So funktioniert die Distributed Company

Immer und überall arbeiten können – was in der Startup-Szene zur hohen Kunst des Gründerseins dazugehört, verliert bei den deutschen Arbeitnehmern und -gebern an Attraktivität, so eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Gleichzeitig arbeiten die Mitarbeiter etablierter amerikanischer Technologieunternehmen verteilt über ganze Kontinente oder gar den Globus – und das mit Erfolg. Dafür bekannte Firmen wie Basecamp, bislang bekannt als 37signals, oder Automattic Inc., das Unternehmen hinter WordPress, zelebrieren diese „Distributed Companies“ sogar in Büchern wie „Rework“ (Jason Fried und David Heinemeier Hansson) oder „The year without pants“ (Scott Berkun, ehemals Automattic) als die Zukunft der Arbeit. Dank Globalisierung, Digitalisierung und der steigenden Bedeutung der Wissensarbeit gibt es tatsächlich mehr und mehr Unternehmen, deren Mannschaften dezentral arbeiten. Oft stehen solche Unternehmen hinter so bekannten Software- und Web-Service-Produkten wie GitHub, Mozilla und MySQL.
Wer sind die Distributed Companies?
Ein Blick auf das Geschäftsmodell und die Unternehmensstruktur der Distributed Companies reicht, um ein Gespür dafür zu bekommen, warum ihnen das verteilte Arbeiten so viel bedeutet: Es handelt sich hierbei in erster Linie um relativ junge Technologiedienstleister und -entwickler, die mit ihren Software-as-a-Service(SaaS)-Produkten – oft auf Open-Source-Basis – die Organisation von Teamarbeit, Produktivität und Kommunikation unterstützten. Wer anderen die Infrastruktur für virtuelles Arbeiten anbietet, der tut gut daran selbst das Organisationsmodell der Distributed Company zu wählen – schließlich zeigt man damit, dass man die dezentrale, webbasierte Organisation von Arbeit ernst nimmt.

Egal wo, immer erreichbar. (Quelle: photocase)
Ihre interne und externe Zusammenarbeit haben diese Unternehmen oft schon als junge Startups in Netzwerkstrukturen und mit agilen Entwicklungs- und Managementmethoden organisiert. Meist arbeiten hier bis maximal 100 Mitarbeiter – Automattic ist mit 220 Mitarbeitern ein Ausreißer nach oben. Zwar hat Deutschland bisher noch kein prominentes Beispiel zu bieten. Dennoch findet man auch hierzulande viele kleine Unternehmen dieser Art – meist mit oft weniger als 10 Mitarbeitern.
Das mag an der europäischen Geografie und der dadurch höheren Mobilität liegen. Nichts desto trotz vereint sie alle eines: Sie sind innovativ und müssen es auch bleiben, um am Markt bestehen zu können. Die Grundlage ihres Erfolgs ist, dass sie die besten Köpfe hoch motiviert und engagiert an ihr Unternehmen binden können. Kein Wunder, dass sie von einer „artgerechten“ Organisation der komplexen, digitalen Wissensarbeit profitieren, mit der sie ihre Antwort auf die Globalisierung und der damit komplexer werdenden Arbeitsmärkte gefunden haben.
In einer „Distributed Company“ wird global rekrutiert
Doch die Organisationsform der Distributed Companies ist keineswegs ein reiner Selbstzweck. Sie hat auch handfeste Vorteile. Einer der dringlichsten Gründe in Zeiten schwer zu findender, hoch qualifizierter Wissensarbeiter ist das Recruiting. Für viele Unternehmen ist dabei der Standort ihres Hauptquartiers die größte Herausforderung. Nicht jeder potenzielle Mitarbeiter will oder kann in die Gegend der zentralen Firmenniederlassung ziehen. Das gilt nicht ein mal für Kalifornien, die Hochburg des Internet-Business, obwohl es ein Magnet für talentierte Webentwickler aus aller Welt ist.
Anstatt also neue Mitarbeiter zum Firmenhauptsitz zu zitieren, lassen Distributed Companies ihre Angestellten in ihrer Heimat. Dort arbeiten diese in lokalen Gemeinschaftsbüros, Coworking Spaces oder im Home Office. Das hat mehrere Vorteile: Erstens entlastet dies das Unternehmen bei den Fixkosten, wie Miete und ähnliches. Zweitens entsteht dadurch eine weltweite Vernetzung in die lokalen Entwickler- und Nutzergemeinschaften hinein. Drittens – und dies ist beim internationalen „War of Talents“ ebenfalls immer wichtiger – können die raren, hochqualifizierten Wissensarbeiter auch die Rahmenbedingungen ihres Jobs mitgestalten.
