E-Business: Nischen finden und nutzen
Wir schreiben das Jahr 15 nach Einführung der juristischen Präsenz im World Wide Web. Nach dem großen Milleniums-Hype hat sich still und heimlich die zweite Welle im Internet Business gebildet. Hinter den Stichworten Web 2.0 und Web 3.0 verbirgt sich jedoch mehr als die bloße Kopie finanziell lukrativer Dienstleistungen á la Amazon, Google, Xing usw. Das Netz ist vielfältiger und durch Social Media in Verbindung mit mobilen Anwendungen nahezu mehrkanalig geworden. Heute werden nicht nur physische Leistungen über das Web beworben. Hinter einer Vielzahl an Geschäftsmodellen verbergen sich auch Mehrwertdienste im Informations- und Wissensbereich.
Da stellt sich unwillkürlich die Frage: Ist nicht schon alles abgedeckt? Nein, mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil: Jetzt, wo auch die Digital Immigrants – also die vor 1980 Geborenen – das Internet als „2.0“-Instrument für sich entdecken, tun sich neue Chancen auf. Allein bei dem als Youngster-Network bekannten Facebook sind von den derzeit 14 Millionen deutschen Nutzern rund 500.000 über 45 Jahre, Tendenz steigend [1]. Ein Markt hat theoretisch so viele Segmente wie Zielkäufer. So konstatierte Bernt Spiegel bereits 1961: „Die Nische ist die massenpsychologische Konsequenz der Individualität des Menschen.“ Die Vielzahl der Bedürfnisse individuell zu bedienen ist nicht wirtschaftlich. Daher bieten sich Nischenstrategien an.
Nischen sind Markträume, in denen der Kundenwunsch bislang unrealisiert blieb. Anders ausgedrückt: Die Kunden greifen auf Standarddienstleistungen zurück, weil sie ihren Traumlieferanten bislang noch nicht gefunden haben. Unter Umständen verweigern sie sich deshalb den Angeboten – obwohl Interesse besteht. Ziel einer Nischenstrategie ist es, für diese Kunden der Traumanbieter zu werden.
In ihrer absoluten Größe sind Nischen nicht zwangsläufig klein. Dies gilt insbesondere im Internet-Business mit seiner Vielzahl an Anbietern und Nachfragern. Nischen sind offensichtlich rentable Teilmärkte, die dadurch entstehen, dass sich ein Anbieter auf spezielle Bedürfnisse einer Kundengruppe, einer Methode oder einer Region spezialisiert und diese erstmalig befriedigt.
Klein statt Groß: Vorteile für Nischenstrategen
Es geht nicht immer darum, alle einzufangen und den Markt abzudecken. Vielmehr liegt insbesondere für kleinere Wettbewerber großes Potenzial in den Geschäftsmodellen, die sich schwer kopieren lassen und die den Großen der Branche zu aufwändig erscheinen. Doch worauf beruht die Nischenstrategie?
- 1. Spezialisierung („Economies of Specialization“)
Indem Anbieter die Bedürfnisse von Kunden zielgerichtet und erstmalig vollständig befriedigen, schaffen sie eine enge Kundenbindung und häufig auch preisliche Spielräume. MyMuesli.com hat sich beispielsweise auf die Zusammenstellung individueller Müslimischungen spezialisiert. Dabei ist der Gedanke nicht neu: Die berühmte „Tante Emma“ stellte aus Großgebinden nach Kundenwunsch Mischungen zusammen.
Nach dem Verschwinden der unabhängigen kleinen „Tante-Emma“-Einzelhändler bleibt dem Kunden im Supermarkt nur noch die Wahl zwischen wenigen Mischungen. Das entstandene Vakuum füllte MyMuesli.com – mit dem Nebeneffekt, viel mehr Zielkäufer zu erreichen als mit einem stationären Geschäft.
Die Spezialisierung hängt mit Neuheiten im weiteren Sinne zusammen.
→ Was hat Ihr Unternehmen „erfunden“? Was ist der rote Faden, der sich durch die Angebotspalette zieht?
