Führung im Flow: So meistern Führungskräfte mentale Herausforderungen

(Abbildung: Shutterstock / sirtravelalot)
Mehrere Tage in Stille, meditieren, nachdenken: Ein Schweigeseminar sehen viele Menschen als einen Weg, um zur Ruhe zu kommen. Für Danny Holtschke dagegen war es ein Punkt auf der To-do-Liste: „Den Kurs habe ich wie das nächste große Ding gesehen, das ich mir auf die Weste schreiben kann. Ich hatte permanenten Trieb zur Produktivitätssteigerung“, sagt der Unternehmer über seine Startup-Zeit vor mehr als fünf Jahren. Damals war Holtschke Vertriebs- und Marketingchef des Berliner Social-Media-Dienstes Spotistic, den er 2012 mit zwei Mitgründern aufgebaut hat. Für die Jungfirma warb er um Kunden und Investoren.
Finanzierungsdeals einfädeln, Wachstum vorantreiben, Meilensteine erreichen. Holtschke will sich als erfolgreicher Startup-Gründer beweisen, versucht 24 Stunden am Tag zu rennen. So beschreibt der 35-Jährige heute diese Zeit: „Welcher Druck das ist, eine Firma aufzubauen, wurde mir so richtig bewusst, als wir Wagniskapitalgeber dabeihatten.“ Um Erfolge für sich zu verbuchen, reißt er Aufgaben an sich. Feedback von Kollegen weist er aus Unsicherheit zurück, es kommt zu Konflikten. „Ich glaube, dass ich kein guter Anführer war“, sagt Holtschke rückblickend. Er war bei der Gründung 28 Jahre alt. Das Schweigeseminar, ursprünglich als Karriere-Boost geplant, bringt ihn zum Nachdenken – und ist rückblickend der Punkt, an dem sich seine Sichtweise grundlegend verändert hat. Die Folge: Er zieht einen Schlussstrich, steigt aus dem Gründerteam aus. 2015 wird die Firma verkauft an den Standortmarketingdienst Uberall.
„Mit Verständnis füreinander wird der neue Umgangston schnell zur Routine. So fühlt es sich nicht nach Therapiegruppe an.“
Jörg RheinboldtGeschäftsführer, APX
Eine Abwärtsspirale, ausgelöst durch mentale Belastung: Was Danny Holtschke zu Beginn seiner Gründerkarriere erlebt hat, beschäftigt viele Menschen ein Leben lang. Anhaltender Zeit- und Erfolgsdruck, dauerhafte Anspannung und schließlich Überforderung gehen in der neuen Arbeitswelt häufig einher mit fehlenden Regenerationsphasen: eine Gefahr nicht nur für die psychische Gesundheit eines jeden Arbeitenden. Auch die Unternehmenswelt hat allen Grund, das Risiko ernst zu nehmen.
Digitalisiert und ausgebrannt
Psychische Krankheiten spielen in der Berufswelt eine immer größere Rolle, wenn es um Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit geht. „Während psychische Erkrankungen vor 20 Jahren noch nahezu bedeutungslos waren, sind sie heute zweithäufigste Diagnosegruppe“, heißt es dazu auf der Website zum Projekt „Psyga“, das der Dachverband der Betriebskrankenkassen leitet. Führungskräfte stehen bei dem Thema einerseits besonders unter Druck: Für sie zählt nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die ihrer Teams. Andererseits haben sie es in der Hand, ihr Umfeld so zu gestalten, dass entweder ein gesundes Miteinander gelebt wird – oder ein Klima der Anspannung herrscht.
Stress und Überforderung immer wieder zu überspielen, führt häufig zu Problemen, sagt Nicola Breugst, Professorin für Entrepreneurial Behavior an der Technischen Universität (TU) München. „Im professionellen Kontext wird oft erwartet, dass wir Emotionen unterdrücken. Die Forschung zeigt allerdings, dass sich das langfristig negativ auf das Wohlbefinden auswirkt“, so Breugst. Gefühle zeigen – negativ wie positiv –, hilft dagegen aus Sicht der Psychologin, mentaler Belastung langfristig standzuhalten. Doch wie finden Führungskräfte in eine Rolle, in der sie nichts vortäuschen müssen?
Rund um diese Frage ist in den vergangenen Jahren ein Forschungszweig entstanden. An der Freien Universität Berlin beschäftigt sich Jenny S. Wesche mit dem Konzept der Authentischen Führung, das eine neue Verknüpfung schafft: zwischen guter Führung und mentaler Gesundheit. Es geht um echte Energie statt Exzess: „Wenn Führungskräfte ihr eigenes Verhalten als authentisch wahrnehmen, zeigt sich ein positiver Zusammenhang mit ihrem Wohlbefinden und ihrer psychosozialen Gesundheit“, so Wesche.
