etwas zu verpassen
- Mails im Morgengrauen
- Arbeiten über die Zeitzonen hinweg
- Erschöpft und niedergeschlagen
- Wenn das Team aus den Latschen kippt
- Der Abwesenheitsassistent
- Selbst Grenzen ziehen
- „Bis Montag muss das fertig sein“
- Im Urlaub erreichbar?
- „Alles eine Frage der Eigenverant-wortung“
- „Digital Detox“ – mehr als ein Hype
Mit „Digital Detox“ gegen die ständige Erreichbarkeit im Job
Der Ort, an dem Mailen und Telefonieren, Twittern und Liken zwei Tage lang ausdrücklich verboten sind, ist gut gewählt. Vom kleinen Bahnhof in Schweighofen wandere ich über eine holprige Straße durch Äcker und Obstwiesen einen Hügel hinauf. Im Westen grüner Wald, in dem sich Nebelschwaden verfangen haben; im Osten ein weiter Blick über die Rheinebene bis zum Schwarzwald, am Himmel ein wüster Mix aus Wolken. Hier, am Rande der Republik nahe der französischen Grenze, kauert sich der Haftelhof zwischen die Felder: ein 250 Jahre alter Klosterhof im Nirgendwo, nicht einmal Netz-Empfang habe ich hier. Das macht nichts, im Gegenteil: Wer heute hier ist, muss sein Smartphone sowieso ausschalten und abgeben. Offline gehen und offline bleiben. Willkommen beim ersten „Digital Detox Camp“ in Deutschland.
Von der Angst, etwas zu verpassen
„Digital Detox“ – zu Deutsch: digitale Entgiftung – ist ein neuer Trend aus den USA, der inzwischen auch Deutschland erreicht. Er versteht sich als Reaktion auf eine Lebensweise, in der wir immer und überall erreichbar sind, sein müssen und sein wollen. Always on sozusagen, aus Neugier oder aus Spaß, aus Pflichtgefühl oder aus „FOMO“, der „Fear Of Missing Out“ – der Angst, etwas zu verpassen. Die Folge: Die Mehrheit der Deutschen nimmt ihr Smartphone sogar mit ins Schlafzimmer; selbst bei 40 Prozent der Erst- bis Viertklässler liegt das Gerät am Bett, meldet das Bundesamt für Strahlenschutz.
Wir sagen der Welt auf Facebook Gute Nacht und erfahren beim Aufstehen, welche Krisen den Globus erschüttern; noch bevor wir aus dem Haus gehen, haben wir die erste E-Mail geschickt, abends vor dem Einschlafen beantworten wir die letzte. Längst haben sich unsere Kollegen und Kunden daran gewöhnt, dass wir sofort antworten, und wir werden ungeduldig, wenn sie es nicht ebenso halten. Unser Büro schließen wir morgens auf und abends ab – aber unser Job, der endet nie.
Wie sehr die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeitszeit in der modernen, mobilen Arbeitswelt verschwimmen, belegen Zahlen: Nach Angaben des Branchenverbands Bitkom erhält heute jeder vierte Beschäftigte ein Smartphone von seinem Arbeitgeber, und in der Regel kann er damit auch nach Dienstschluss mailen und telefonieren. Fast jeder fünfte Beschäftigte wiederum verwendet sein privates Smartphone für die Arbeit – vermutlich auch dann, wenn er auf dem Papier längst Feierabend hat.
Das ist gewollt: Laut Bitkom finden 71 Prozent der Arbeitgeber, dass ihre Mitarbeiter außerhalb der regulären Arbeitszeit erreichbar sein sollten. Und die meisten Beschäftigten erfüllen diese Erwartung bereitwillig: 78 Prozent der Berufstätigen sagen, sie seien nach Feierabend ansprechbar; 30 Prozent sogar „jederzeit“ und nur jeder fünfte lediglich in „Ausnahmefällen“.
Mails im Morgengrauen
Ich bin kein Ausnahmefall, denke ich, als ich im Haftelhof ankomme und mein Handy abschalte, sondern ziemlicher Durchschnitt. Mein Smartphone parke ich im Urlaub und nachts im Flugzeugmodus, jedenfalls meistens – aber abends und am Wochenende schreibe ich natürlich E-Mails und bin nicht überrascht, wenn ich von Kollegen schnell Antworten bekomme. Meine beruflichen Nachrichten lese ich genauso auf dem Handy wie meine privaten. Ich erhalte Push-Benachrichtigungen von Twitter und Facebook, mein Smartphone weckt mich und erinnert mich an Termine. Wenn ich ehrlich bin, schätze ich es, kommunizieren zu können, wann und wo ich will. Und wenn ich ganz ehrlich bin, fluche ich auch manchmal darüber.
