Von Freud und Leid der Selbstständigkeit
Wenn man sich im Bekannten- und Kollegenkreis umsieht, scheinen Sascha Lobo und Holm Friebe mit „Wir nennen es Arbeit“, einem 2006 veröffentlichten Plädoyer für selbstbestimmtes Arbeiten, recht zu haben: Regelmäßig wagen fest angestellte Entwickler, Designer oder Konzepter den Schritt in die Selbstständigkeit und werden „ihr eigener Herr“ – oder sind seit Jahren erfolgreich bei wechselnden Projekten und Startups unter Vertrag.
Zwischen 1991 und 2009 stieg die Zahl der Selbstständigen in Deutschland um 38,8 Prozent auf 4,2 Millionen. Die Selbstständigenquote, also der Anteil der Selbstständigen an den Erwerbstätigen, stieg von 10,3 Prozent auf 13,8 Prozent (Quelle: Statistisches Bundesamt). Insbesondere die Solo-Selbstständigen, also die Selbstständigen ohne eigene Angestellte, haben einen enormen Zuwachs erfahren: Allein zwischen 1998 und 2008 stieg ihre Zahl um circa 20 Prozent, in den so genannten kreativen Berufen sogar um circa 50 Prozent (Quelle: Statistisches Bundesamt). Das sind beeindruckende Zahlen.
Allerdings fallen in diese Zeit die Arbeitsmarktreformen und die Einführung der sogenannten Ich-AG, also Maßnahmen, die Menschen mehr aus der (drohenden) Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit führen sollten als aus einer Festanstellung. So mancher Neu-Selbstständige wird diesen Schritt also nicht aus Überzeugung und Begeisterung, sondern aus Alternativlosigkeit gemacht haben.
Freiheit und Selbstbestimmtheit
In der so genannten Kreativwirtschaft und in der IT lassen sich beide Muster beobachten. Da gibt es den freiberuflichen Entwickler, der sich erfolgreich von Projekt zu Projekt schwingt, aber auch den freiberuflichen Designer, der von der Agentur seiner Wahl ausgebeutet wird wie eh und je – nur eben ohne Anstellungsvertrag. Die Freiheit des Freiberuflers ist in hohem Maße abhängig davon, wie gefragt und einzigartig seine Kompetenz am Markt ist.
Unter den Selbstständigen, die diesen Weg wohlüberlegt und aus Überzeugung eingeschlagen haben, ist – da hatten Lobo und Friebe schon recht – vor allem eine Motivation immer wieder entscheidend: Freiheit und Selbstbestimmtheit. So schildert Burkart Orlowski, der sich mit dem Thema IT-Support selbstständig gemacht hat: „Ich wollte weg von den Rahmenbedingungen einer Festanstellung, flexibler sein, Arbeitsbedingungen selber gestalten können.“ Thorsten Böttger, Rails-Entwickler und „immer schon Freiberufler“, sieht das ähnlich: „Die Vorteile sind ganz klar freie Zeiteinteilung und Urlaubsplanung. Es gibt keine Vorgaben, auf welche Konferenz ich fahre, wann ich das tue und wie oft – und ich entscheide stets selbst, was ich als nächstes mache.“ Diese Freiheit endet nicht bei der Arbeitsorganisation, wie Jörn Hendrik Ast berichtet, der mit „Personalmarketing 2.0“ sein Geld verdient: „Ich habe einen starken Freiheitsdrang, möchte gern konzeptionell arbeiten, mich einmischen und meiner Tätigkeit aktiv eine Richtung geben. Wichtig ist mir auch, dass meine Arbeit einen ideellen Wert hat. In meiner Festanstellung war ich in einer relativ sicheren Position und verdiente gut, aber es ging dort weniger um Ideen als um Umsatz und vor allem Erfolg. Das habe ich irgendwann nicht mehr ausgehalten, ich fühlte mich wie in einem goldenen Käfig.“
Breites Know-How, Selbstvermarktung und Akquise
Der Preis für diese Freiheit sei allerdings groß: Von Null etwas aufzubauen koste Energie, berichtet Burkart. „Man muss von allen Dingen etwas verstehen: Marketing, Technik, Finanzen, Akquise, Fördergelder.“ Auch die Entwicklung und Sicherung des eigenen „Marktwerts“ bedeute Aufwand: „Wie bei Agenturen oder Softwareentwicklungsfirmen muss man als Freiberufler für den Markt attraktiv bleiben und immer die angesagten Themen draufhaben. Angestellte können sich eher zurücklehnen – auch wenn sie das nicht sollten“, sagt Thorsten, der darin aber auch einen Vorteil sieht: „Auf dem aktuellen Stand zu bleiben ist ein unschätzbarer Vorteil: Man wird als Experte angesehen. Bei wichtigen Entscheidungen werden Angestellte tendenziell weniger befragt.“
Allerdings haben Solo-Selbstständige oft erheblich weniger Einfluss auf die Rahmenbedingungen ihrer (Projekt-)Arbeit als Unternehmer und in Büros oder Agenturen organisierte Entwickler und Kreative: Die Organisationsstruktur ist meist vorgegeben und wird häufig von Auftraggebern oder Projektleitern bestimmt, die auch nicht mehr Sachorientierung und Kompetenz mitbringen als die Vorgesetzten im traditionellen Unternehmen, denen man gerade entkommen ist. Dafür ist es leichter, den Job zu wechseln: „Projekte enden nach einer bestimmten Zeit“ – für Thorsten ein unschätzbarer Vorteil der Freiberuflichkeit.
