Nach Coworking kommt Coliving: Was du über diesen Arbeitstrend wissen musst
Lea Mishra ist in ihrem Leben viel herumgekommen. Schon vor dem Berufseinstieg studierte die heute 28-Jährige International Business Management und reiste dafür einmal um die ganze Welt mit Zwischenstopps in Kanada, Australien, Italien und China. Was im ersten Augenblick nach privilegiertem Jetset-Leben klingt, war für die Deutsche in Wirklichkeit gar nicht so einfach: „Ständig in ein neues Land umzuziehen, ist mit einigen typischen Herausforderungen verbunden“, so Mishra.
„Ich wusste nicht, wo und wie ich eine Wohnung finde oder Strom und Internet organisiere. Ich wollte auch nicht jedes Mal neue Möbel kaufen, da nie ganz klar war, wie lange ich in dem jeweiligen Land bleibe.“ Jeder Umzug habe einen Neustart bedeutet, ohne Netzwerk und ohne die örtlichen Gegebenheiten zu kennen.
Mishra suchte nach Wohngemeinschaften, die ihr möglichst viele dieser Aufgaben abnahmen. „So entdeckte ich Coliving, lange bevor es zum Trend wurde.“ Im Cambridge-Dictionary wird das Konzept erklärt als „eine Praxis, mit anderen Menschen in einer Wohngruppe zusammenzuleben, zu der verschiedene Extras gehören“.
Dazu zählen nicht nur geteilte Räume wie Badezimmer und Küche, sondern auch der Zugang zu Geräten, Services und Aktivitäten. Dadurch grenzt sich Coliving auch von herkömmlichen WG ab. Die Zimmer sind möbliert, Community-Manager organisieren das Alltagsleben. Lea Mishra sagt, sie habe Coliving lieben gelernt.
Das ging so weit, dass sie nach dem Studium zusammen mit ihrem Schwager und ihrem Bruder eigene Coliving-Spaces eröffnete. Die beiden Mitgründer haben zuvor in der Immobilienwirtschaft gearbeitet und brachten die nötige Erfahrung mit, um gemeinsam an entsprechenden Konzepten zu arbeiten. Dass die Zeit dafür nicht besser hätte sein können, zeigen die vielen Probleme am Wohnungsmarkt. Überteuerte Mieten und Hunderte Mitbewerberinnen und bewerber frustrieren Wohnungssuchende. Coliving kann da Abhilfe leisten.
Coliving ist für jede Zielgruppe spannend
Seinen ersten Coliving-Space hat das Team um Mishra 2019 in Münster in einem Neubau gegründet. Das dazugehörige Startup firmiert unter Poha House und wollte von Anfang an einiges anders machen. „Mir war wichtig, Coliving weiterzuentwickeln, denn die etablierten Konzepte hatten auch Schwächen“, erzählt die Gründerin.
So hätten viele Anbieter nur eine eingegrenzte Zielgruppe im Blick. „Angesprochen waren meist Berufseinsteiger, die frisch aus dem Studium kamen und ihrem Studentenwohnheim noch etwas hinterherschwärmten.“ Die Betreiber hätten sich auf junge, berufstätige Singles beschränkt und dementsprechend die Produkte angepasst. Privatsphäre gab es nur im Schlafzimmer, Bäder wurden geteilt.
Lea Mishra hält diese Konzepte für unzureichend. „Coliving ist eigentlich für jede Zielgruppe spannend“, sagt sie. „Angefangen bei jungen Singles. Aber auch für Paare, Familien und sogar für Rentner.“ Poha House hat die eigenen Flächen deshalb von Anfang an anders konzipiert. Bewohner können sich sowohl für kleine WG-Zimmer entscheiden als auch für ganze Apartments mit eigener Dusche und Toilette sowie kleinen Küchenzeilen.
Die größten Wohneinheiten verfügen sogar über begehbare Kleiderschränke. Das Herzstück sollen jedoch die Community-Flächen bleiben, auf denen sich Bewohner treffen und Zeit miteinander verbringen – angefangen beim Wohn- und Essbereich bis hin zur Dachterrasse. Die Preisspanne für eine Wohnung liegt entsprechend der Größe und Ausstattung bei 1.000 bis 1.750 Euro pro Monat.
Dass der Ansatz der Poha-House-Gründer in die Zeit passt, findet auch eine Forschungsgruppe des Fraunhofer-Instituts. „Es gibt ebenso viele Coliving-Kunden wie es Coliving-Segmente gibt“, sagt Vanessa Borkmann. Die Professorin leitet den Smart-Urban-Environments-Bereich und hat im Rahmen der Future Living 2040-Studie aufkommende Trends und Handlungsfelder für gemeinschaftsorientiertes Wohnen untersucht.
Neben Coliving für junge Zielgruppen, wie es etwa Basecamp Student oder The Hub anbieten, gibt es auch Coliving für Senioren von Anbietern wie Lively oder Coliving für Menschen, die mitten im Arbeitsleben stehen, angeboten etwa durch The Base oder Habyt.
