E-Health: Wie weit wir mit der Digitalisierung wirklich sind

Elektronische Patientenakte, Impfnachweis, E-Rezept. Die Digitalisierung der Gesundheitsbranche nimmt nach vielen schleppenden Jahren endlich Fahrt auf. Doch sind Ärzt:innen, Patient:innen und nicht zuletzt die Apotheken dafür bereit? [tableofcontents] Wer einen Schnupfen hat und krankgeschrieben werden möchte, muss mit einer Ärzt:in sprechen. Klar. Also das Smartphone geschnappt, online schnell einen Termin bei der Hausärztin geklickt und kurz danach ab in die Videosprechstunde. Die Ärztin stellt die elektronische Krankmeldung und ein E-Rezept aus und trägt alles in die elektronische Patientenakte ein. Statt jetzt zur Apotheke zu laufen, suchen wir uns in der E-Rezept-App eine Apotheke um die Ecke aus und lassen uns das Medikament liefern. Während wir auf die Medizin warten, laden wir die Krankschreibung beim Arbeitgeber hoch, die Krankenkasse hat die Daten schon dank der elektronischen Patientenakte. Noch klingt das wie Zukunftsmusik. Doch es tut sich etwas: Seit Anfang des Jahres 2021 gibt es die elektronische Patientenakte, seit Juli das E-Rezept; es werden neue Gesundheitsangebote und sogar Weltneuheiten wie „Apps auf Rezept“ entwickelt. Die Pandemie hat gerade der Gesundheitsbranche die Vorteile vieler Digitalisierungsprozesse aufgezeigt. [crosslinks ids="1306459,1357043,1401066"] „In den vergangenen 18 Monaten haben wir in Deutschland große Fortschritte gemacht“, sagt David Meinertz, Gründer und CEO von Zava, einem der größten Anbieter für Telemedizin. Viele Ärzt:innen, Patient:innen und auch die Krankenversicherungen hätten verstanden, wie wichtig die Digitalisierung sei. Meinertz zeigt sich überzeugt, dass sich die Nachfrage nach digitalen Leistungen für Patient:innen drastisch erhöhen und immer mehr niedergelassene Ärzt:innen entsprechende Dienste anbieten werden. Für Deutschland klingt das revolutionär, denn noch 2018 hat der Digital Health Index der Bertelsmann-Stiftung festgestellt, dass in Deutschland zwar die ersten Ansätze und Rahmenbedingungen für die Digitalisierung in der Gesundheitsbranche zu finden sind, aber man gerade im internationalen Vergleich immer noch weit abgeschlagen ist. Von damals 17 untersuchten Ländern landete Deutschland auf Platz 16. Und so wundert es auch nicht, dass 2021 zwar Onlinebanking per Smartphone möglich ist und der gute alte Überweisungsträger aus Papier langsam ausstirbt, niedergelassene Ärzt:innen laut dem McKinsey E-Health Monitor 2020 mit Kliniken aber noch immer zu 93 Prozent in Papierform kommunizieren. Auch Impfpässe, Patientenakten, Überweisungen, Krankschreibungen und Rezepte werden weiterhin auf tote Bäume gedruckt. Dabei klingt alles doch so einfach: Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen speichern Daten nicht mehr allein in ihren jeweiligen Computersystemen, sondern zentral in einer elektronischen Akte. Zugriff auf die Daten haben nur die Versicherten, die auch bestimmen, wem sie welche Daten weitergeben wollen – zum Beispiel ein Röntgenbild aus dem Krankenhaus an die Hausärzt:in. Die elektronische Patientenakte kann außerdem Medikamentenpläne anzeigen, Empfehlungen für Impfungen geben und auf sinnvolle Vorsorgeuntersuchungen hinweisen. Nach einer Testphase ist die E-Akte seit dem 1. Juli 2021 verfügbar. Rund 73 Millionen gesetzlich Versicherte in Deutschland haben bereits Zugriff darauf. Doch nur etwa 180.000 Versicherte haben ihre Patientenakte bisher eingerichtet, und in vielen Arztpraxen fehlt noch die technische Infrastruktur, um auf die Akte