Wie gefährlich das werden kann, erzählt mir Kateryna Kogan, eine PR- und Social-Media-Beraterin, die aus Köln zum Detox-Camp gefahren ist. 399 Euro kostet die Teilnahme an dem zweitägigen Seminar, im Mittelpunkt steht die digitale Entwöhnung. Gemeinsam werden Strategien entwickelt, wie man besser kommuniziert und wann man sein Telefon ausschalten sollte. Abends gibt es Bio-Wein, morgens Yoga und mittags besonders gesunde „Superfoods“. Seit Kateryna ihr Handy ausgeschaltet und bei Camp-Leiterin Uli abgegeben hat, musste sie mehrmals reflexhaft daran denken. Irgendwas hat sie daran erinnert, es wieder anzuschalten und nachzusehen, ob Freunde oder Auftraggeber ihr geschrieben haben. Auf einer Skala von eins bis zehn ordnet sie sich am oberen Ende ein: verdammt Smartphone- und Internet-abhängig.
Kateryna erzählt, wie sie manchmal nur ein paar Stunden schläft, weil sie bis tief in die Nacht online ist, bevor ihr kleiner Sohn sie im Morgengrauen weckt. Wie sie morgens noch vor dem Aufstehen E-Mails liest und gestresst darüber nachdenkt, während sie ihren Sohn zum Kindergarten bringt. Wie sie nur noch Urlaub in Hotels macht, die Internetzugang auf dem Zimmer anbieten – um auch dort erreichbar zu sein.
Kateryna ist zum „Digital Detox Camp“ gekommen, weil sie Schwierigkeiten bekommen hat, sich zu konzentrieren, weil sie immer erschöpfter und müder wurde. Wenn sie vor dem Bildschirm saß, um zu arbeiten, ließ sie sich oft ablenken. Zu Besuch bei einer Freundin wurde sie einmal richtig wütend – weil die das Passwort fürs WLAN vergessen hatte und Kateryna nicht ins Netz gehen konnte. Irgendwann bemerkte sie, dass sie zwar auf Facebook verfolgte, was andere Menschen permanent erleben – aber selbst kaum noch Zeit fand, ihren Hobbys nachzugehen. „Das belastet mich sehr“, sagt Kateryna, „und es muss sich wirklich ändern.“
Arbeiten über die Zeitzonen hinweg
Götz Mundle kennt diese Symptome, die im Extremfall ernste Erkrankungen auslösen können: sowohl psychische, wie Burn-outs und Depressionen, als auch körperliche, wie Bluthochdruck und Magen-Darm-Beschwerden. Mundle ist Psychiater und Psychotherapeut und in der Medizinischen Geschäftsleitung der Oberbergkliniken tätig, die sich auf Burn-outs, Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert haben. „Natürlich sind die modernen Kommunikationsmittel ein Riesen-Fortschritt“, sagt Mundle, „aber sie können dazu beitragen, dass wir unter Druck geraten, uns überfordert fühlen und chronischen Stress empfinden.“
So geht es offenbar immer mehr Menschen, die mobil arbeiten. Mundle hat beobachtet, dass sie in seinen Kliniken über die Arbeitsbedingungen in der digitalen Welt klagen: Beschäftigte aus der IT-Branche zum Beispiel, die parallel viele verschiedene Aufgaben erfüllen müssen; Führungskräfte, die mit Menschen in anderen Zeitzonen zusammenarbeiten und erst dann richtig aktiv werden können, wenn sie eigentlich schon Feierabend machen sollten.