Borkmann sieht für Coliving viele begünstigende Treiber: „Wohnangebote in Verbindung mit professionellen Services und der Teilhabe an installierten Gemeinschaften sind eine Reaktion auf verschiedene Trends der Globalisierung.“ Der Wandel, der sich in den letzten Jahren basierend auf wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und der Digitalisierung aller Lebensbereiche vollzogen hat, wirke sich auf die Lebensstile der Bevölkerung aus.
Coliving als Dienstwohnung 2.0
„Coliving-Modelle ermöglichen einen flexiblen und unabhängigen Lebensstil bei gleichzeitigem Zugang zu einer Community von Gleichgesinnten“, so Borkmann. Doch es zeichnet sich noch ein Trend ab, der der Coliving-Bewegung weiter Vorschub leisten könnte – die Rede ist vom Fachkräftemangel. „Insbesondere Fachkräfte und internationale Expertinnen und Experten werden rund um den Globus umworben und mit zusätzlichen attraktiven Benefits in die Unternehmen gelockt. Dabei ist vor allem ein attraktives Wohnumfeld in Verbindung mit entsprechenden Services relevant.“ Coliving-Angebote hätten direkte Auswirkungen auf das Employer-Branding, so Borkmann.
Auch Lea Mishra hat bei Poha House dafür ein Produktsegment entwickelt. Unternehmen können Unterkünfte für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ausland entweder temporär oder auf Dauer buchen. Die Mindestlaufzeit beträgt sechs Monate, Firmen mieten Wohnungen im Schnitt für drei bis fünf Jahre an. Einige zahlen die Miete sogar für ihre Angestellten, die meisten gäben die Kosten jedoch weiter, so Mishra.
Die Gründerin erzählt auch, dass vor allem Arbeitgeber aus der Forschung, der IT sowie der Pharmaindustrie auf sie zukommen würden. „Aus Sicht vieler ausländischer Arbeiter wirken deutsche Wohnungen oft unfertig“, erklärt sie. „Das geht schon damit los, dass vielerorts nicht einmal eine Küche eingebaut ist.“ Unternehmen, die verstärkt aus dem Ausland rekrutieren, unterstützen beim Umzug. Angefangen beim Visa-Verfahren bis zur Bereitstellung einer vollständigen Wohnung.
Ist Coliving also die Dienstwohnung 2.0? Noch bis vor wenigen Jahren haben vor allem Großkonzerne eigene Wohnimmobilien für ihre Fach- und Führungskräfte errichtet. Vorreiter in Deutschland ist dabei Volkswagen. Kaum ein Unternehmen hat so stark auf das Konzept der Dienstwohnung gesetzt wie der Autobauer, der 1953 sogar die Konzerntochter Volkswagen Immobilien (VWI) gegründet hat. „Der Immobilienbestand liegt heute bei knapp 9.500 Mietwohnungen, die sich ausschließlich am Konzernhauptstandort Wolfsburg befinden“, so Unternehmenssprecher Stefan Uckelmann.
Coliving gibt es neben jungen Zielgruppen auch für Senioren oder für Menschen, die mitten im Arbeitsleben stehen.
Neubauprojekte seien inzwischen jedoch aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen wirtschaftlich kaum noch realisierbar, erklärt er weiter. „Zum einen fehlt der Anreiz einer entsprechenden Förderkulisse. Zum anderen kommen neben dem massiv gestiegenen Zinsniveau und stark gestiegenen Baukosten auch noch hohe energetische Anforderungen an Neubauprojekte hinzu.“
Diese Rahmenbedingungen würden zu nicht marktkonformen Mietpreisen von etwa 16 bis 18 Euro pro Quadratmeter führen, die für die Volkswagen-Mitarbeiter keinen Vorteil mehr brächten. 2022 seien die letzten Dienstwohnungen in den Steimker Gärten in Wolfsburg entstanden, weitere Neubauprojekte sind eingestellt worden.
Die Forscherin Vanessa Borkmann sieht hier Coliving im Vorteil. „Solche Konzepte bieten das Potenzial, gleichzeitig flächeneffizient, nachhaltig und wirtschaftlich zu sein. Das Sharing-Modell ermöglicht es, kleinen privaten Wohnraum mit großzügigen, geteilten Gemeinschaftsflächen zu kombinieren.“
Das wirke sich auch auf den Quadratmeterpreis aus, denn viele Bewohner finanzieren am Ende die zentralen Community-Bereiche zusammen, während der Einzelne seine kleine persönliche Fläche allein trägt. Lea Mishra spricht von ein bis drei Euro pro Quadratmeter – ausgehend von der Größe der Gemeinschaftsfläche, die bisweilen auch Event-Spaces, Heimkinos, Fitnessstudios oder Saunas beinhalten können.
Günstig wirken Coliving-Spaces trotzdem nicht. Ein möbliertes 22-Quadratmeter-Zimmer im Poha House in Münster kostet rund 1.000 Euro. Für diesen Betrag bekommen Wohnungssuchende selbst in Metropolen mit angespanntem Mietmarkt noch problemlos ein WG-Zimmer. Allerdings ohne eigenes Bad und ohne eigene Küchenzeile, geschweige denn einer Dachterrasse mit Blick über die Dächer der Stadt.
