Microbrands: Wie kleine Marken den großen zu schaffen machen
Die Schlange vor dem Popup-Store ist lang, Dutzende Teenager stehen in Hannover vor der Gustavhalle Schlange, um shoppen gehen zu dürfen. Nicht genug, dass einige lange Anfahrten in Kauf genommen haben, nein, die geduldige Menge zahlt auch noch 5,90 Eintritt. Es handelt sich hierbei nicht etwa um ein neues Apple-Konzept, sondern um einen vorübergehenden Kosmetikladen der Youtuberin Dagi Bee: Auf deren Fans und Follower übt die persönliche Marke der Influencerin zumindest an diesem Tag eine höhere Anziehungskraft aus als die der etablierten Kosmetikhersteller.
Solche Microbrands, kleine, schnelle und höchst digitalaffine Marken, konzentrieren sich in der Regal auf ein einzelnes Produkt beziehungsweise ein klar umrissenes Segment und behalten dieses auch in späteren Ausbauphasen bei. Dahinter stecken oft, aber nicht ausschließlich, Startups oder Influencer. Und nicht nur die Kosmetikbranche kennt das Phänomen: So machen etwa die Koffer von Horizn Studios Samsonite zu schaffen, die Rasierer von Harry’s bringen Gillette ins Schwitzen, die Fertigsuppen von Little Lunch erobern Regale, die vormals Maggi vorbehalten waren, und die Uhren von Kapten & Son ticken gegen Junghans. „Eine Microbrand alleine wird keine große Marke zu Fall bringen“, sagt Martin Schulte, Partner bei der Unternehmensberatung Oliver Wyman. „Doch wenn mehrere Segmente eines etablierten Unternehmens angegriffen werden, kann das Umsatzeinbußen nach sich ziehen.“ In einer Prognose hat Oliver Wyman den aktuellen Marktanteil der Microbrands am deutschen Konsumgütermarkt auf vier bis fünf Prozent geschätzt, Tendenz steigend: Zwar seien Microbrands im Schnitt 266-mal kleiner als etablierte Hersteller, wüchsen aber dafür 18-mal schneller. Innerhalb der nächsten fünf Jahre könnte sich der Marktanteil demnach auf 25 Prozent erhöhen.
Was Microbrands besser machen
Das Erstarken dieser neuen, digitalen Klein- und Kleinstmarken betrifft auch Onlinehändler. Es muss sich aber nicht negativ auswirken: Etablierte können den Trend nutzen, um neue Impulse zu setzen.
Das Erfolgsrezept der Microbrands besteht aus mehreren Zutaten. Zum einen bewegen sie sich im digitalen Umfeld sehr sicher und beherrschen die Markenbildung dort mühelos. Ein schlauer Mix aus digitalen Marketingkanälen wie bei Kapten & Son ist beispielhaft: 730.000 Instagram-Follower hat der 2014 von drei Studenten in Münster gegründete Uhrenhersteller gewonnen, indem er als einer der ersten in Deutschland auf Influencer-Marketing setzte. Er heuerte kleinere Influencer für Produktempfehlungen und größere für Branding-Kampagnen an. Heute vermarktet Kapten & Son seine Produkte auch via Newsletter, Facebook, Snapchat, Twitter und Youtube.
Zum anderen nutzen Microbrands in der Regel die Vorteile, die sich durch Ausschaltung des Zwischenhandels ergeben, gut aus. Im Gegensatz zu etablierten Marken müssen sie keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten vorhandener Vertriebsstrukturen nehmen. Sie verkaufen direkt im Onlineshop, auf Marktplätzen oder in sozialen Netzwerken an Endkunden, sind aber auch offen für Direkteinkäufer großer Ketten. Das spart Vertriebskosten und hält die Struktur flach.