Erschöpft und niedergeschlagen
Zahlen stützen Mundles Eindruck: In einer repräsentativen Umfrage für den Fehlzeiten-Report 2012 der AOK klagte jeder fünfte Befragte über Erschöpfung und darüber, in der Freizeit nicht abschalten zu können; jeder achte klagte über Kopfschmerzen, jeder zehnte über Niedergeschlagenheit. Häufiger betroffen waren dabei jene Beschäftigten, die an Sonn- und Feiertagen oder in den Abendstunden weiterarbeiten. „Früher hat die Arbeit uns schlimmstenfalls in Gedanken in den Feierabend verfolgt“, sagt Mediziner Mundle, „heute können wir sie ohne viel Aufwand über Smartphones und Tablets einfach mit nach Hause nehmen.“
Mundle glaubt, dass wir mit den modernen Kommunikationsmitteln anders umgehen müssen – damit wir lernen, offline zu gehen. Damit wir erkennen, dass das Leben nicht im Netz stattfindet, sondern um uns herum. Wie schwer das ist, hat er an sich selbst beobachtet: Seit er vor Jahren seinen ersten Blackberry anschaffte, hat er sein mobiles Büro immer in der Jackentasche dabei, erzählt der Mediziner. „Meine Erholungsphasen wurden immer kürzer, weil ich auch abends und am Wochenende kommuniziert habe“, sagt Mundle. Bis er beschloss, phasenweise bewusst offline zu gehen: „Ich will die Entscheidung, wann ich arbeite, selbst treffen und nicht meinem Smartphone überlassen.“
Wenn das Team aus den Latschen kippt
Diese Einstellung kann nicht nur uns selbst helfen, gesünder zu leben – sie nutzt auch unseren Arbeit- und Auftraggebern. Denn die profitieren nur auf den ersten Blick davon, dass wir jederzeit mit Kunden und Kollegen kommunizieren – langfristig macht sie das nicht unbedingt produktiver. Im Gegenteil: Laut dem Fehlzeiten-Report hat sich die Zahl der Krankheitsfälle aufgrund psychischer Beschwerden mehr als verdoppelt. Betroffene fehlen außerdem im Schnitt pro Krankheitsfall gleich 25 Tage – mehr als bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wer seine Beschäftigten also zum Abschalten ermutigt, hat langfristig mehr von ihnen.
Anitra Eggler hat das inzwischen erkannt – aber es hat gedauert. Die Wienerin hat seit 1998 verschiedene Unternehmen aufgebaut und Konzerne beim Start ins digitale Zeitalter beraten; lange Zeit schwärmte sie für die Möglichkeiten, die das Internet bot. Sie war immer erreichbar und arbeitete auch abends und am Wochenende weiter. Bis sie merkte, wie sie ihre Mitarbeiter damit ausbrannte, und die sich selbst bereitwillig versklavten: „Am Anfang steigert das die Produktivität pseudomäßig, aber irgendwann kippt dein Team dir aus den Latschen.“
Eggler zog einen Strich: Heute nennt sie sich „Digital-Therapeutin“, hält Vorträge und schreibt Bücher wie „Facebook macht blöd, blind und erfolglos“. Sie grenzt die Bearbeitung neuer Nachrichten auf feste E-Mail-Öffnungszeiten ein und geht gelegentlich auch länger ganz offline – dann ist sie produktiver und lässt sich nicht so schnell ablenken. „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht menschenverachtend von der Technologie treiben lassen“, sagt Eggler. „Nur weil ich rund um die Uhr erreichbar sein kann, bin ich noch lange kein Notarzt.“
Der Abwesenheitsassistent
Inzwischen berät Eggler Konzerne, die ihren Mitarbeitern beim Abschalten helfen wollen. Denn auch die ersten Unternehmen steuern gegen. Bei Volkswagen etwa setzte der Betriebsrat durch, dass nach Feierabend keine E-Mails mehr an die Smartphones von Mitarbeitern verschickt werden. Und Daimler sorgte in diesem Sommer für Schlagzeilen, als er für rund 100.000 Mitarbeiter in Deutschland den Abwesenheitsassistenten „Mail on Holiday“ einführte: Ist der im Urlaub eingeschaltet, löscht er eingehende E-Mails automatisch und informiert die Absender über eine Vertretung. Das soll nicht nur verhindern, dass Mitarbeiter im Urlaub E-Mails beantworten, sondern auch, dass sie zurückkommen und ein überquellendes Postfach vorfinden. Daimler verspricht sich davon eine „emotionale Entlastung“ seiner Beschäftigten.
