Mobilität der Zukunft: „Sie haben Ihr Ziel noch nicht erreicht …“

Die App Jelbi zeigt nicht nur an, wann die Straßenbahn ankommt, sondern verweist auch auf Mobilitätspartner, mit denen der Weg fortgesetzt werden kann. (Abbildung: Jelbi; Shutterstock/Farknot Architect)
Die Zukunft der Mobilität liegt in einer Sackgasse. Genauer gesagt: Versteckt hinter einem Einkaufszentrum in Berlin, am Ende einer Stichstraße. Auf einem recht schmucklosen Parkplatz, ein paar Meter hinter dem S-Bahnhof Schönhauser Allee im Stadtteil Prenzlauer Berg, wurde hier im Frühsommer die zweite „Jelbi“-Station der Stadt eröffnet. Unter diesem Namen haben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) eine App auf den Markt gebracht, in der sich die unterschiedlichsten Mobilitätsarten verbinden sollen. Nahverkehr, Carsharing, Leihräder und E-Scooter sind integriert, Mitfahrdienste sollen folgen. Die dazugehörige App zeigt parallel die Routen und Preise für alle Verkehrsmittel an – und will die Abrechnung in einem Schritt zusammenfassen. Eine Zeitenwende solle das neue Angebot einläuten, ließ sich BVG-Chefin Sigrid Nikutta zum App-Start zitieren.
Auf dem Parkplatz, gesichert durch eine gelb-schwarze Schranke, sollen Nutzer viele dieser Möglichkeiten an einem Ort finden. Viel los ist nicht. Eine halbe Stunde vergeht bei einer sommerlichen Stippvisite, ohne dass irgendjemand eines der Fahrzeuge vom Platz fährt. Elektroroller sind nicht zu sehen, dafür Mieträder und Leihwagen von insgesamt fünf verschiedenen Anbietern. Einige davon elektrisch angetrieben und mit den Ladesäulen verbunden, die eine Seite des Parkplatzes säumen.
Aus der U-Bahn auf den Roller für die letzten Meter bis nach Hause, mit der Straßenbahn zum Leihwagen, um die Umzugskisten zu transportieren: Die Umstiege zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln sollen dank Jelbi deutlich einfacher werden. Das Hauptziel: Die Notwendigkeit für ein eigenes Auto reduzieren. Die BVG glaubt an die App und das Konzept: Seit dem Frühjahr gibt es die erste Jelbi-Station nahe einer U-Bahn-Station in Kreuzberg bereits, mindestens zwei weitere Knotenpunkte sind geplant. In den App-Stores wird das recht junge Programm aktuell noch kritisch betrachtet. 2,9 von 5 Sternen gibt es Anfang August 2019 bei Apple. Doch die BVG glaubt trotz mancher Startschwierigkeiten an das Potenzial der Anwendung: „Mit Jelbi sind wir ein zentraler Teil der Mobilitätswende“, sagt BVG-Chefin Nikutta im Juni 2019.

Der Ridepooling-Anbieter Clevershuttle bringt seine Fahrgäste von Tür zu Tür – wenn möglich, werden weitere Personen, die ein ähnliches Ziel haben, mitgenommen. Mehrheitseigner ist die Deutsche Bahn. (Foto: Clevershuttle)
Ob Jelbi, Moia, Clevershuttle oder Freyfahrt: Die Zahl an Pilot- und Praxisprojekten – und kreativen Namen für diese Versuche – war in Deutschland noch nie größer als im Jahr 2019. Startups und Konzerne führen dabei vor allem zwei Entwicklungen zusammen: Alternative Antriebe, insbesondere Elektromotoren, sind weit genug entwickelt, um in Shuttles oder Sharing-Autos eingesetzt zu werden. Und Software kann mittlerweile in Millionen und Milliarden von individuellen Reiseplänen Gemeinsamkeiten erkennen. Die passende Vernetzung von Verkehrsmitteln, wie Jelbi es versucht, liegt dabei im Trend. Die Deutsche Bahn werkelt im Hintergrund an einer Generalüberholung ihres Navigators. Hier könnten in Zukunft neben Bahnen und Bussen auch Car- und Bikesharing-Angebote auftauchen.
Eine entscheidende Frage dabei: Schafft es der Verkehr von morgen, sich selbst zu regeln? Oder braucht es ambitionierte Vorschriften, damit die Verkehrswende an Fahrt aufnimmt? Denn es wird darauf ankommen, dass sich Technik, Infrastruktur und Einstellungen in der Gesellschaft gleichzeitig ändern. „Mobilität berührt jeden von uns tagtäglich: Sie ist Teil individueller Freiheit und eine Grundlage für Wohlstand und Beschäftigung“, sagt Henning Kagermann. Der ehemalige SAP-Chef leitet seit September 2018 die Nationale Plattform zur Zukunft der Mobilität, kurz NPM. In dem Gremium, eingerichtet auf Initiative der Bundesregierung, diskutieren Politiker, Forscher und Branchenvertreter über mögliche Lösungen.