Denken Sie nicht nur an technische Details, denn eventuell ist auch der Umgang mit einem besonderen Kundenkreis Ihre Stärke. Statt Kundenprozesse kostensenkend zu standardisieren, erreichen Nischenanbieter durch die enge Kundenbindung und die gute Kenntnis der Kundenwünsche einen Know-how-Vorsprung (Spezialisierungsvorteile bzw. Economies of Specialization).
- 2. Individualisierung („Economies of Individualization“)
Die enge Kundenbindung führt zu einer guten Kenntnis der Bedürfnisse und damit problemlösungsorientiertem Know-how. Jeder Kunde fühlt sich exklusiv bedient. Das Wissen um die Bedürfnisse ist zugleich Basis für Folgeaufträge oder Weiterentwicklungen im Leistungsprogramm. Bereits beim nächsten Kunden mit ähnlich gelagertem Problem sparen Anbieter nutzenstiftend wertvolle Zeit bei der Akquisition.
Diesen Weg der Individualisierung geht beispielsweise Axel Gronen mit dem wortfilter.de. Indem er die speziellen Probleme von ebay-Händlern aufgreift und entsprechend kommunikative Unterstützung via Blog, Newsletter und kostenpflichtigen Tools bietet, hat er sich einen Expertenstatus in diesem Gebiet erarbeitet.
Hinzu tritt der nicht zu unterschätzende Referenzeffekt. In manchen Branchen werden über 80 Prozent der Neuaufträge durch Empfehlungen generiert. Dabei helfen die Empfehlungs- und Bewertungsfunktionen der Social Networks wie beispielsweise der „Gefällt mir“-Button von Facebook.
→ Wie hoch ist die Empfehlungsquote in Ihrem Unternehmen?
Statt durch große Outputmengen Kosten zu senken, indem Prozesse standardisiert und Beschaffungsvorteile genutzt werden, steht die Kundenbindung durch einzigartige Problemlösungen im Mittelpunkt (Individualisierungsvorteile bzw. Economies of Individualization).
- 3. Konzentration („Economies of Concentration“)
Die Konzentration auf ein Thema oder eine Spezialisierung reduziert die Komplexitätskosten. Aufwändige Einarbeitungen entfallen. Wer sich bei jedem neuen Kunden in Themengebiete einarbeiten muss oder mühevoll viele Komponenten zusammenstellt, hat hier schon verloren. Stattdessen ist ein „roter Faden“ in den Aktivitäten gefragt.
Der Fotograf Guido Karp nutzt beispielsweise das Internet als Akquisitions- und Empfehlungsmedium für „P41D“ (Princess for one day). Sein Angebot ist eine Kombination aus themenbezogenem Beauty-Workshop und Fotosession mit einer begrenzten Teilnehmergruppe. Damit kreierte er aus dem ursprünglichen Angebot, das aus einem Portrait mit professionellem Styling besteht, bereits zahlreiche Themenbündel wie das „Cover Girl“, ein Shooting mit Glamour-Styling. Alle Projekte weisen einen roten Faden auf: ein professionelles Foto in einem dreistündigen Workshop.
Ein weiteres Beispiel ist das in Aachen ansässige Cobocards.com. Das Unternehmen bietet eine Plattform für den Austausch von Lernkarteikarten, die Nutzer auch auf Smartphones laden können. Lernkarteikarten gab es auch schon vor dem Web 2.0. Cobocards.com ermöglicht Teams jedoch die gemeinschaftliche Erarbeitung von Kartensätzen und unterstützt die Lernfunktionen. Aber das ist nur der Appetizer. Zusätzlich veräußert es über diesen Dienst kostenpflichtige, geprüfte Kartensammlungen. Das Unternehmen widmet sich ausschließlich dem Thema „Lernen mit digitalen Karteikarten für PC und Smartphone“. Als Nebenprodukt lassen sich diese selbstverständlich auch ausdrucken.