Selbst Grenzen ziehen
Andere Unternehmen erkennen zwar die Probleme, überlassen die Lösung aber den Mitarbeitern selbst. Bei Microsoft etwa dürfe jeder selbst entscheiden, wann und wo er arbeite, erläutert Personalchefin Elke Frank. Allerdings bedeute das nicht, dass man sieben Tage die Woche „always on“ sein müsse. Das Unternehmen hat einen „How-to-Guide“ aufgestellt, Regel Eins für Beschäftigte lautet: „Nach Feierabend abschalten“. Die Empfehlung betont, dass Kollegen und Vorgesetzte Feierabend, Wochenende und Urlaube respektieren sollten, nimmt aber auch die Mitarbeiter in die Pflicht: „Wer keine klaren Grenzen setzt, darf sich nicht wundern, wenn die Kollegen auf Freizeit oder Krankheit keine Rücksicht nehmen.“
Personalchefin Frank versucht, danach zu leben: Sie lese ihre ersten E-Mails schon kurz nach dem Aufstehen, um sich über die Ereignisse in den USA zu informieren – beim Sport und am Wochenende schalte sie aber durchaus ab. „Der Trend zum flexiblen Arbeiten bietet so viele Vorteile“, sagt Frank, „die Nachteile beschränken sich auf Einzelfälle.“
Noch weniger konkret sind die Empfehlungen bei SAP. Auch der Software-Konzern ermöglicht es seinen Mitarbeitern, ihre Arbeit „zeitlich und örtlich frei“ zu gestalten, und betont, dass niemand verpflichtet sei, im Urlaub dienstliche Telefonate zu führen oder E-Mails zu lesen. Verboten ist es aber auch nicht. Stattdessen ermutige man Mitarbeiter und Führungskräfte zu einem „klugen Umgang“ und hat eine Arbeitsgruppe gebildet, die den „gestaltenden Umgang“ noch besser fördern soll. Wie genau, das lässt SAP offen.
„Bis Montag muss das fertig sein“
Bei KPMG setzt man auf die Achtsamkeit der Beschäftigten. Das Beratungsunternehmen stattet alle Mitarbeiter „auf eigenen Wunsch“ mit einem Smartphone aus, das auch für private Zwecke genutzt werden kann – und zwar auch deswegen, weil das heute der „Erwartungshaltung“ entspricht. Führungskräfte und Mitarbeiter sollen selbst erkennen, wo sie Grenzen ziehen sollten. Dazu würden sie sensibilisiert und „im achtsamen Umgang mit der mobilen Erreichbarkeit“ geschult, damit die „Vorteile der mobilen Arbeitsmöglichkeiten“ überwiegen.
So richtig glücklich scheinen die Mitarbeiter damit nicht, wie die Arbeitgeber-Bewertungsplattform Kununu belegt. Hier erhält KPMG seine schlechteste Note im Bereich „Work-Life-Balance“, Mitarbeiter hinterlassen Kommentare wie: „Kaum berechenbare Arbeitszeiten“ oder „Gerne auch Anrufe Freitag Nachmittag / Abend: bis Montag muss das und das fertig sein.“
Die Beispiele zeigen: Klare Empfehlungen für das mobile Arbeiten sind noch die Ausnahme. Das bestätigen Zahlen des Bitkom: In 62 Prozent der Unternehmen gibt es keine Regeln für die „Erreichbarkeit von Berufstätigen“. Nur jeder fünfte Arbeitgeber trifft mündliche Absprachen, nur jeder zehnte hält in Arbeitsverträgen oder Betriebsvereinbarungen schriftlich fest, wann man erreichbar sein sollte.
Zu wenig, findet Andrea Nahles. Die Bundesarbeitsministerin hat eine „Anti-Stress-Verordnung“ angekündigt, die Stress am Arbeitsplatz bekämpfen soll – weil es „unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von psychischen Erkrankungen“ gebe, ist die Politikern überzeugt.
Im Urlaub erreichbar?
Ein Gesetz, dass die Erreichbarkeit von Arbeitnehmern regelt – brauchen wir das wirklich? Können Arbeitgeber und Beschäftigte das nicht gemeinsam klären? Auf der Suche nach Antworten besuche ich einen Ort, an dem Personaler ein- und ausgehen und über mobiles Arbeiten, E-Learning und Online-Recruiting fachsimpeln: Die „Zukunft Personal“ – Europas größte Fachmesse für Personalmanagement. Anders als auf dem Haftelhof hat hier jeder sein Smartphone griffbereit, während er durch die Messehallen hetzt.
David Vitrano, ein Mann im Anzug, erzählt mir, dass er nach eigenen Worten eine „sehr hohe digitale Verfügbarkeit“ mitbringe – ohne dass das vom Arbeitgeber eingefordert werde. Natürlich schalte er sich bei wichtigen Projekten auch im Urlaub ein. Vitrano ist Marketingleiter E-Recruiting beim Business-Netzwerk Xing, das seine Mitarbeiter ebenfalls mit Smartphones oder Tablets ausstattet. Als Belastung empfindet er das nicht: Jeder könne schließlich selbst entscheiden, wie er damit umgeht.