Ein starker Charakter an der Spitze –, davon profitiert ihrer Ansicht nach die ganze Organisation: „Wenn Mitarbeiter ihre Führungskraft als authentisch wahrnehmen, zeigen sie positivere Einstellungen gegenüber der Arbeit, höhere Zufriedenheit sowie stärkere Identifikation und Vertrauen in ihre Führungskraft“, sagt die Forscherin. Das resultiere wiederum in besseren Leistungen. Wer mit sich im Reinen ist, führt demnach auch besser.
Pokerface ist out
In der Praxis kommt es auf Nuancen an, wie auch Spotistic-Gründer Danny Holtschke gelernt hat. Er habe zu seinen Startup-Zeiten gar nicht erst versucht, sich zurückzuhalten, wie er sagt. Trotzdem gab es Probleme: „Ich war manchmal zu emotional“, sagt Holtschke. „Ich musste erst mal verstehen, dass ich nicht jedem meine Geschichte aufdrücken darf, nur um mich selbst zu heilen.“ Die Gefahr sei, bei Mitarbeitern Unsicherheit oder Irritation auszulösen und bei Geschäftspartnern Zweifel an der eigenen Entscheidungsfähigkeit zu wecken.
Bloß nicht unentschlossen oder kraftlos wirken: Die Startup-Szene hat diesen Anspruch auf die Spitze getrieben, wie auch die Forschung der Münchener Psychologin Nicola Breugst zeigt: „In den USA ist ‚Entrepreneurial Passion’ ein wichtiges Thema –, die Rede ist häufig von Leidenschaft und Erregung im Zusammenhang mit einem unternehmerischen Projekt“, sagt Breugst. Das Problem: Niemand ist dauerhaft „positiv aufgeregt“, wie die Wissenschaftlerin sagt. Diese Erwartungshaltung könne Druck aufbauen und dadurch die mentale Gesundheit gefährden: „Dauer-Gute-Laune vorzuspielen, führt in einen Zustand, der mit Erschöpfung vergleichbar ist“, so Breugst.
„Wenn ich weiß, was mir liegt, kann ich eine Führungsaufgabe selbstbewusster angehen.“
Jenny S. WescheWirtschaftspsychologin, FU Berlin
In traditionelleren Strukturen dagegen wird bislang eher erwartet, mit einem Pokerface aufzutreten. „In Konzernen ist weniger Authentizität und mehr Selbstkontrolle häufig erfolgreicher“, beschreibt es die Psychologin. Denn: Hier seien oft rationale Entscheider gefragt, die in Krisen einen kühlen Kopf bewahren.
Offene Gefühlsausbrüche versus seriöse Maske: Was ist das richtige Maß? „Je nachdem, wie eng Führungskräfte mit Mitarbeitern zusammensitzen, müssen sie diese Entscheidung in Sekundenbruchteilen treffen –, weil man Gefühle sofort im Gesicht sieht und in der Stimme hört“, sagt Breugst. Das erfordere in erster Linie Übung. „Menschen, die das am besten können, verdienen damit viel Geld in Hollywood“, sagt die Forscherin und lacht.
Klar ist: Am Schauspielern – zumindest manchmal – kommen Führungskräfte nicht vorbei. Trotzdem brauchen Stress, Wut und innere Anspannung ein Ventil. „Druck von oben und Druck von unten, doch wo soll der entweichen?“, schreibt dazu zum Beispiel Unternehmensberater Boris Gloger in einem Blog-Beitrag für die Karriereplattform Xing.
Einen Schlüssel sieht Breugst in der Auswahl der richtigen Gesprächspartner: „Emotionen nicht zu unterdrücken, ist wichtig. Sie rauszulassen, muss aber nicht immer im beruflichen Kontext passieren“, erklärt die Gründerforscherin. Mentoren, andere Führungskräfte oder Freunde und Familie: wem kann ich was in welchem Moment erzählen? Das ist laut Breugst die entscheidende Frage: „Führungskräfte müssen sich Menschen suchen, mit denen sie reden können. Ganz oft sind es die Partner, die sich den emotionalen Ausbruch dann anhören.“
Auf die Prozesse im Gehirn schaut Ella Gabriele Amann, wenn sie mit Führungskräften an deren innerer Sicherheit arbeitet. Die Therapeutin und Resilienz-Trainerin zeigt Wege auf, um zwei Gegenspieler im autonomen Nervensystem gezielt anzuregen. Ein Beispiel: Eine Auseinandersetzung im Team wühlt auf. Aktiv in Stresssituationen, Flucht und Kampf ist der sogenannte „Sympathikus“. Statt im Angriffsmodus zu bleiben, ist jetzt die Kunst, zu gegebener Zeit wieder herunterzufahren: Zuständig für die Beruhigung des Nervensystems ist der Gegenpart „Parasympathikus“. Er sei es häufig, der vernachlässigt werde, warnt Amann.