In einer Distributed Company haben sie bei der Gestaltung des Umfeldes, der Schnittstellen zu Kollegen, der Arbeitszeit und der Wahl des Arbeitsortes schlicht mehr Mitspracherecht. Eine alternative, antihierarchische, fluide Organisationsform signalisiert potenziellen Mitarbeitern: „Wir sind offen und beschreiten neue Wege“. Und das kann zu einem echten Wettbewerbsvorteil werden gegenüber den Campus-Arbeitsgebern mit Anwesenheitspflicht und gefühlt engem Regelkorsett.
Innovationskiller Home Office?
Doch es gibt auch Kritik. Immer mehr Unternehmen winken bei den Heilsversprechen der Distributed Companies nur noch genervt ab: Eine rein virtuelle Zusammenarbeit bietet ihrer Meinung nach nicht genug Boden für die Führung, ein gutes Innovationsklima und die dazu notwendige Team-Arbeit – samt ungeplantem Einander-über-die-Schulter-Schauen und gemeinsamen, abendlichen Kneipenbesuchen.
Prominentestes Beispiel dafür ist Yahoo. Seit über einem Jahr gibt es in dem Unternehmen eine Anwesenheitspflicht. Als Begründung führt die Personaldirektorin Jackie Reses in ihrem mittlerweile berüchtigten Memo vom Februar 2013 an, dass Geschwindigkeit und Qualität der Arbeit im Home Office leiden würden. Eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit seien zudem grundlegend für den Erfolg des Unternehmens. Und die gebe es nur, wenn alle Mitarbeiter Seite an Seite arbeiteten.
Marissa Mayer, CEO von Yahoo, entschied daher alle Mitarbeiter ausnahmslos zurück ins Hauptquartier zu beordern – und löste damit eine weltweite, branchenübergreifende Diskussion aus. Weitere Manager aus anderen Unternehmen meldeten sich zu Wort und machten sich Gedanken: Wo sich Home-Office-Mitarbeiter der Kontrolle entzögen, so ihre Bedenken, mache sich alsbald der Schlendrian breit – mit zwangsläufig verheerenden Konsequenz für das Unternehmen.

Gute Unternehmen haben einen Standpunkt – aber nicht zwangsläufig einen einzigen Standort, meint Unternehmer und Buchautor Jason Fried von Basecamp.
Distributed Company: Innovationsbeschleuniger Kommunikation
Während die meisten Personaler die von den Managern geäußerten Bedenken nicht teilen – sie bestätigen vielmehr, dass Mitarbeiter in ihren Home Offices konzentrierter und dadurch produktiver arbeiten –, liegt die eigentliche Herausforderung dieser Unternehmen auf einer grundsätzlicheren Ebene: Der Kommunikation. Denn die für viele Unternehmen dringend notwendige Innovationskultur entsteht immer nur durch den Austausch zwischen Menschen, wie Marissa Mayer von Yahoo richtig bemerkte.
Die Lösung ist jedoch nicht zwangsläufig die Präsenzpflicht, sondern die richtige Struktur. Denn gibt es während der einsamen Arbeitsstunden im Home Office keine Mechanismen und keine Infrastruktur, um den freien und zufälligen Wissensfluss zu gewährleisten, wird verteiltes Arbeiten – und mag es noch so produktiv sein – tatsächlich zum Innovationskiller. Für ein Unternehmen wie Yahoo verständlicherweise eine kritische Angelegenheit.
Deshalb gilt – ob Distributed Company oder Firma mit Anwesensheitspflicht: Wessen unternehmerischer Erfolg von diesem Wissensaustausch abhängt, braucht eine Kommunikationskultur und -struktur, die sehr anpassungsfähig ist und zugleich Komplexität reduziert. Distributed Companies, die in dieser Hinsicht offensichtlich nicht auf eine informelle Kommunikation wie dem Flurfunk bauen können, pflegen statt dessen eine umso klarer festgelegte und ausnahmslos technikbasierte Kommunikationsstruktur. Sie fordern und fördern den routinierten und natürlichen Umgang ihrer Mitarbeiter mit diesen Technologien – und dem was dies impliziert: Selbst-Management, Kollaboration, Transparenz und Offenheit.