Nur hinter vorgehaltener Hand sprechen einige Stand-Mitarbeiter anderer Unternehmen über Probleme. „Ich habe mein Handy seit acht Wochen nicht ausgeschaltet“, sagt eine Frau, die ihren Namen lieber nicht gedruckt lesen will, „der Chef erwartet, dass er mich anrufen kann.“ Ihre Kollegin berichtet, dass ihr Smartphone im Urlaub geklaut wurde. Erst habe sie sich geärgert – „aber dann habe ich die Zeit ohne Internet richtig genossen.“
In Halle 2.1 dreht sich zwar alles um berufliches Gesundheitsmanagement, von „Digital Detox“ hat aber noch niemand etwas gehört. Stattdessen stehen hier Fitnessgeräte, die über Touchscreen und Internet-Verbindung verfügen – „damit können sie auch dann produktiv sein, wenn sie gerade trainieren“, erläutert eine Vertreterin freundlich.
„Alles eine Frage der Eigenverant-wortung“
Eine Halle weiter, im „FutureLAB“, steht Birgit Gebhardt. Sie ist Trendexpertin und spricht vor Männern und Frauen in dunklen Anzügen über die „New Work Order“ und „Wege zu einer neuen Arbeitskultur“. Sie beschwört die Chancen, die das Internet bietet, weil es Hierarchien überbrückt, Kulturen und Inhalte vernetzt. Sie erklärt, dass es in der Wirtschaft in Zukunft noch mehr um Schnelligkeit gehen wird und um globales Denken. Sie beschreibt, dass Arbeit heute auch zuhause stattfinden kann oder im Zug oder in der Hotellobby, „wo niemand Platzhirschvorteile hat“; sie ist überzeugt, dass Chats und virtuelle Tools dabei hilfreich sind. Und stellt dann die Frage, ob „unsere Mitarbeiter qualifiziert sind, in der digitalen Welt Herr der Lage zu sein“, ob sie wirklich auf den Wandel vorbereitet sind, ob sie das können, „was die Kunden wollen.“ Es klingt wie ein Vorwurf.
Als ich Birgit Gebhardt nach ihrem Vortrag auf „Digital Detox“ anspreche, verdunkeln sich ihre Gesichtszüge und sie wird einsilbig. Für sie ist das Thema ein „Aufschrei der Überforderung“: Die Menschen seien selbst schuld, wenn sie Freiheiten nicht als Freiheiten begreifen, sondern sich ausbeuten, sagt die Zukunftsforscherin. Es sei typisch deutsch, nur die Gefahren und Risiken zu sehen; das negative Gestöhne nerve total, so kriege man keinen Wandel hin. Die Medien, ist Gebhardt überzeugt und schaut mich direkt an, tragen eine Mitschuld daran.
„Digital Detox“ – mehr als ein Hype
Tatsächlich stürzen sich die Medien auf das Thema „Digital Detox“: Beim zweitägigen Camp auf dem Haftelhof sind fast so viele Journalisten wie Teilnehmer zu Besuch. Ein Autor von der WELT, ein Fernsehteam vom SWR und eine Reporterin von der Rhein-Zeitung schauen vorbei; weitere Medien haben Interesse angemeldet, berichtet Initiatorin Ulrike Stöckle, die den Journalisten am Ende des Camps noch ein paar Flyer für ihre Redaktionskollegen in die Hand drückt.
Trotzdem ist „Digital Detox“ mehr als ein Medien-Phänomen. Es könnte den Menschen helfen, besser mit den Errungenschaften des Internets und der mobilen Arbeitswelt umzugehen. Es hilft dabei, den eigenen Umgang mit dem Smartphone zu hinterfragen. Es macht klar, dass Kommunikation immer zweiseitig ist: Wer nachts E-Mails und SMS schreibt, belastet womöglich nicht nur sich selbst, sondern setzt auch seine Kollegen unter Druck.
Kateryna Kogan hat ein paar Tipps mitgenommen vom Camp: Ihr Smartphone will sie nicht mehr mit ins Schlafzimmer nehmen; sie will Freunde lieber anrufen oder treffen, statt ihnen stundenlang auf Facebook zuzusehen; sie will mal abschalten, wenn sie konzentriert Dinge zu Ende bringen muss; sie will Kundenanfragen nicht jederzeit binnen Sekunden beantworten. „Am Wochenende habe ich geübt, mein Telefon außer Sichtweite abzulegen“, schreibt sie in einer E-Mail kurz nach dem Seminar, „das funktioniert bis jetzt ganz gut :)“.
Ich habe mal meine Empfindungen bei einer erzwungenen Abstinenz (vom Smartphone) verbloggt
http://e-allerdings.com/tagebuch-des-horrors-smartphone/
Oh je, wenn jemand erst einen Workshop braucht um offline zu gehen, dann ist es wahrscheinlich schon zu spät. Den Veranstalter freut es: er kann an diesem Luxusproblem noch verdienen.