Kolumne von Sascha Lobo und Kathrin Passig: Digitale Manieren
Ab dann geht alles so weiter wie bisher, der Untergang des Abendlandes und seiner sozialen Sitten wird prophezeit, und zwar voraussichtlich, weil man a) auf dem Bürgersteig von vertieft tippenden Gestalten angerempelt wird, b) alle Menschen häufiger in Hundekot treten und c) Geschäftspartner und Dates im Restaurant alle zwei Minuten ihr Handy aufklappen, um nur mal eben kurz nachzusehen, was im Internet so passiert. Die Bahn wird Abteile einführen, in denen Handys nicht einmal betrachtet werden dürfen und das öffentlich-rechtliche Fernsehen beschäftigt sich in Magazinsendungen mit den Gesundheitsgefährdungen durch das Tippen auf winzigen Tastaturen. So weit, so vorhersehbar.
Das kurze Zeitfenster zwischen den beiden Klagemoden können wir zu einer vom Kulturpessimismus unverseuchten Betrachtung der neuen Handygebrauchspraktiken und der Fragen, die sie aufwerfen, nutzen. Natürlich war es noch nie so richtig uneingeschränkt in Ordnung, auf dem Klo zu telefonieren – egal, ob man dabei die Spülung betätigt oder nicht. Aber ist es höflich oder komplett bescheuert, in netzverständnisloser Gesellschaft die Toilette aufzusuchen, um dort kurz das Allernötigste zu twittern? Und was sollen die Gastgeber denken, wenn das nun mal alle sieben bis acht Minuten nötig ist? In internetaffineren Kreisen stellt sich stattdessen die Frage, ob alle Menschen am Tisch gleichzeitig nach ihren Handys greifen dürfen, oder ob man sich besser abwechselnd aus der Livekonversation ausklinkt. Gibt es eine Obergrenze, sagen wir, 50 Prozent der Anwesenden, bei deren Erreichen man erst das Freiwerden eines Handybetrachteslots abwarten muss? Darf man in Gesellschaft nur echten Online-Obsessionen nachgeben oder auch konversatorische Flauten durch Feedreader-Lektüre zu überbrücken versuchen?
In vielen Gesellschaften gilt es als legitimes Sozialverhalten, einen Freund aufzusuchen, um dann schweigend beim Tee zu sitzen und nur alle paar Stunden „Schau, da geht die Katze deines Nachbarn“ zu sagen. Möglich, dass in dieser Richtung auch die Zukunft des handygestützten Kommunikationsgebarens zu suchen ist. Das meiste, was so am Kneipentisch geredet wird, könnte schließlich ebensogut ungesagt bleiben. Oder eben stattdessen irgendwo ins Internet geschrieben werden, wo die übrigen Anwesenden es immer noch nachlesen können, wenn gerade keine Katze vorbeigeht. So würden sich die Manieren der Kohlenstoffwelt den digitalen Manieren anpassen, denn weshalb man gerade ein paar Minuten nicht miteinander spricht, ob aus Trübsal, aus kulturell bedingter Schweigsamkeit oder aus intensiver Beschäftigung mit dem Getwitter über das derzeit angesagte Erdbeben, das ist letztlich gar nicht so wichtig.
Ich hatte einigen Spaß, mal wieder etwas Sprache genießen zu können, die den geübten Umgang mit dieser bei Produzent und Rezipient voraussetzt.
Die textabgebende Zellhaufen (aus Sicht der Naniten: wassergefüllte Beutel) lassen für meinen Geschmack eine entscheidende die Manieren betreffende Frage aus: Sollte man in der konkreten Situation mit konkreten Menschen nicht deren vielleicht vorhandenen Wunsch nach ungestörter gemeinsamer offline-Kommunikation gleichberechtigt zum hoffentlich kontrollierbaren Drang nach online-Kommunikation behandeln? Bedeutet Kommunikation nicht auch, sich auf temporäre oder dauerhafte Regeln zu einigen statt autistisch sein Ding zu machen?
Mir ist aus der Psychologie noch der Satz „Überladung an Eindrücken“ ein Begriff, und es geht meines erachtens weniger darum, die medien per-se als schlecht oder gut dar zu stellen, vielmehr gehört beim Umgang mit Derselbigen eine gewisse Selbsteinschätzung sowie soziales Gebaren zur Grundhaltung.