Eine weitere Zutat ist die absolute Kundenzentriertheit der Microbrands. Die US-Microbrand Allbirds etwa will den bequemsten Schuh der Welt herstellen. Aufgrund von Kundenfeedback in Mails und Bewertungen hat der Hersteller mehrfach Nähte versetzt oder das Material angepasst – und zwar innerhalb kürzester Zeit: „Sie haben sich nicht gescheut, ein Modell achtmal in einem Jahr zu überarbeiten“, erklärt Martin Schulte. Etablierte Marken sind meist nicht so nah am Kunden, dass deren Feedback in mehreren Iterationsstufen innerhalb eines Jahres umgesetzt werden könnte.
Microbrands sind zudem beweglicher und müssen sich nicht dem Druck von großen Mitbewerbern widersetzen. Ihre mangelnde Größe ist ein Vorteil. Bevor etablierte Marken die konkurrierende Minimarke bemerken, ist es oft schon zu spät: Das Startup Little Lunch etwa vertrieb zuerst in einem schnell aufgesetzten Onlineshop Fertigsuppen im Abo. Jetzt sind die Suppen, Instantsuppen und Smoothies in vielen Supermärkten und Drogerien zu finden und nehmen Maggi Marktanteile ab.
Was der Onlinehandel von Microbrands lernen kann
Nicht alles, was Microbrands auszeichnet, ist Onlinehändlern sowie etablierten Marken fremd. So sollten diese etwa die Klaviatur der digitalen Marketingkanäle längst auch beherrschen. Beim Thema Emotionalisierung dagegen kann sich der eine oder andere aber noch etwas von Microbrands abschauen.
Noch wichtiger ist allerdings, dass sich anhand der Microbrands ein Trend studieren lässt, der dem Onlinehandel ebenfalls blüht: das Ende des sogenannten Private-Label-Marktes. Es reicht nicht mehr, sich selbst zur Marke zu machen. Auch die beliebte Strategie, minimale Änderungen an Standardprodukten von Auftragsfertigern vornehmen zu lassen und dann diese White-Label-Produkte selbst zu labeln und zu verkaufen, ist längst nicht mehr von nachhaltigem Erfolg gekrönt – wenn sie es je war.
Händler müssen selbst zum Hersteller werden: dieses Credo kann der Onlinehandel aktuell hervorragend an den Entwicklungen der Microbrands nachvollziehen. Die Produktion selbst zu kontrollieren, ist in vielen Branchen ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Zukunft. Es sichert Innovation, hilft dabei, kundenzentriert zu agieren, und differenziert entscheidend von anderen Marken und Händlern. Little Lunch etwa hat sich, ebenso wie das US-Startup Harry’s, genau mit dieser Strategie einen weiteren Vorteil verschafft, der das Unternehmen der Brüder Denis und Daniel Gibisch von anderen Microbrands differenziert: Beide Startups kontrollieren die Produktion und lassen nicht bei Auftragsfertigern produzieren. Little Lunch fertigt in den eigenen Räumen selbst. Klingenanbieter Harry’s hat sich in Deutschland eine hundert Jahre alte Rasierklingenfabrik gekauft: Als die Gründer feststellten, dass weltweit fast alle Fertigungsstätten entweder in der Hand von Gillette oder Schick (Wilkinson Sword) waren, sammelten sie in einer eigens anberaumten Kapitalrunde den Kaufpreis für die Feintechnik GmbH in Eisfeld. Harry’s kann dadurch jetzt selbst Produktinnovationen entwickeln und umsetzen, die exklusiv dem eigenen Unternehmen dienen.
Onlinehändler verfügen wie Microbrands oft über eine Nähe zum Kunden, die großen Marken fehlt. Diesen Vorteil sollten sie für die Produktentwicklung nutzen, um den Nutzen eines Produkts gemeinsam mit den Kunden zu erörtern und zu optimieren. Nur wer ganz dicht an diesen dran ist, kann schnell Innovationen entwickeln, ganz nach dem Vorbild von Allbirds. So kann Unzufriedenheit bei den Kunden verhindert und bares Geld gespart werden. Denn wenn die Produktion sofort angepasst wird, gelangen erst gar keine keine verbesserungswürdigen Produkte in den Verkauf.