zuzugreifen oder darin Daten abzulegen. Privatversicherte müssen sogar noch bis voraussichtlich Januar 2022 auf die elektronische Patientenakte warten. Behandlung per Videochat und App auf Rezept Wie der Gesetzgeber dem digitalen Wandel im Weg stehen kann, zeigt das Beispiel Telemedizin. Bis Mitte 2018 war es Ärzt:innen durch das Fernbehandlungsverbot schlichtweg nicht erlaubt, per Videotelefonie Sprechstunden anzubieten. Eine repräsentative Umfrage der Stiftung Gesundheit vom Juli 2020 kommt zu dem Ergebnis, dass inzwischen bereits rund die Hälfte der befragten Ärzt:innen Videosprechstunden angeboten haben. David Meinertz ging bei der Gründung des Telemedizinanbieters Zava davon aus, dass von durchschnittlich zehn Arztbesuchen im Jahr zwei bis drei online stattfinden könnten. „Inzwischen sind wir, auch durch die Pandemie, bei vier bis fünf Arztbesuchen pro Jahr, die ohne das klassische Gespräch vor Ort stattfinden. In den nächsten zwei bis drei Jahren rechnen wir damit, dass die Hälfte aller Arztbesuche online stattfindet. Dabei wird der Videochat die Hausärzt:innen vor Ort nicht ersetzen und auch nicht für jede Behandlung möglich sein, schließlich müssen Ärzt:innen ihre Patient:innen oft auch abtasten oder abhören können. Doch wer nur ein Nachfolgerezept benötigt oder eine leichtere Erkrankung hat, muss in Zukunft nicht erst telefonisch einen Termin ausmachen, dann im Wartezimmer sitzen und schließlich vor Ort mit der Ärzt:in sprechen. „Durch die Telemedizin wird es vermehrt hybride Praxen geben, das wird sogar zum Standard werden“, ist sich Nina Buschek sicher. Sie ist Ärztin und Chefredakteurin des Digital Ratgebers. „Wichtig ist aber, dass die Grundversorgung vor Ort bestehen bleibt.“ Während Deutschland bei der Telemedizin lange auf der Bremse stand, ist man in einem anderen Gebiet sogar Vorreiter: die App auf Rezept. Seit Ende 2019 dürfen Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen Apps verschreiben. Natürlich nicht jede Anwendung, sondern nur vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüfte und zugelassene Apps, sogenannte Diga, digitale Gesundheitsanwendungen. Die Kosten tragen die Krankenkassen. Beispiele sind Apps für Diabetiker mit Tagebuchfunktion, die Insulinwerte von externen Geräten automatisch auslesen, oder auch Apps für die Erfassung von Depressionen oder zur Therapie von Tinnitus. Eine Liste aller zugelassenen Apps ist auf der Website vom BfArM zu finden. Rezept aufs Smartphone Fast fertig und in der Testphase ist das E-Rezept. Ab Januar 2022 müssen alle Akteure wie Arztpraxen und Apotheken es unterstützen, bis dahin werden die E-Rezept-App und die dahinterliegenden Systeme in der Fokusregion Berlin-Brandenburg getestet. Wie bei der elektronischen Patientenakte gilt: Ein Smartphone ist beim E-Rezept von Vorteil, aber keine Pflicht. Statt des bekannten klassischen Papierrezeptes erhalten Patient:innen von ihrer Ärzt:in das E-Rezept in eine gleichnamige App auf dem Smartphone übertragen – ortsunabhängig, also auch für Videosprechstunden geeignet. Ist kein Smartphone vorhanden, gibt es einen Ausdruck mit allen wichtigen Daten und einem QR-Code für die Patient:innen. Ohne Smartphone und App gehen aber die Vorteile des E-Rezepts verloren. Unter anderem kann man sich in der App direkt anzeigen lassen, welche Apotheken in der Nähe die Medikamente vorrätig haben – und sie dort umgehend mit wenigen Klicks reservieren, selbst abholen oder eine Lieferung in Auftrag geben. Patient:innen sparen also Zeit und Wege. Erstellt werden die Infrastruktur und die offizielle