Gesucht wird der Mobilitätsmix von morgen: Alternative Antriebe sind ein wichtiger Schritt, um den Schadstoffausstoß weiter zu reduzieren. Doch das reicht nicht. „Die Umwelt- und Klimaentlastung im Personenverkehr kann letztlich nicht allein durch technische Verbesserungen am Fahrzeug erreicht werden“, fasst das Umweltbundesamt zusammen. Stattdessen sieht die Behörde weitere wichtige Ziele: Der Verkehr muss viel effizienter werden –, hier wird heute bereits das Potenzial von Software und Vernetzung sichtbar. Dazu kommt es auf eine kluge Mischung der Verkehrsmittel an. Statt der Allzweckwaffe Auto könnte das eine Kombination verschiedener Fahrzeuge sein. „Wir stehen vor einer großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderung, aber auch vor einer ebenso großen Chance, gleichzeitig unsere Mobilitäts- und Lebensqualität zu verbessern“, sagt Kagermann.
Gemeinsam gegen den Feinstaub
Der Druck, neue Wege zu finden, steigt stetig. Denn die Belastung von Klima und Gesundheit durch den Verkehr ist in Deutschland enorm. Wer sich Daten des Umweltbundesamtes durchliest, möchte sofort die Flugvergleichs-App auf dem Smartphone löschen und SUV in einer Garage verstecken. Zwar sinken seit den 1990er-Jahren die meisten ausgestoßenen Schadstoffe im Verkehrssektor –, allerdings immer weniger stark. „Im Schnitt belasten Pkw heute Umwelt und Klima weniger als in der Vergangenheit“, attestiert die Behörde. Gleichzeitig heißt es jedoch: „Das Mehr an Verkehr hebt die bislang erreichten Verbesserungen im Klima- und Umweltschutz zum Teil wieder auf.“ Aktuell kommen stetig Möglichkeiten dazu. Bestehende Fahrzeuge verschwinden aber nicht: 47,1 Millionen Personenkraftwagen meldete das zuständige Bundesamt zum Jahreswechsel 2018/2019 – eine gute halbe Million mehr als im Vorjahr.
Wie dramatisch die Lage ist, lässt sich – unter anderem – in Stuttgart beobachten: An einer vielbefahrenen Straße nahe dem Hauptbahnhof duckt sich ein grau-gelblicher Container, versehen mit Röhren und Antennen. Wer sich auf den schmalen Fußweg entlang der Bundesstraße traut, kann einen QR-Code auf dem Container scannen – und sieht live die Schadstoffbelastung. Rund um den Messcontainer hat der Autozulieferer Mann+Hummel mehrere Boxen aufgestellt, die wie gestapelte Bienenkörbe aussehen. Groß mit „Feinstaubfresser“ beschrieben, sollen die Filter helfen, die Schadstoffe in der engen Straße zu reduzieren.
Trotzdem: Im ersten Halbjahr 2019 löste Stuttgart 39 Mal „Feinstaubalarm“ aus, weil die Grenzwerte fast erreicht oder überschritten wurden. Mittlerweile hat die Stadt dafür Routinen erarbeitet. Gilt der Alarm, wird das Nahverkehrsticket zwei Euro günstiger, und die elektrisch angetriebenen Smarts von Car2go kosten vier Cent weniger pro Minute. Ingenieurskunst als Nothilfe, neue Mobilitätskonzepte als Rettungsanker.
Doch wo nur im Notfall der Umstieg subventioniert wird, bleibt die Attraktivität überschaubar. Die sogenannten Ridesharing- oder -pooling-Anbieter, die in den letzten Monaten immer häufiger im deutschen Alltag vorkommen, wollen sich als echte Alternative positionieren. Sie zielen auf einen Platz irgendwo zwischen Bus und Taxi. Angefahren werden dabei nur die Strecken, die wirklich nachgefragt werden.
