Mein externes Gehirn: Warum selber denken, wenn man auslagern kann?
Wer viel mit digitalen Diensten arbeitet, dem wird schnell unterstellt, dass er nicht mehr in der Lage sei, die ausgelagerten Dienste selbst abzudecken. Wer alles googelt, der kann sich nichts merken, wer jeden Task ablegt, kriegt ohne Todo-Liste nichts mehr hin und wer einen digitalen Kalender pflegt, hat seine Termine nicht mehr im Kopf. Autor Manfred Spitzer nennt das „Digitale Demenz“. Ich sehe das positiver und nenne es cleveres Outsourcing!
In seinem gleichnamigen Buch schreibt der Autor, dass nichtgenutzte Gehirnzellen absterben und wir dadurch verblöden. Das Buch ist trotz massiver Zweifel an der wissenschaftlichen Sorgfältigkeit ein Bestseller, was dafür spricht, dass eine Menge Menschen die Meinung von Herrn Spitzer teilen. Aber wer spricht denn überhaupt davon, die Hirnzellen nicht mehr zu nutzen? Vielmehr geht es darum, sie anders einzusetzen.
Nicht nur in der Schule, sondern auch im Studium habe ich fast die Hälfte des Lernens mit klassichem Auswendiglernen verbracht. Schon damals war ich ein großer Fan solcher Klausuren, in denen man seine Unterlagen nutzen dürfte und es darum ging, wie man diese einsetzt. Das ergab für mich viel mehr Sinn.
Es gibt eben Dinge, für die ist unser Gehirn überqualifiziert. Lange Zeit musste es durchhalten, weil Wissen auf Papier aufbewahrt wurde, das einfach viel zu schwer ist, um es ständig dabei zu haben – #umzug #bücherkisten. Aber jetzt ist es soweit, wir sind bereit fürs Outsourcing.
Ich verblöde nicht durch digitale Dienste, sondern mache Platz im Gehirn für Größeres. Es kann gut sein, dass mir einige Dinge nicht mehr so schnell einfallen oder sogar gar nicht einfallen. Weil ich sie einfach nicht mehr abspeichere. Wie hieß nochmal dieses eine Lied, das vergangenen Sommer so bekannt war und wann hat Marie Antonette nochmal dies oder jenes getan? Und welche Länder sind eigentlich Mitglieder der Nato? Keine Frage, mein Allgemeinwissenspeicher wird von dieser Vorgehensweise geschwächt. Macht aber nichts. Denn ich weiß, wie ich das in sekundenschnelle in Erfahrung bringe und werde darin sogar immer besser. Ich kann den Kopf für Sinnvolleres einsetzen, für komplexere Gedankengegänge. Es würde ja auch kein Unternehmen der Welt auf die Idee kommen, seine Akademiker ans Fließband zu stellen.
Ehrlich, ich google wie ein Weltmeister. Das kann doch jeder? Eben nicht! Dazu gehört hartes Training in dieser Disziplin, das die Lass-mich-mal-überlegen-Fraktion nicht hatte. Statt lange zu überlegen, übe ich mich lieber darin, die perfekte Wortkette für die Onlinesuche zu finden. Meines Erachtens ergibt das eher Sinn, als immer mehr Wissen im hauseigenen Speicher abzulegen. Betrachtet man die Unendlichkeit des Wissens, muss man eh einsehen, dass selbst der bestgebildetste Mensch immer nur einen winzigen Bruchteil des großen Ganzen gespeichert hat.
Und wenn es um Termine geht, dann kenne ich wirklich niemanden, der zuverlässiger ist, als Menschen, die diesen Bereich ausgelagert haben. Plötzlich rutscht kein Geburtstag mehr durch, man schafft es tatsächlich beim ersten Mal zur Zahnreinigung und wird nicht um 17.30 Uhr von der wütenden Freundin begrüßt, weil man irgendwie nicht mehr im Kopf hatte, dass 17 Uhr ausgemacht war.
Ja, aber was, wenn ich meine digitalen Helferlein nicht dabei habe? Ganz ehrlich: Das passiert mir in etwa so oft, wie auch der Supercomputer Gehirn mal seine Aussetzer hat. Alle Jubeljahre vergesse ich das Handy zu Hause. Und selbst dann kann ich mich noch an den Rechner von Freunden setzen – der Cloud sei Dank.
Im Prinzip ist es doch so, dass ich mir einfach ein neues Setup zusammenstelle. Ich miste aus und „hoste“ nur noch das Nötigste selbst. Ich schaffe Platz im Kopf für Kreativität, wilde Ideen, Pläne, Strategien. Denn ich habe durch eine API Zugriff auf externe Dienste, die mich mit Wissen und Fähigkeiten versorgen. Und diese API ist mein Smartphone, mein Laptop, mobile Internetverbindungen, smarte Geräte und Wearables, weiter gefasst die Digitalisierung des Alltags – und die wird jeden Tag stabiler. Von Verdummung kann hier also gar nicht die Rede sein. Ich bleibe dabei, ich „source out“.
Digitale Demenz – Blödsinn!
Dies war mein erster Gedanke beim Lesen dieses Beitrages.
Nein, ich leide mit Sicherheit nicht an digitaler Demenz, wenn ich meine gedanklichen Nebenschauplätze in meinen Google-Account auslagere.
Ich bin weder Neurowissenschaftler, noch Gehirnchirurg. Sondern ein einfacher, 1962 geborener, der Allgemeinwissen von Grund auf gelernt hat. Ich musste noch auswendig lernen, um Prüfungen zu schaffen.
Und trotz alledem kam immer ständig neues hinzu. Die komplette PC-Ära habe ich von Anfang an mit großem Interesse mitgemacht und bis heute bestimmt Terabytes von Daten in meinem Gehirn abgelegt.
Daß das Gehirn dies kann, bezweifele ich kein bisschen. Und das Hirnzellen bei Nichtnutzung absterben, ist Blödsinn.
Im Gegenteil: Unser Gehirn hat derart komplexe Speichermechanismen und nutzt mit Sicherheit sein komplettes Areal aus, um Informationen zu speichern und zu verarbeiten.
Dies geschieht allerdings auf vielen unterschiedlichen Ebenen, z.B. erinnern wir uns nur durch einen bestimmten Geruch plötzlich an vergangene Dinge. Und wer weiß, wieviele andere „Speicherkanäle“ noch existieren.
Da läuft nichts linear ab; unser Gehirn speichert in unzähligen Dimensionen.
Davon bin ich überzeugt.
Deshalb ist es absolut legitim, gewisse Dinge auszulagern. Heutzutage muss man sich z.B. massenhaft PIN-Codes merken. Das geht nur mit intelligenter Organisation. Deshalb lagere ich aus und merke mir statt dessen nur noch das Masterpasswort.
Digital dement bin ich mit Sicherheit nicht. Und sollte ich irgendwann mal dement werden, so hat mein PC alles gespeichert – solange ich das Masterpasswort nicht vergesse :-)
Ein süßer und wahrer Artikel :)
Denen sind wohl die Themen ausgegangen. Selten eine grössere Ansammlung von Binsenweisheiten gelesen.
Ich verlass mich NULL auf mein Hirn.
Ohne Todo-Listen und Erinnerungen hätte ich keine Chance mehr, meinen Alltag zu bewältigen.
Sehr guter und inspirierender Artikel. Danke.
Der Kopf ist da um Ideen zu haben ich, nicht um sie sich zu merken.