Voraussetzung für stete Abwechslung ist allerdings die Projektakquise, die Angestellten weitestgehend erspart bleibt. „Die Kundenakquise habe ich anfangs unterschätzt“, gibt Burkart zu. „Der Kundenstammaufbau hat länger gedauert als gedacht.“ Glücklich ist zu schätzen, wem wie Rails-Entwickler Thorsten die aktuelle Marktsituation in die Hände spielt: „Ich bin froh, dass ich nie Akquise machen musste, da die Projekte immer zu mir gekommen sind. Das wäre eine echte Herausforderung für mich.“
Neue Arbeitsformen: Netzwerke und Coworking
Einzelkämpfertum, herausfordernde Akquise, die Bedeutung von Vernetzung: Aus diesen und ähnlichen Gründen bilden sich in letzter Zeit vermehrt neue Formen heraus, in denen Selbstständige und Freiberufler über das einzelne Projekt hinaus zusammenarbeiten. So entstehen Netzwerke wie „Ants with Friends“ (http:// www.antswithfriends.net), die als „Dachmarke“ Freiberuflerkompetenzen bündeln. So lassen sich größere Projekte akquirieren und mehr Einfluss auf die Rahmenbedingungen nehmen, als es Einzelkämpfern möglich ist.
Daneben finden immer mehr Freiberufler Platz in Coworking Spaces, die ihnen flexibel nutzbare Arbeitsplätze und vielfältige Vernetzungsmöglichkeiten bieten – und damit die Kaffeehauskultur, die Lobo und Friebe am Beispiel Berlin schildern, in professionalisierter Form weiterentwickeln. Weniger informell und laut als in Cafés, aber ebensowenig formalisiert und nüchtern, könnten diese Orte eine Art dritter Weg der Arbeitsorganisation werden.
So schildert Jörn Hendrik seine Erfahrungen im betahaus Hamburg: „Die Atmosphäre ist einzigartig: mit anfangs fremden Menschen zusammen zu sitzen und zu arbeiten, die alle unterschiedliche Sachen machen, aber trotzdem auf derselben Wellenlänge schwingen. Und zwar deshalb, weil sie nicht nur den Raum teilen, sondern auch einen Habitus der Offenheit und Vernetzung. Es ist eine Community mit einer Arbeitsatmosphäre zum Wohlfühlen, die anders als die Arbeitsgemeinschaft in klassischen Büros ohne Zwänge wie Pünktlichkeit, Anwesenheitspflicht, Konkurrenzdenken oder Ellbogenmentalität auskommt.“
Damit bieten Netzwerke und Coworking Spaces nicht nur eine Alternative zum Einzelkämpfertum im Projektmarkt und der Vereinsamung im Home Office, sondern leben neue Werte der Zusammenarbeit: Wissen und Ideen teilen statt schützen, das Ganze höher bewerten als die Summe der Teile. Auch wenn diese Arbeitsweise noch hippie-mäßig klingt, könnte sich damit ein Gegenmodell zur klassischen Agentur und zum traditionellen Unternehmen entwickeln, das gleichermaßen auf organische Formen der Zusammenarbeit und auf die Selbständigkeit der Beteiligten setzt.
Unbegrenzte Möglichkeiten
Für Burkart – auch er ist inzwischen überzeugter Coworker – ist das aber nicht die einzige Option, wie sich seine Freiberuflichkeit weiterentwickeln kann: „Wenn sich eine Idee für ein spannendes Produkt ergibt, kann ich mir auch eine Produktentwicklung vorstellen. Ich würde mich auch gerne mit ein paar Leuten zusammentun, um Last und Aufgaben zu verteilen und sich auch mal wieder eine Auszeit zu gönnen. Das Spannende ist, dass man nicht genau weiß, was passieren wird. Es stehen interessante Projekte im Raum und viele Möglichkeiten sich zu entwickeln. Diese Aussichten hat man bei einer Festanstellung selten.“
Ob „für immer Freiberufler“, Produktentwicklung oder doch Traumjob bei einem neuen Arbeitgeber – Optionen für ihre Zukunft haben die drei zuhauf. Schließlich haben sie, wie die meisten IT-, Kreativ- und Internet-Freiberufler, einen unschätzbaren Vorteil: „mit dem Notebook bewaffnet von überall arbeiten zu können“, wie Burkart es beschreibt. Das eröffnet eine Menge Perspektiven.