Beispielhaft stehen sie zudem für die Chancen und Herausforderungen, vor denen viele neuen Konzepte im Mobilitätssektor stehen. Denn im Kern arbeiten sie an einer der großen Fragen der Verkehrswende: „Wie kann man Fahrer überreden, vom Individualverkehr auf den kollektiven Verkehr umzusteigen?“, formuliert es Blochin Cuius. Er ist Mitgründer des Anbieters Mvmant. Das Startup hat gerade ein erfolgreiches Testprojekt in Dubai umgesetzt. Gemeinsam mit der dortigen Verkehrsbehörde sollte ein neu eröffneter IT-Campus angebunden werden. Dafür kreisten Kleinbusse auf festgelegten Routen durch Dubai und konnten von den Angestellten per App an eine der zahlreichen virtuellen Haltestellen beordert werden. Im Hintergrund lernte die Software mit: Welche Verbindungen waren besonders häufig nachgefragt, wo mussten Fahrgäste zu lange warten? Als die Planer feststellten, dass aus einem Bürokomplex besonders viele Buchungen erfolgten, eröffneten sie kurzerhand einen neuen Haltepunkt direkt vor dem Gebäude. Nach eigenen Angaben gelang es Mvmant, durch das algorithmus-optimierte Sammeltaxi die Zahl der gefahrenen Kilometer auf knapp die Hälfte zu reduzieren. „Sinkt die Auslastung an einigen Stellen der Route, kürzt der Bus einfach ab“, sagt Cuius.
„Es geht heute darum, im Kleinen auszuprobieren, wofür es im großen Rahmen noch gar keine Erlaubnis gäbe.“
Dieses Ridesharing kommt auch in Deutschland an. In Hamburg will Volkwagen gerade seinen Shuttledienst Moia auf 500 Elektrokleinbusse ausbauen, die softwareoptimiert ein Netz von 10.000 virtuellen Haltestellen ansteuern. Clevershuttle, an dem die Deutsche Bahn seit 2018 die Mehrheit hält, fährt in Kooperation mit Verkehrsverbünden in bald neun deutschen Städten – auch in Stuttgart.
Dort lud die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Anfang Juli 2019 zum „Tag der nachhaltigen Mobilität“. Neben Cuius‘ Vortrag analysierten Bosch-Ingenieure hier das Potenzial von „E-Fuels“, synthetisch erzeugten Kraftstoffen, und zwei Studenten stellten ihr Forschungsprojekt vor: Monatelang haben sie ihren Weg von der Schwäbischen Alb bis in die Stuttgarter Innenstadt mit verschiedenen Fahrzeugen zurückgelegt und nachgemessen, wie viel Energie tatsächlich verbraucht wird – inklusive der Erzeugung von Strom, Diesel oder Benzin. Hier zeigte sich: Wer die energieintensive Produktion der Batterien mit berücksichtigt, muss lange mit dem Elektroauto fahren, bis tatsächlich CO2-Emmissionen eingespart werden. Und dennoch: Je grüner der deutsche Strommix wird, desto stärker sind die Einspareffekte. Das Studierendenprojekt zeigt, wie komplex die Mammutaufgabe „Verkehrswende“ ist.
Vor der Hochschule, nur zehn Fahrradminuten vom Feinstaubmesscontainer entfernt, präsentierten unter anderem auch die lokalen Stadtwerke ihr Ridesharing-Angebot. Sie kooperieren mit Moovel, einer Tochter von Lokalmatador Daimler. Im Herbst könnte in der Landeshauptstadt noch ein weiterer Testbetrieb, der von Cuius‘ Mvmant, dazukommen.
Im Idealfall teilen sich so mehrere Menschen ein Fahrzeug und kommen trotzdem ohne große Umwege und Zeitverluste zu ihrem Ziel. Noch müssen sich viele der Modelle jedoch bewähren. Der Berliner Berlkönig, eine Kooperation von BVG und Viavan, hat Ende Juli 2019 einige Daten vorgelegt. Seit Herbst 2018 sind die Fahrzeuge im Osten der Stadt unterwegs. 410.000 Menschen seien in der Zeit mit den schwarz-gelben Kleinbussen befördert worden. In 77 Prozent der Fälle saßen mindestens zwei Personen im Van, in 44 Prozent der Fälle konnten zwei unterschiedliche Fahrtwünsche in einer Tour gebündelt werden. Und drei Viertel der Nutzer, so steht es zumindest in einer Broschüre, könnten sich vorstellen, zukünftig auf den Zugang zu einem Privatwagen zu verzichten. Andere Studien beurteilen das Potenzial der neuen Anbieter deutlich skeptischer. Selbst in deutschen Großstädten mit kurzen Wegen, solidem Nahverkehr und steigenden Wahlergebnissen der Grünen tun sich neue Mobilitätskonzepte noch schwer. Nur ein Viertel der Bewohner in den zehn größten deutschen Städten weiß überhaupt von den Möglichkeiten geteilter Verkehrsmittel. Das will das Softwareunternehmen Quantilope in einer Umfrage herausgefunden haben.