Der rote Faden der Konzentration ist ein Garant für die eigene Unverwechselbarkeit. Dabei ist nicht nur die Zielgruppe von Bedeutung. Die Konzentration kann auch in der Technologie oder der Anwendungsform liegen, zum Beispiel wenn man nur bestimmte Lösungen im Mobilbereich anbietet.
Statt hoher Leistungstiefe oder großer Leistungsbreite steht die Konzentration auf ein ressourcenadäquates Leistungsbündel im Mittelpunkt (Konzentrationsvorteile bzw. Economies of Concentration). Dies erfordert eine stetige Prüfung, ob die nischenprägenden Merkmale im Mittelpunkt des Leistungsprozesses stehen.
Es lässt sich leicht erkennen, dass eine Nischenstrategie in diametralem Gegensatz zu standardisierten Leistungen mit hoher Austauschbarkeit und großem Preisdruck steht. Nischenstrategien weisen zahlreiche Vorteile auf. So ist der Wettbewerb aufgrund der Einzigartigkeit nicht so groß wie im Gesamtmarkt. Unter Umständen ist der Markttrend in der Nische sogar gegenläufig zum allgemeinen Trend.
Nischenstrategen weisen zudem eine zum Branchendurchschnitt hohe Rentabilität auf. Dabei weisen diese Unternehmen regelmäßig einen Marktanteil von fünf bis zehn Prozent auf und agieren stark zielgruppenbezogen oder gehen im Vergleich zum Branchenwettbewerb außergewöhnliche Wege im Leistungsprogramm, im Vertrieb oder in der Kommunikation.
Nischen kreieren statt finden!
Systematische Nischensuche und -erschließung scheinen häufig auf assoziatives Suchen und Finden angewiesen zu sein. Umfragen zufolge finden Menschen Nischen zufällig, suchen sie bewusst oder kreieren sie nach eingehender Marktanalyse. Interessierte können die wesentlichen Überlegungen zur Erschließung einer Nische in drei Schritten durchführen.
1. Schritt: Spezialisierung identifizieren
Wenn Sie Ihre Nische finden wollen, sollten Sie zunächst Ihr Leistungsspektrum und Ihren Spezialisierungsgrad analysieren.
In einer Matrix ausgedrückt: Die Dimension „Leistungsprogramm“ bezieht sich auf die Breite Ihrer Fähigkeiten bzw. Ihres Leistungspotenzials, zum Beispiel Bandbreite technischer Lösungen, während der „Erstellungsprozess“ eine geordnete Abfolge von Arbeitsschritten oder eine fest definierte Vorgehensweise bezeichnet. Diese beiden Dimensionen sind eine wesentliche Basis für die Nischendefinition, denn die Spezialisierung im Leistungsprogramm deutet auf eine Konzentration auf für die Kunden sichtbare und nutzenstiftende Marktleistung hin.
Demgegenüber dient die Spezialisierung im Leistungserstellungsprozess einer Ökonomisierung nach Innen und bietet Ansatzpunkte zur Rationalisierung der Auftragsabwicklung. Die vier Felder geben mögliche Hinweise auf die Basis für Ihre Nische. Die Soziale Spezialisierung sticht dabei besonders heraus. Hier treffen das Know-how über bestimmte Anforderungen einer Zielgruppe und eine bestimmte technische Lösung aufeinander. Aber auch die Spezialisierung im Erstellungsprozess kann zu Nischenpositionen führen, zum Beispiel indem man E-Mail-Marketing für kleinere und mittlere Unternehmen anbietet oder das Projekt „Karriere Styling“ löst (www.fate-labs.com).
2. Schritt: Nischenart identifizieren
Neben der Spezialisierung stellt sich die Frage, was und von wem es am Markt vermisst wird. Die Basis einer Nischenstrategie ist ein Leistungsbündel, das von Kunden gewünscht wird, aber nicht existiert. Dabei geht es nicht um die „eierlegende Wollmilchsau“, die zum Niedrigpreis alles kann, sondern um einen Experten, dem man vertrauen kann, weil er stets die bestmögliche Lösung unter den gegebenen Bedingungen realisiert.
