Marketing mit Haltung: Warum bloße Lippenbekenntnisse nicht ausreichen
Wütende Kunden verbrennen ihre Nike-Sneaker, zerschneiden Nike-Socken und machen ihrem Ärger in sozialen Netzwerken Luft: „Ich würde lieber barfuß über Glas laufen, als ein Paar eurer Schuhe zu kaufen“, twittert beispielsweise Nutzerin RealShinyNickle. Ein anderer Nutzer nennt Nike-Sneaker „beschissen, kommunistisch, unamerikanisch.“ Was ist da passiert?
Im September 2018 feierte Nike das 30-jährige Jubiläum seines Slogans „Just do it.“ in einer Werbekampagne mit Colin Kaepernick. Der amerikanische Footballstar war zuvor massiv in die Kritik geraten und hatte sogar den Zorn Donald Trumps auf sich gezogen, während andere ihn als politischen Aktivisten feierten: Der ehemalige Quarterback des Football Teams San Francisco 49ers war 2016 vor einem Trainingsspiel für die Nationalhymne im Stadium nicht aufgestanden, sondern war auf die Knie gegangen. Mit dieser Aktion wollte er ein Zeichen gegen Polizeigewalt und Rassismus gegen schwarze Menschen setzen. Viele Sportler taten es ihm daraufhin gleich: Die Take-a-Knee-Bewegung wurde zum Politikum. Kaepernick selbst fand nach seinem Vertragsende 2017 keinen Verein mehr, der ihn aufnahm. Mit ihm als Gesicht der Jubiläumskampagne bezog Nike Stellung und manövrierte sich selbst in die Schusslinie. Nike tat damit etwas, das zwar nicht neu ist, mit der zunehmendem Polarisierung in der westlichen Welt aber immer häufiger auftritt: Haltung durch Werbung zeigen.
Marketing-Must-Have: Haltung
Nike ist nicht das einzige Unternehmen, das mit seiner Werbung eine politische oder sozialkritische Stellung bezieht. Im Januar 2019 erntete Gillette mit seiner Kampagne „We believe: The best Men can be“ ähnlich krasse Reaktionen in den sozialen Netzwerken. Der Werbespot zeigte übergriffige Chefs, prügelnde Jungs und Macho-Väter am Grill und stellte die Frage „Is this the best that Men can be?“. Im Sommer 2018 setzte Textmarkerhersteller Stabilo zusammen mit der Agentur DDB Deutschland historisch bedeutsame Frauen in Szene, die bis dahin nur wenig Beachtung gefunden hatten, wie etwa die Nasa-Mathematikerin Katherine Johnson, die unter anderem die Flugbahnen für die Apollo-11-Mission berechnet hat.
Die Liste an Beispielen von Marketingkampagnen mit gesellschaftlicher oder politischer Haltung ließe sich noch weiter fortsetzen. Marketing mit Haltung scheint also gerade en vogue zu sein. Doch je mehr Unternehmen sich zu diesem Schritt entschließen, desto häufiger wird der Vorwurf laut, Marken würden lediglich auf einen Zug aufspringen oder Trends mitnehmen, um sich ins Gespräch zu bringen. Neben inhaltlicher Kritik (und natürlich auch viel Lob) taucht dabei auch immer wieder die Frage auf, wie ernst es Unternehmen mit solchen Botschaften meinen, oder ob es sich dabei lediglich um „umsatzorientiertes Trittbrettfahren“ handelt. „Am Ende ist es ja egal, ob diese Unternehmen nur auf einen Zug aufspringen, wenn sie damit helfen, Aufmerksamkeit für eines der größten politischen Probleme unserer Zeit zu schaffen“, erklärt Daniela Blankenstein, Director Strategy der Mediaagentur Wavemaker. Wichtig sei dabei, eine glaubwürdige und konsistente Botschaft zu senden. Denn eine Haltung dürfe nicht mit dem Abschluss einer erfolgreichen Kampagne enden. Sie müsse sich im gesamten Handeln und Kommunizieren eines Unternehmens widerspiegeln: „Nichts wäre lächerlicher, als sich den Klimaschutz auf die Fahne zu schreiben und gleichzeitig Plastiktüten in jeder Filiale zu haben“, so Blankenstein.
Natürlich stehen, egal ob mit oder ohne Haltung, hinter jeder Werbekampagne geschäftliche Interessen. Unternehmen wollen Verkaufszahlen steigern und die Marke bekannter machen. Und Kampagnen mit einer starken Haltung heben sich eben von der Masse ab und haben das Potenzial, über das eigentliche Produkt hinaus zum Gesprächsthema zu werden. Doch gehen wirtschaftliche Interessen und eine echte Haltung überhaupt zusammen?
Echte Meinung oder wirtschaftliches Kalkül?