App von der Firma Gematik, die bereits die elektronische Gesundheitskarte entwickelt hat. Die Rezeptdaten werden auf einem zentralen Server gespeichert und können von Ärzt:innen und Apotheker:innen abgerufen werden. Selbst einsehen können Patient:innen das digitale Rezept nur in der kostenlosen Gematik-App. Für die Zukunft ist geplant, deren Funktionsumfang auch um einen digitalen Medikamentenplaner zu erweitern, der zum Beispiel Wechselwirkungen von verschriebenen Medikamenten automatisch erkennen und berücksichtigen kann – sehr praktisch für Menschen, die häufig und viele Medikamente einnehmen müssen. Neben dem E-Rezept sollen schrittweise auch weitere Leistungen elektronisch verordnet werden können – zum Beispiel Physiotherapie. Nina Buschek sieht nicht nur für die Patient:innen Vorteile durch das E-Rezept, auch Arztpraxen und Apotheken würden profitieren. „Ärzt:innen ersparen sich einiges an Bürokratie in der Rezeptverwaltung – ähnlich wie die Apotheken. Das Papierrezept durchläuft viele Stufen und Wege. Die Apotheken bewahren die Rezepte auf, dann werden sie erst in die Abrechnungsstelle geschickt, digitalisiert und weiter zur Krankenkasse transportiert. Da sind Lkw-Ladungen Papier unterwegs. Das kann man alles verkürzen und sich teilweise sparen.“ Doch es gibt noch eine weitere Gruppe, die sich sehr auf die flächendeckende Einführung des E-Rezepts freut und große Hoffnung damit verbindet: die Versandapotheken. Von der Apotheke zur Plattform Versandapotheken wie Docmorris oder Shop Apotheke haben bisher nämlich ein großes Problem: Rezeptfreie Medikamente können ohne großen Aufwand von Kund:innen online bestellt – und im Anschluss verschickt werden. Bei rezeptpflichtigen Medikamenten muss das Papierrezept im Vorfeld per Post an die Versandapotheke geschickt werden. Das ist nicht nur aufwendiger als der Gang zur Apotheke um die Ecke, es dauert auch deutlich länger. Mit dem E-Rezept können Patient:innen ihr digitales Rezept per App mit wenigen Klicks und in wenigen Sekunden übermitteln, egal, ob zur Versand- oder zur stationären Apotheke. Diese Neuerung nimmt man bei Docmorris zum Anlass für eine Neupositionierung: Die Marke gehört der Schweizer Zur Rose Group und ist die umsatzstärkste Versandapotheke Deutschlands. Selbsterklärtes Ziel der Schweizer ist, Docmorris von Europas größter Shopapotheke in Europas größte Gesundheitsplattform umzuwandeln. Medikamente soll es auf dieser Plattform weiterhin geben, das Angebot soll aber deutlich umfassender werden und auch Telemedizin und Gesundheitsprogramme beinhalten. Zum Beispiel gegen Übergewicht. Auch Drittanbieter sollen Medikamente auf der Plattform verkaufen dürfen, ähnlich wie Amazon seine Plattform ja auch externen Händler:innen anbietet. Nach Jahren verschiedenster Rechtsstreitigkeiten zwischen den klassischen stationären Apotheken und Docmorris will man bei der Gesundheitsplattform sogar miteinander kooperieren. Die Idee dahinter: Docmorris übernimmt den Standardversand, und die örtlichen Apotheken die ebenfalls angebotene Expresslieferung am selben Tag. Logistisch für Docmorris nicht zu leisten, für die stationären Apotheken aber eine Chance, ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Mit der Gesundheitsplattform möchte Docmorris in Deutschland starten, um von dort dann in naher Zukunft den gesamten europäischen Markt zu erschließen. Skeptisch bleiben die Apotheken dennoch. Ihre Zahl sinkt in Deutschland seit zwölf Jahren und hat laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände Ende 2020 einen neuen Tiefstand