Webprojekte ganzheitlich betrachten: Ohne Scheuklappen [Kolumne]
Da ist sie endlich online: die neue Website. In mühevoller Kleinarbeit entstanden. Websites für kleine und mittelständische Unternehmen werden vielleicht noch mit einem Achselzucken hingenommen, maximal mit einem schnellen „Schau an“ oder gar einem „hübsch“ versehen. Bei größeren Websites hingegen kann man davon ausgehen, dass Kollegen ein wenig genauer hinsehen und ihre Kritik an der Site auch äußern. Erstaunlich dabei ist, dass sich deren Anmerkungen oft auf einen kleinen Teilbereich beschränken, etwa: „Schau an, das Impressum validiert nicht.“ Oder: „Auch mal an die Tatstaturnutzer gedacht?“ Vielleicht hört man ein: „Haha, wohl nicht auf ´nem Tablet getestet, was?“ sowie: „Ignoriert ihr den Internet Explorer 7 absichtlich?“
Spezialisierung und Scheuklappen
Die Kritik mag tatsächlich stimmen. Es irritiert aber, wenn Leute immer wieder dieselben Elemente aus demselben Teilbereich bemängeln. Es ist, als hätten sie eine kleine Liste im Kopf mit fünf, sechs Elementen der subjektiv wichtigsten Punkte, die man schnell mal überprüft. Doch hat man diese Fehler verbessert, kommt vielleicht noch ein „Ah, jetzt funktioniert‘s“ – und das war es dann.
Nun ist es kein Fehler, sich zu spezialisieren. Experten für Usability, SEO, Social Media, Typografie, Fotografie et cetera sind gefragt, um die Website in ihrem Bereich zu optimieren. Es ist allerdings manchmal schon erstaunlich, wie häufig die Spezialisierung bei Kritik zu Scheuklappen führt. Da klappern Experten beispielsweise die Mängel bei der Barrierefreiheit oder dem Responsive Design ab. Aber es fällt kein Wort über andere Aspekte. Warum? Und es geht noch eine Stufe schlimmer: Teilbereiche werden nicht nur ignoriert, sondern absichtlich als „nicht relevant“ abgewertet. Dann heißt es: „Ach, SEO ist mir egal.“ Oder: „Nee, Barriefreiheit habe ich noch nie gebraucht.“ Und: „Ist dem Kunden doch egal, ob es validiert.“ Und einigen Portfolios nach zu urteilen, gibt es auch genug, die meinen: „Design wird überbewertet.“
Ein Mix aus vielen Disziplinen
Websites basieren nicht nur auf einer Einzeldisziplin wie Text, Bild, Layout, Typografie, Responsive Design, Accessibility, Usability, Semantik, SEO, Social Media, Recht, Performance oder CMS. Es geht immer um eine Mischung daraus. Oft bekommt man aber das Gefühl, die Qualität einer Website würde sich allein in der Spezialisierung des jeweiligen Gegenübers zeigen. Am Design und der Typografie gibt es nichts zu bemängeln? Sehr schön: Schulterklopfen und weiter. Nicht einmal fachspezifische Websites, die sich inhaltlich nur um Barrierefreiheit, Usability oder Design drehen, lassen sich bei der Bewertung auf diese Bereiche einschränken. Es gibt Websites zur Barrierefreiheit, die das Design vernachlässigen. Ebenso wie Websites zu Design-Themen, die sich nicht groß um Barrierefreiheit kümmern. Bei beiden lässt sich jeweils der ein oder andere Aspekt verbessern.
Die Themen, die zur Sprache kommen, hängen natürlich von den Kreisen ab, in denen man sich bewegt. Unter reinen Designern wird es eher um Layout, Farben, Typografie, Designelemente gehen. Webstandards-Experten beschäftigen sich lieber mit HTML5, CSS3, Validierung, Barrierefreiheit und Performance. Bei all den Diskussionen in den letzten Jahren um Schriftgrößen oder Farbkontraste warte ich noch immer auf entsprechende Gespräche über Details bei den Inhalten. Nach dem Motto: Hier passt „beschänken“ besser als „konzentrieren“. Oder Anmerkungen zum gewählten Bildschnitt. Die reinen Inhalte werden recht selten genauer unter die Lupe genommen. Soviel zum Thema „Content is King“.
Eine Frage der Gewichtung
Selbst bei berechtigter Kritik an echten Fehlern: es fehlt mitunter das Maß. Denn niemand kann wissen, worauf es dem Kunden bei dem jeweiligen Projekt ankam, wie hoch das Budget war oder wieviel Zeit dem Freelancer oder der Agentur zur Verfügung stand. Webdesign ist eine Frage des Abwägens. Investiere ich meine Zeit darin, dem Kunden das Backend benutzerfreundlicher einzurichten oder prüfe ich die Website einmal in Ruhe für Screenreader und Tastaturnutzer? Feile ich an Texten und Bildern oder teste ich eine neue JavaScript-Bibliothek, die die Website für Touchscreens aufpeppt? Verbessere ich die Typografie oder füge ich lieber Open Graph hinzu? Will ich den Internet Explorer 7 einbeziehen oder versuche ich lieber, bei der Performance mehr herauszuholen?
Die jeweilige Gewichtung richtet sich nach dem Projekt und den Vorlieben des Webworkers. Vielleicht hat er schon ein paar nicht bezahlte Stunden investiert, um in dem einen oder anderen Bereich mehr herauszuholen. Dafür sind andere Bereiche eben nicht optimal umgesetzt, weil dafür kein Budget zur Verfügung stand. Das relativiert auch einige Kritikpunkte, etwa: „Wie kann man nur vergessen, den Bildern im Slider Alt-Texte mitzugeben?“ Was für den einen ein Merkmal einer inkompetenten Seite ist, ist für den anderen eben nur ein kleiner Flüchtigkeitsfehler. Webworker können natürlich jedes einzelne Detail an Websites kritisieren. Aber sie sollten wissen, dass bei einer Website nicht nur auf ihr bevorzugtes Gebiet ankommt, sondern auf viele verschiedene. Und andere Entwickler setzen eben andere Akzente. Die einzelnen Disziplinen kämpfen nicht untereinander um ihre Bedeutung – erst zusammengenommen bilden sie die Basis für eine gute Website – eben für ein großes Ganzes.
Ein sehr lesenswerter Artikel!
Zur IE7-Optimierung sollte man allerdings dazusagen, dass <1% der User noch mit IE7 arbeiten bzw. auf Websites zugreifen und Microsoft den Support für IE7 ab April 2014 einstellen wird.
Websites für IE7 zu optimieren und dadurch ggf die Performance zu verschlechtern ist meiner Meinung nach vergebene Liebesmüh :)
Beste Grüße
Sehr interessanter Artikel!
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