Je nach Persönlichkeit empfiehlt die Leiterin der Berliner Akademie Resilienzforum etwa ruhige Mentalübungen oder sportliches Power-Programm, um das Innere in die Balance zu bringen. „Menschen können mit Stress generell gut umgehen. Die Frage ist: Haben wir genug Zeit und Raum für die erforderliche Regeneration?“, sagt Amann.
Stress durch Streit
Aufwühlende Auslöser für sich gut verarbeiten zu können, hilft durch Krisen. Doch was, wenn sie aus der Gruppe kommen? An diesem Punkt wäre das Team des Berliner Accelerators APX im vergangenen Jahr fast zerbrochen. Hintergrund war ein Streit über den richtigen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten. Einige Teammitglieder führen Konflikte laut Geschäftsführer Jörg Rheinboldt deutlich aggressiver und direkter als andere. „Das hat am Anfang auf beiden Seiten für viel Irritation gesorgt“, sagt der 47-jährige Startup-Mentor, der den gemeinsamen Accelerator von Axel Springer und Porsche mit aufgebaut hat. „Man hätte damals eine Linie durchs Team ziehen können“, sagt Rheinboldt.
Was ihm geholfen hat, das ganze Team an Bord zu halten: ein System für den vertrauensvollen Austausch entwickeln. Inzwischen hat sich das Team aus 14 festangestellten und zehn freien Mitarbeitern in sogenannter „gewaltfreier Kommunikation“ schulen lassen. Rheinboldt nennt ein Beispiel: Oft genüge für das gegenseitige Verständnis schon ein Satz wie „Du redest mit mir, als wäre ich unmotiviert. Dabei weiß ich einfach nicht, wie es geht.“ Wenn alle diese Methoden lernten, werde der neue Umgangston schnell zur Routine, erklärt der Startup-Mentor.
„Sich selbst helfen, bevor man anderen hilft: Das hängt stark mit meinem Bild von Führung zusammen.“
Katharina Heuer Aufsichtsrätin, Unilever
Um morgens nicht wortkarg und genervt im Konferenzraum zusammenzusitzen und sich an Problemen festzubeißen, rät auch Resilienz-Trainerin Amann zu Ritualen. Sie selbst setzt regelmäßige Warmups ein, um die Gruppen mental auf die Zusammenarbeit einzustimmen. Ein Beispiel: Im Kreis aufstellen und Impulse weitergeben. Das können zwei bis drei Bälle sein, die nach verschiedenen Mustern durch die Gruppe wandern. Oder die Runde sammelt Assoziationen zu einem Wort: Einer sagt „Baum“, die nächste „Ast“ –, dann „Vogel“, „Himmel“, „Weltall“ und so weiter. Die Idee: den Umgang mit verschiedenen Rhythmen, komplexen Aufgaben, Chaos und Überforderung zu üben. „Wir simulieren, wie stressfrei delegiert und kommuniziert wird“, sagt die Trainerin. „Zusammen lachen, ist wie eine Kalibrierung im Team.“
APX-Chef Rheinboldt will die Erkenntnisse aus Coachings auch an die Startup-Teams im Accelerator-Programm weitergeben. So wirbt er verstärkt mit Workshops, die die Psyche ins Visier nehmen. Die Titel: „What is mental Health and the Stigma around it?“, „Burn-out“, „Work-Life-Balance“ und „Handling the Ups and Downs of Startup Life“. Die Veranstaltungen sollen für mehr Achtsamkeit in den jungen Firmen und Gründerteams sorgen.