von 18.753 erreicht. Das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz, das die stationären Apotheken vor der Konkurrenz aus dem Internet schützen soll, ist deshalb seit einiger Zeit immer wieder ein Streitpunkt. Das seit dem 15. Dezember 2020 geltende Gesetz verbietet das Rabattaktionen von Onlineapotheken. Nach anfänglicher Gegenwehr scheint Docmorris nicht mehr dagegen vorzugehen, obwohl man eigentlich angekündigt hatte, rechtliche Schritte zu prüfen. Doch für die neue Gesundheitsplattform ist Docmorris auf die Mitarbeit der stationären Apotheken angewiesen. Auch interessant: Big Data in der Medizin: Was es braucht, um Leben zu retten Egal, wie die Plattform am Ende aussieht: Sowohl die Versand- als auch die stationären Apotheken sowie die Telemedizinanbieter tun gut daran, sich jetzt im Markt gemeinsam mit anderen europäischen Playern zu positionieren – denn die Konkurrenz aus den USA schielt bereits über den großen Teich. Der Gesundheitsmarkt in Deutschland ist schlicht zu lukrativ, um ihn zu ignorieren. Allein der Apothekenmarkt brachte es 2019 nach einer Analyse von Branchenbeobachter IQVIA auf einen Umsatz von 38 Milliarden Euro. Noch gibt es keine offizielle Ankündigung entsprechender Pläne für Europa von Amazon, doch im Heimatmarkt USA ist der Versandhändler bereits in den Medikamentenhandel eingestiegen. Dafür hat Amazon 2018 für rund eine Milliarde US-Dollar die Firma Pillpack gekauft. Das Unternehmen ist darauf spezialisiert, Medikamente in individuellen Dosierungen zu versenden und eine Art Arzneiabo anzubieten. Mit anderen Worten: eine Versandapotheke. Inzwischen wurde die Firma in „Pillpack by Amazon Pharmacy“ umbenannt und wird unter der Marke Amazon Prime beworben. Nicht mehr nur Serien und Musik im Abo, sondern auch Medikamente. Natürlich mit kostenlosem Prime-Versand und Lieferung am nächsten Tag. Mit Shop Apotheke und Docmorris gäbe es im deutschen Markt gleich zwei mögliche Übernahmekandidaten, die gut zu Amazon Pharmacy passen würden. Die nächsten zwei Jahre werden spannend Neben dem Markt wird sich auch die Technik weiterentwickeln. David Meinertz geht davon aus, dass Fitnesstracker und Smartwatches immer wichtiger werden. „Durch die Devices, die wir jeden Tag tragen, erzeugen wir als Patient:innen immer mehr Daten. Daraus ergibt sich die Konsequenz: Wir werden mehr von der Behandlung zur Prävention kommen. Der Arzt kann aus den übermittelten Daten nämlich schnell erkennen, ob es zum Beispiel ein Problem mit dem Blutdruck gibt – und man sprechen sollte.“ Zusätzlich werden auch immer häufiger künstliche Intelligenzen medizinische Daten analysieren, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen – idealerweise in Zusammenarbeit mit Ärzt:innen. Es wird also deutlich: Der digitale Gesundheitsmarkt ist in Bewegung und zwar so stark wie bisher noch nie. Die vergangenen 18 Monate Pandemie haben die Vorteile der Digitalisierung im Gesundheitsbereich aufgezeigt. Deutschland allerdings steht weiterhin noch am Anfang der Entwicklung. Player, die sich bisher eher bekämpften, müssen – und wollen – in Zukunft enger zusammenarbeiten. Firmen wie Amazon könnten in den Markt drängen und von Entwicklungen wie elektronischer Patientenakte und dem E-Rezept als Versandapotheke profitieren. Und ganz neue Player werden ebenfalls auf den Markt kommen. Es kann durchaus sein, dass die Gesundheitsbranche in zwei Jahren völlig anders aufgestellt ist. Eines ist aber sicher: Sie wird endlich digitaler sein. Dann könnte auch der Gang zur Ärzt:in wegen eines Schnupfens wegfallen.