Der Aufstieg der Microbrands hat aber nicht nur für die Onlinehändler selbst Folgen, sondern auch für das ganze Ökosystem. Etliche Softwareprodukte, Dienstleister und Agenturen arbeiten dem Handel in irgendeiner Form zu. Beispielsweise werden Werbeagenturen, ERP-Hersteller, Berater und Marktforscher betroffen sein. Deren Angebot besteht heute oft aus teuren und aufwendigen Angeboten oder Produkten speziell für etablierte Marken. Der Aufstieg von Microbrands, für die solche Enterprise-Produkte schlicht zu teuer sind, wird das Preisniveau langfristig absenken.
Hier wird vermutlich ein Trend einsetzen wie vor Jahren bei den Werbeagenturen: Es wird hauptsächlich über den Preis eingekauft. Die hohe Anzahl der Microbrands stellt den Markt rund um den Handel vor die Frage, ob er lieber auf Microbrands zugeschnittene Produkte entwirft oder weiter für große, etablierte Marken zimmert. Der durchschnittlich erzielbare Preis sinkt dann, aber die Anzahl der vertriebenen Produkte, Dienstleistungen oder SaaS-Abonnements wird zunehmen. Für viele könnte es sich als einträglicher erweisen, größere Produktmengen abzusetzen, als hohe Preise bei einer kleineren Menge an Produkten zu verlangen.
Aber der Markt für Software und handelsnahe Dienstleistungen aller Art wird auch schrumpfen. Viele neue Microbrands nutzen Startup-Inkubatoren – Unternehmensbrutkästen, die viel Know-how an einer Stelle konzentrieren und ihnen passendes Werkzeug an die Hand geben. Inkubatoren unterstützen mit hauseigenen Experten, Entwicklern und oft auch SaaS-Produkten. Wer auf so viele Ressourcen zurückgreifen kann, wird mangels Bedarfs auch kein großes Budget für externe Berater oder Dienstleister einplanen.
Ausblick
Besonders in den Kategorien Sport und Hobby, Brillenmode, Gesundheit, Haus und Garten sowie bei Getränken setzen Microbrands sich bereits jetzt erfolgreich gegen etablierte Hersteller durch. „Wir erwarten, dass die großen Marken in den nächsten Jahren auch bei Tierzubehör, Schönheit und Pflege, Luxuswaren und Unterhaltungselektronik vermehrt Anteile an Microbrands verlieren werden“, sagt Schulte. Gleichwohl sollen aber gerade Marken von technischen Produkten weniger durch Microbrands bedroht sein. In diesem Bereich dauert es laut dem Unternehmensberater deutlich länger, bis sich eine der neuen Marken einen Platz erkämpft hat.
Ein weiteres Argument könnte die Großen beruhigen: Im Vergleich zu etablierten Marken sind die Fluktuationen am Markt größer – kleine Marken kommen, kleine Marken gehen. Das kann negative Folgen für den Kunden haben: Stirbt eine Microbrand, gibt es auch Gewährleistung und Kundenservice nicht mehr. Wenn Konsumenten sowohl mit den Produkten als auch mit den Microbrands selbst schlechte Erfahrungen machen, könnte es zu einer Pendelbewegung am Markt kommen, die die traditionellen Marken wieder erstarken lässt.
Große Hersteller wie L’Oreal reagieren ohnehin schon längst auf die zunehmende Stärke der Microbrands. Sie finanzieren entweder externe Startups selbst, bei denen sie im Gegenzug am Gewinn beteiligt sind, oder bauen intern Microbrands auf, wie die Rasiermarke House 99 von David Beckham. Frei nach dem Motto: Sich selbst zu kannibalisieren, ist immer noch die beste Lösung.