„Wer die Rechnung mit der gesamten Fläche sowie den Services und Aktivitäten macht, merkt schnell, dass ein herkömmliches WG-Zimmer kaum mit dem Angebot mithalten kann“, so Lea Mishra. Vor allem nicht, wenn auch das Community-Management einbezogen werde. Das übernimmt Aufgaben, die sonst nur ein Concierge im Hotel erledigt, und bucht Stadtouren oder Restaurantbesuche. Dazu kommen auch inhouse diverse Netzwerk-Events – angefangen beim After-Work-Drink bis zum gemeinsamen Filmabend.
Coliving-Projekte können viele Probleme lösen
Auch für Investoren versprechen Coliving-Konzepte gute Renditen. Zwar verdienen sie weniger pro Person, jedoch gäbe es in der Regel deutlich mehr Mieter in den Coliving-Spaces als in einem Mietwohnungskomplex. „Coliving ist rentabler als Wohnen“, so Lea Mishra. „Nur Hotelvermietung wirft mehr ab.“
Überall sprießen derzeit Bauprojekte aus dem Boden und das trotz gestiegenem Zinsniveau, erhöhter Baukosten und energetischer Anforderungen, wie sie VWI-Unternehmenssprecher Stefan Uckelmann kritisiert. So hat auch Poha-House-Mitbewerber Habyt im Juni 2023 einen Neubau in Berlin-Mitte mit 243 Wohneinheiten auf 6.034 Quadratmetern Wohnfläche in Betrieb genommen.
Doch auch Poha House selbst ist auf Wachstumskurs. Zu dem Coliving-Space in Münster ist einer in Aachen gekommen, zwei weitere sind noch 2023 geplant. Poha House beschränkt sich, anders als Mitbewerber Habyt, nicht nur auf die großen Metropolen. „In jeder Stadt lässt sich ein individuelles Coliving-Konzept etablieren“, erzählt Lea Mishra.
Wohnungsnot gäbe es sowohl in Groß- als auch kleinen Universitätsstädten. 2025 eröffnet das Startup zudem auf 4.600 Quadratmetern ein Projekt in der Hamburger Speicherstadt. Hier wird gemeinschaftliches Wohnen in möblierten Apartments mit flexiblen Büroräumen geplant – in 128 Wohneinheiten, zehn Kurzzeitwohnungen sowie 98 Office-Spaces. Zielgruppen sind junge Leute, die gerade in die Stadt gezogen und an neuen Kontakten interessiert sind sowie Menschen, die aus beruflichen Gründen befristet in der Stadt leben, aber auch Berufspendler und Unternehmen, die Wohnraum für ihre neuen Mitarbeiter suchen.
Selbst in der Krise stehen für Coliving die Zeichen also auf Grün. Überall fehlt es an bezahlbaren Wohnraum. „Gerade in städtischen Gebieten, in denen Wohnraum knapp und teuer ist, spielt die Entwicklung neuer und innovativer Konzepte eine entscheidende Rolle“, so Vanessa Borkmann.
Letztlich komme es auf das funktionierende Miteinander aller Akteure an: die Leistungsträger vor Ort, die Wirtschaftspartner und die Zivilgesellschaft – von den Kleinunternehmern, die die Coliving-Häuser mit Lebensmitteln versorgen, über die Yogalehrer, die Kurse im Haus anbieten, bis hin zu den Bauträgern und Investoren, die ihre Gebäude für ein Coliving-Konzept bereitstellen. „Sie alle formen ein lokales Ökosystem, das dazu beiträgt, lebenswerte Projekte zu realisieren.“ Coliving könne einen Beitrag leisten, Wohnen und Arbeiten nachhaltig in Städten und Kommunen zusammenzuführen.
Ah, Coliving – oder wie man Wohnungsknappheit und den Traum von einer sozialen Utopie elegant in einen 1.750-Euro-Monatsmietvertrag packt. Denn wer möchte nicht gern sein WG-Leben auf Steroiden führen, mit „Community-Managern“, die einem sagen, wann man die Spülmaschine ausräumen muss, und Events, die man sonst nur aus einer mittelmäßigen Netflix-Serie kennt?
Früher haben wir einfach bei IKEA alles selbst zusammengebaut, heute zahlt man extra, damit das schon jemand für einen erledigt – und dafür bekommt man dann einen „persönlichen Raum“ von 22 Quadratmetern. Es ist ein bisschen wie der Premium-Sitzplatz im Kino: Du zahlst mehr, hast minimal mehr Platz, aber am Ende läuft doch derselbe Film für alle.
Aber hey, wenigstens gibt’s Yoga und einen After-Work-Drink mit Leuten, die genauso viel zu tun haben wie du – also wahrscheinlich nichts, außer die nächste Instagram-Story zu planen. Coliving: Weil uns die einfache WG einfach zu mainstream war.