Scott Berkun, ehemals Automattic, glaubt an die Effektivität verteilter Teams. Wie das bei Automattic funktioniert, beschreibt er in dem Buch „The year without pants“.
Richtige Regeln versus fluffigem Flurfunk
Entscheidend für einen freien Wissensfluss und eine gute Kommunikation im Team ist die richtige Wahl der Tools. Hierbei gilt der gute alte Designleitsatz „form follows function“. Distributed Companies sollten daher zunächst die relevanten Kommunikationskategorien festlegen und erst dann die passenden, technischen Hilfsmittel mit ihren Funktionen auswählen und zuordnen.
Je nach dem, ob es um ein Vier-Augen-Gespräch (One-On-One), eine Gruppenkommunikation, einen synchronen oder asynchronen, vertraulichen oder öffentlichen, internen oder externen Informationsaustausch geht, kommen unterschiedliche Hilfsmittel infrage: Von File-Sharing-Software über Text- und Video-Chats, Termin-Koordinationsplattformen und Diskussionsforen bis hin zu einem übergeordneten Projekt-Management-Tool.
Deutlich wichtiger jedoch als die Wahl der Tools sind die grundsätzlichen Regeln des Informationsaustauschs. Dazu gehört zunächst die exzessive, oft redundante Kommunikation, die Missverständnisse oder Wissenslücken vorbeugt oder ausräumt. Zunächst lustig wirkende Verhaltensweisen gehören genauso auf die Regelliste, wie das bei Automattic zum Beispiel der Fall ist: Bei Videokonferenzen müssen sich die Mitarbeiter im Hauptsitz auf verschiedene Räume verteilen, dürfen also nicht gemeinsam vor einer Kamera sitzen, damit kein Ungleichgewicht im Gespräch entsteht und sich die verteilt arbeitenden Mitarbeiter nicht fern und alleine fühlen.
Außerdem sollte man vor allem bei einer asynchronen Kommunikation die Reaktionszeiten auf Anfragen festlegen, um ärgerliche Wartezeiten und Frust zu verhindern. Alle Gespräche und Meetings sollten die Teilnehmer zudem ausnahmslos protokollieren, veröffentlichen und zugänglich archivieren. Absolut erfolgskritisch ist jedoch eine Regel, die für Gründer mit viel Verve und wenig durchdachter Struktur am schwierigsten einzuhalten ist: Das ausnahmslose Einhalten aller aufgestellten Regeln. Denn der Erfolg der verteilten Zusammenarbeit kommt nicht von alleine. Alle müssen permanent mit gutem Beispiel vorangehen.
Fazit: Professionalisierung katalysieren
Ob klassisches Unternehmen oder Distributed Company – der Erfolg eines Unternehmens hängt ursächlich von einer guten Kommunikations- und Kollaborationskultur und -struktur ab. Dabei gilt bei Distributed Companies, was auch bei anderen Unternehmen selbstverständlich sein sollte: Die Einteilung der Arbeit in kreative Phasen der Kommunikation und längere produktive Phasen der Konzentration.
Dabei gestalten alle Mitarbeiter zunächst gemeinsam die Ziele, Aufgabenpakete, Interdependenzen, Ergebnisse und Prozesse. Erst danach arbeiten sie für einen längeren Zeitraum die festgelegte Roadmap
ab – ohne Störung und dennoch im Einklang mit den Kollegen. Ob dies im Home Office oder in gemeinsamen Räumen geschieht, spielt bei der richtigen Infrastruktur eine untergeordnete Rolle.
Doch Unternehmen, die ihre Kultur von Anfang an auf Wissensaustausch, Kommunikation und Kooperation aufbauen und diese durch eine Struktur aus geeigneten Mechanismen und Prozessen untermauern, gewinnen auch noch einen weiteren Wettbewerbsvorteil: Startups mit einem derartigen Organisationsmodell haben gute Chancen ihren Startup-Spirit, ihre offene Kultur und die Agilität ihres Netzwerkes auch bei starken Wachstumsphasen zu bewahren.
Das Buch zum Artikel: New Business Order – Wie Startups Wirtschaft und Gesellschaft verändern. |
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