Fesseln ablegen
Ob es um eigene Tiefs geht oder um Konflikte in der Gruppe: Transparenz hält Katharina Heuer für den entscheidenden Impuls, um weiterzukommen. Die Aufsichtsrätin des Konsumgüterkonzerns Unilever und ehemalige Personal-Vorständin der DB Fernverkehr schwört auf einen Satz: Die offene Aussage „Tut mir leid, ich bin gerade nicht besonders gut drauf, das hat aber nichts mit der Arbeit zu tun“, trage unglaublich zum Wohlbefinden bei, sagt die inzwischen selbstständige HR-Beraterin. „Weil es mir als Führungskraft den Druck nimmt, etwas vorgeben zu müssen, was ich gar nicht empfinde. In dem Moment bin ich glaubwürdig. Und mein Verhalten ist für das Team besser nachvollziehbar.“
Solche Art von Offenheit erfordert viel Vertrauen in die eigenen Stärken. „Wenn ich weiß, was mir liegt und was ich kann – oder nicht –, kann ich eine Führungsaufgabe selbstbewusster angehen und sie so gestalten, dass ich sie gut ausführen kann“, sagt Wirtschaftspsychologin Wesche. Das sei ein Kernelement der Authentischen Führung: an sich selbst und am eigenen Umfeld arbeiten. Das kann sich wie bei APX in neuen Meeting-Formaten ausdrücken. Oder in der räumlichen Gestaltung: Wer viel direktes Feedback braucht, um rasch zu Entscheidungen zu kommen, sitzt am besten in Sichtweite zu seinem Team. Wer vor schwierigen Gesprächen ungestört nachdenken muss, um sicher auftreten zu können, braucht möglicherweise einen Rückzugsraum.
Was zur eigenen Persönlichkeit passt, kann sich im Laufe des Lebens stark verändern. Dann sind auch mal drastische Maßnahmen nötig, wie Katharina Heuer für sich herausgefunden hat. Die Aufsichtsrätin und HR-Beraterin zog sich bereits zwei Mal für mehrere Monate aus dem Berufsleben zurück. „Auszeit und Learning Journey“ nannte Heuer die letzte Pause, aus der sie im Mai wieder zurückgekehrt ist. „Ich habe immer Jobs gemacht, bei denen ich mit großem Herzblut dabei war. Mir ging es darum, mich runterzufahren, Neues auszuprobieren und mich neu zu orientieren“, sagt die 51-Jährige. Auslöser waren jeweils Entwicklungen in ihrem Privatleben. „Ich wollte Raum schaffen für neue Erfahrungen, bevor ich mich für meine nächste berufliche Herausforderung entscheide“, erklärt Heuer den Schritt zu ihrem Sabbatical.
Negative Reaktionen nahm sie in Kauf: „Ich hatte kein Burn-out, wurde aber häufig danach gefragt“, sagt Heuer. Andere Gesprächspartner warnten, sie fände in ihrem Alter nur schwer wieder einen guten Job. Für die HR-Expertin und Beraterin kaum nachvollziehbar: „Von Profisportlern verlangen wir auch nicht, dass sie ohne Regenerationsphasen nach Wettkämpfen sofort wieder Hochleistung bringen“, sagt Heuer, die auch als Business Angel in der Startup-Szene unterwegs ist.
Wenn sie heute ihr Verständnis von erfolgreicher Führung beschreibt, greift sie auf ein Bild aus dem Flugzeug zurück: Die Sicherheitseinweisung soll Passagiere auf den Fall eines Druckverlustes in der Kabine vorbereiten. „Zuerst die eigene Maske herunterziehen, also sich selbst helfen, bevor man anderen hilft. Das hängt stark mit meinem Bild von Führung zusammen“, sagt Heuer. Zuzuhören, abzuwägen und Impulse zu geben: Hierfür brauche es Selbstwertgefühl und innere Ausgeglichenheit – gerade in Zeiten der sich stark transformierenden Arbeitswelt, ist die HR-Expertin überzeugt.
Dass das allerdings häufig Widerstand bedeutet, weiß auch Startup-Gründer Danny Holtschke, heute als Design-Sprint-Moderator selbstständig. Ihm schlug teilweise sogar Spott entgegen: „Selbst Freunde haben mir gesagt: ,Leg’ mal den Selbstfindungs-Danny wieder ab und konzentriere dich darauf, Unternehmer zu sein.‘“ Den Schein des superaktiven, leistungsfähigen Gründers wahren: Viele erfüllen dieses Klischee, sagt der 35-Jährige. „Gerade Männer tragen oft die Maske des starken Anführers“, so Holtschke.
Nach einiger Zeit solo als Moderator und Berater plant er, bald wieder ein eigenes Team aufzubauen. Auf eine gesunde Selbstwahrnehmung will er bei der Auswahl achten – und Offenheit etwa für gemeinsame Meditation. „Wenn die Leute mehr bei sich wären, ließe sich die Produktivität extrem steigern“, sagt Holtschke. „Was allein an überflüssigen Mails wegfällt, wenn Menschen anfangen, direkter und ehrlicher auch über Schwierigkeiten zu sprechen.“