Die folgenden Fragen sollten Ihnen dabei helfen, die Nischenart auf Produkte (im Sinne besonderer Verfahrensweisen, Programme, Sprachen usw.), Zielgruppen (z.B. Branchen und Unternehmensgrößen, ggf. auch Unternehmensformen) sowie Regionen einzugrenzen.
Der regionale Aspekt ist auch im Internet Business nicht zu unterschätzen, wenn man an die durchaus unterschiedlichen Wettbewerbsverhältnisse in geographischen Gebieten denkt und vor allem die Real-Life-Aktivitäten (z.B. Events wie Treffen offizieller Xing-Gruppen) berücksichtigt.
- Was haben Ihre Stammkunden bislang gemeinsam (z. B. Unternehmensgröße, Alter, Beruf, Region,…)?
- Wie stark sind Sie mit Ihrer Tätigkeit in den operativen Wertschöpfungsprozess Ihrer Kunden integriert (z. B. wesentliche Integration oder punktuelle Teillösung)?
- Welche Aufträge waren besonders erfolgreich? Was war Gegenstand dieser Aufträge? Wie sah die Kooperation mit dem Kunden aus?
- Welche Fragestellungen gehen Ihnen nicht aus dem Kopf, auch wenn Ihr Wissen in dieser Angelegenheit zurzeit nicht entgeltlich gesucht wird?
- Wie gelangen Sie an Ihre Kunden (zum Beispiel durch Empfehlungen, durch Vermittler, durch Netzwerke, durch offensive Werbung oder durch den Bekanntheitsgrad in der Stadt oder Region)?
- Fassen Sie die Kriterien zusammen. Es wird sich ein Profil Ihrer Einzigartigkeit ergeben.
3. Schritt: Konsequente Umsetzung
Haben Sie das Profil Ihrer Einzigartigkeit formuliert, geht es an die konsequente Umsetzung. Agenturen, die CMS-Lösungen anbieten, sollten sich beispielsweise an den Kunden orientieren, mit denen die Zusammenarbeit in der Vergangenheit besonders gut lief – egal ob dies eine Branche, eine Unternehmensgröße oder einen Funktionsumfang betrifft. Lehnen Sie „unpassende“ Kunden ab, denn diese verursachen mehr Aufwand und sind in der Regel unzufriedener als die Traumkunden in Ihrer Nische. Empfehlen Sie diesen Kunden andere Anbieter.
Nischenpflege – Aufzucht und Pflege eines empfindlichen Segments
Eine einmal definierte Nische kann sich im Zeitverlauf verändern. Verändern Sie sich mit den Bedürfnissen Ihrer aktuellen Kunden mit oder „entlassen“ Sie diese in die Lösungen anderer Anbieter, wenn die Nischenmerkmale nicht mehr übereinstimmen.
Ein Social Network wie Xing oder Facebook mag beispielsweise heute die Bedürfnisse der aktuellen Nutzer befriedigen. Doch wie sieht es in fünf oder zehn Jahren aus? Anforderungen an Funktionen und Nutzerverhalten werden sich ändern. Beispielsweise mag die Nutzung von Gruppen auf Facebook eine größere Bedeutung erlangen. Mit der Änderung von Funktionalitäten ist das Angebot für die ursprüngliche Zielgruppe nicht mehr attraktiv, wohl aber für diejenigen, die mit dem Network groß geworden sind. Diese Entwicklung lässt sich auch als Kohortenbegleitung bezeichnen.Wenn Sie sich dafür entscheiden, das einmal bewährte Konzept beizubehalten und neue Kunden für das optimierte Angebot zu finden, ist die Fluktuation zwar höher, jedoch bleiben sie beim bewährten Leistungserstellungsprozess.
In beiden Fällen ist das Ohr am Markt entscheidend. Die Nischenstrategie zeichnet sich durch einen besonderen Draht zum Kunden aus, durch direkte Kommunikation, Umfragen oder Ähnliches. Last but not least gilt für die Nischenstrategie:
„Lieber ein großer Fisch in einem kleinen Teich als ein kleiner Fisch in einem großen Teich“.