Eine globale Studie der Havas Group hat die Bedeutung von Marken für Konsumenten untersucht. Dabei gaben 75 Prozent der deutschen Befragten an, dass sie von Marken erwarten, sich aktiv an Lösungen für politische und ökologische Probleme zu beteiligen. Vor allem Millennials stellen hohe Erwartungen an Marken. Kunden kaufen heute nicht mehr nur Produkte irgendeines Unternehmens, sondern oft auch das mit der Marke verbundene Lebensgefühl. So glaubt mehr als die Hälfte der Befragten, dass Marken eine wichtige Rolle bei der Gestaltung einer besseren Zukunft spielen, und sie selbst durch ihre Marken- und Produktwahl darauf Einfluss nehmen können. 77 Prozent der Befragten kaufen daher bevorzugt Produkte der Marken, die mit ihren eigenen Werten übereinstimmen. Daher ist Haltung zeigen offensichtlich wichtig für Unternehmen. Das geht natürlich nur auf, wenn Unternehmen das über eine Kampagne hinaus tun und auch glaubhaft vermitteln.
Für Nike und andere Marken erwiesen sich ihre Kampagnen unterm Strich als erfolgreich: Nach einem Einbruch der Nike-Aktie bei Bekanntwerden der Kampagne mit Colin Kaepernick konnte der Sportartikelhersteller seinen Online-Umsatz im Jahr 2018 dennoch um 31 Prozent steigern. Dass eine bestimmte Haltung aber auch konkrete wirtschaftliche Nachteile für eine Marke bringen kann, zeigt das Beispiel Lonsdale: Seit den 1990er-Jahren hat die britische Sportartikelmarke mit einem rechten Image zu kämpfen. Die Kleidung erfreute sich wegen des großen Lonsdale-Schriftzuges auf der Vorderseite großer Beliebtheit unter Neonazis. Sie trugen über den T-Shirts Bomberjacken, sodass nur noch die Buchstaben NSDA zu sehen waren – in der Szene ein Verweis auf die NSDAP. Bereits 2004 hat Lonsdale mehrere Maßnahmen gestartet, um das rechte Image abzulegen. In der Kampagne „Lonsdale loves all Colours“ setzte das Unternehmen auf Models mit verschiedenen Hautfarben. 2005 sponserte es den Christopher Street Day in Köln, seit 2014 ist Lonsdale zudem Partner von Roter Stern Leipzig und dem SV Babelsberg, zwei politisch links ausgerichteten Fußballvereinen. Ebenfalls 2004 erfolgte ein Lieferstopp an Händler der rechten Szene. Nicht ohne Folgen: Der Umsatz brach deutschlandweit um 35 Prozent ein, in Sachsen sogar um 75 Prozent.
Dabei sein ist nicht alles
„Unternehmen wie Nike erkennen gesellschaftliche Strömungen extrem früh und besetzen die Themen entsprechend rechtzeitig“, erklärt Carsten Dorn, Geschäftsführer des Crossmedia-Vermarkters Score Media Group. „Sie sind First Mover und sichern sich durch polarisierende Werbung Aufmerksamkeit sowie neue, künftig relevante Zielgruppen und werden bestenfalls Kult.“ Doch wie schaffen es andere Unternehmen, sich ebenfalls mit bedeutsamen Botschaften und einer klaren Haltung zu etablieren? „Es ist im Prinzip ziemlich einfach, eine ‚richtige‘ Aussage zu finden, weil nichts falsch daran ist, sich für Frauenrechte oder gegen den Klimawandel und rechte Hetze einzusetzen“, erklärt Expertin Daniela Blankenstein von Wavemaker. Unternehmen und Marketingagenturen müssen sich also auf die Werte besinnen, die seit Jahren oder bestenfalls Jahrzehnten im Unternehmen gelebt werden, und daraus relevante Botschaften ableiten. Dadurch ändert sich auch die Aufgabe von Marketingagenturen. Statt in einzelnen, für sich stehenden Kampagnen kurzlebige Trends zu bedienen und schnelle Lacher abzugreifen, müssen sie Marken dabei begleiten, die eigene Haltung zu erforschen und herauszuarbeiten. Sie müssen Unternehmen dabei helfen, klare, gesellschaftlich relevante Botschaften zu entwickeln, um sich stärker von Wettbewerbern differenzieren und in der Aufmerksamkeitsökonomie durchsetzen zu können. Medien und Marken buhlen rund um die Uhr und auf verschiedensten Endgeräten um die Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppen. In dieser Content-Flut wird es (nicht nur) für Werber immer schwieriger, aus der Masse herauszustechen und – noch viel wichtiger – danach auch im Gedächtnis zu bleiben. Warum sollten sich Marken also ausgerechnet von den gesellschaftlich relevanten Themen fernhalten, die ihre Zielgruppen umtreiben?
Werte und Haltungen sind häufig bereits in der Unternehmensphilosophie verankert und zeigen sich beispielsweise in der Kommunikation, den Produktionsbedingungen und dem Umgang mit den eigenen Mitarbeitern. Daraus lassen sich dann nicht nur Marketingbotschaften ableiten, sondern auch Antworten auf Fragen wie „Welche Meinung vertritt das Unternehmen gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Themen, die nicht zwangsweise den Markenkern berühren?“ oder „Wie geht man mit sexistischen, rassistischen oder ableistischen Beiträgen in den eigenen Social-Media-Kanälen um?“. Wer dabei erst nach einem Statement und einer starken Haltung suchen muss, sollte es vielleicht lieber sein lassen, denn „Haltung kann man nicht mal so eben überstülpen wie einen hippen Pullover“, erklärt Guido Heffels, Mitgründer der Werbeagentur Heimat, die unter anderem für etliche antisexistische und antihomophobe Kampagnen der Baumarktkette Hornbach verantwortlich ist. „Versucht man sich einzuschleimen, geht das meist nach hinten los. Das ist in der Werbekommunikation nicht anders als im richtigen Leben“, weiß Heffels, „ist aber das Zeigen von Haltung nur die logische Konsequenz einer gelebten, grundsätzlichen Sichtweise auf die Welt und das Leben, dann ist das glaubwürdig und fernab von jedem Trend.“
Dass man sich schnell entlarven kann, wenn man mit augenscheinlich haltungsstarken Themen wirbt, ohne wirklich dahinterzustehen, zeigt eine aktuelle Kampagne des Wäscheherstellers Palmers. Das Unternehmen war in der Vergangenheit wegen Werbung mit Magermodels und der „Ästhetik eines Mädchenhändler-Tatorts“ in die Kritik geraten und versucht jetzt, auf den Body-Positivity-Zug aufzuspringen. Die aktuelle Bademode bewirbt Palmers unter dem Motto „Eine Welt, die passt“ mit normschönen, schlanken Frauen und Slogans wie „Eine Welt, in der Frauen Ecken und Kurven haben“ oder „… in der jede Figur eine Bikinifigur ist“. Dass die abgebildeten Frauen dennoch dem gängigen Schlankheitsideal entsprechen, und die abgebildeten Bademoden maximal bis Größe L und Körbchengröße C erhältlich sind, scheint niemanden im Marketingteam sonderlich gestört zu haben. Die Reaktionen im Netz fallen entsprechend kritisch aus. Besser läuft es bei diesem Thema für Gillette: Nach der „The best Men can be“-Kampagne wirbt die Marke mit Plus-Size-Model Anna O’Brien und schreibt dazu auf Twitter: „Venus hat es sich zum Ziel gesetzt, schöne Frauen in allen Formen, Größen und Hauttypen zu repräsentieren, da alle Arten von schöner Haut es verdienen, gezeigt zu werden. Wir lieben Anna, weil sie laut lebt und sich in ihrer Haut wohlfühlt – unabhängig davon, was die ‚Regeln‘ sagen, wie viel sie davon zeigen sollte.“ Gillette bricht hier ganz bewusst mit Sehgewohnheiten, nimmt negative Reaktionen in Kauf und setzt damit eine Kommunikation fort, die mit der „The best Men can be“ Kampagne ihren Anfang nahm. Um Werte wie Body-Positivity und die Verabschiedung von toxischen Geschlechterrollen weiterhin glaubwürdig für sich zu beanspruchen, muss das Unternehmen diese Linie auch künftig fortsetzen und auch in anderen Unternehmensbereichen leben. Besonders im Beautybereich, wo sich alles um Schönheit dreht, ist dies eine große Herausforderung, bietet aber auch ebenso großes Potenzial, sind langfristig ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen.
Marken brauchen Haltung
Auch ohne eine klare Positionierung in Werbekampagnen werden Unternehmen langfristig sicher nicht darum herumkommen, Stellung zu beziehen. In einem zunehmend aufgeheizten Klima – vor allem online – verschärft sich auch der Ton innerhalb einer Zielgruppe. Von Unternehmen wird daher in ihrer alltäglichen Kommunikation immer mehr erwartet, dass sie Haltung zeigen.
Werbetreibende sind nicht länger die Verführer, die dem Endverbraucher irgendwelche Produkte unterjubeln wollen. Sie verkaufen nicht mehr nur eine Marke, sondern auch das Lebensgefühl und Wertesystem, das zu dieser Marke gehört. In einer immer dichter werdenden Content-Flut kann daher nur bestehen, wer die dringendsten Themen seiner Zielgruppe anspricht. Und das sind nicht etwa kurzlebige Kaufimpulse, sondern persönliche und globale Konflikte wie Klimawandel, Rassismus, Gleichberechtigung und Diskriminierung. Eine klare Haltung wird künftig zu einem noch wichtigeren Alleinstellungsmerkmal. „Unter wirtschaftlichen und kommunikativen Gesichtspunkten ist Haltung ein zusätzlicher USP, den ich mir als Konsument dazu kaufen kann”, so Daniela Blankenstein, „und je nachdem wie stark dieser ist, werden plötzlich Marken für mich relevant, die es vorher nie waren.“
Nach Haltungs-Komödianten, Haltungs-Presse, Haltungs-Wissenschaftlern – jetzt auch noch die Haltungs-Werbung. Das geht einem wirklich auf den Sack – ganz ohne Haltung.