Klar ist auch: Noch probieren sich die Ridesharing-Dienste in eng abgegrenzten Testszenarien aus. Viele Verkehrsbetriebe testen ihre Apps in den späten Abendstunden –, aber nicht im Berufsverkehr, wo heute schon viele Busse und Bahnen überfüllt sind. Natürlich kommt auch der Rebound-Effekt zum Tragen: Wer weiterhin mit dem eigenen Auto fährt, aber am Wochenende nun den Ridesharing-Van statt der Straßenbahn in die Stadt nimmt, reduziert seinen ökologischen Fußabdruck nicht. „Wollen neue Mobilitätsanbieter die Autofahrer für sich gewinnen, konkurrieren sie nicht nur mit dem Auto als Fortbewegungsmittel, sondern gleichzeitig mit dem Auto als Statussymbol“, sagt Quantilope-Mitgründer Peter Aschmoneit.
Je ländlicher zudem eine Region ist, und je individueller die Wege, desto hoffnungsloser sind die derzeitigen Ridesharing-Angebote. Wer sein Kind zum Fußballtraining fahren muss und auf dem Rückweg den Wochenendeinkauf erledigen will, der wird nicht mehrfach auf einen Elektrobulli warten, der seine Runden durch einen Landkreis dreht.
Zwei große Entwicklungen zeichnen sich in Stadt und Land gleichermaßen ab: Zum einen dürfte der geteilte Individualverkehr viel günstiger und besser werden. Dann könnte man irgendwann mit einem Klick das passende Elektrofahrzeug ordern, das dann vielleicht sogar autonom zum Abholen vorfährt. Zum anderen zielen viele Vorhaben darauf ab, den öffentliche Nahverkehr in Zukunft individueller zu machen. Die NPM ist optimistisch, ohne jedoch konkret zu werden: Digitale Tools könnten individuelle Mobilitätsbedürfnisse in Zukunft viel besser erfüllen, sagt Vorsitzender Kagermann, „insbesondere in bisher unterversorgten Regionen und ausgerichtet auf die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft.“
Die Frage ist, welches Komfortlevel die öffentliche Hand subventionieren will. Überhaupt: Staat, Land und Kommunen werden in den kommenden Jahren maßgeblich darüber entscheiden, wie die Verkehrswende vorankommt. Aktuell stehen statt klimafreundlichen Entscheidungen häufig noch juristische Kleinkriege im Vordergrund. Clevershuttle etwa musste in Stuttgart mit den Behörden ringen, um die gewünschte Zahl der Fahrzeuge auf die Straße bringen zu dürfen. Moia wurde in Hamburg kurz nach dem Start durch einen Taxiunternehmer ausgebremst, der vor Gericht einen Stopp für die Ridesharing-Flotte erwirken wollte. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat angekündigt, dass Personenbeförderungsgesetz überarbeiten zu wollen. Bis es soweit ist, operieren viele Anbieter in Grauzonen oder mit Ausnahmegenehmigungen.
Der Status Quo bestimmt daher heute noch den Horizont. In Städten wird um zusätzliche Stellplätze für Leihfahrräder oder E-Scooter gestritten, während Autos weiterhin großzügig die Straßenränder belegen dürfen. Mit mutigen Schritten könnten es sich Lokalpolitiker zudem rasch mit ihrer Wählerschaft verscherzen. Eine City-Maut würde beispielsweise den Verkehr in vielen staugeplagten deutschen Innenstädten massiv entlasten. Doch eine Umfrage des Nachrichtenmagazins Spiegel aus dem Frühjahr 2019 zeigt: Die überwiegende Mehrheit der Deutschen wäre gegen so eine Zusatzgebühr für die Fahrt in die Innenstadt.
Der Blick aufs große Ganze fällt dabei nicht immer leicht: Schließlich treten viele Mitspieler der Verkehrswende mit unterschiedlicher Motivation an. Konzerne wie Daimler positionieren sich bereits als Mobilitätsdienstleister – und verlieren trotzdem an der Börse an Wert, sobald die Verkaufszahlen der Autos heruntergehen. Viele Gründerinnen in Startups sind getrieben von einer größeren Idee für eine neue Mobilität, werden aber irgendwann von ihren Investoren dazu gedrängt, auf die lukrativen Projekte zu setzen. Als Vorzeigeprojekt in großen Metropolen wie Dubai oder Singapur mitzufahren, mag finanziell attraktiver sein, als mit chronisch defizitären Verkehrsverbünden in Deutschland um Kilometerpauschalen zu feilschen. Und Politiker mögen vielleicht Interesse an alternativen Konzepten haben – müssen aber gleichzeitig an den Autozulieferer im Wahlkreis denken.
Ausbau der Ideen
Noch sind es daher abgegrenzte Räume, in denen getestet wird. Das gilt für die ausgewählten Strecken in Dubai ebenso wie für Berlin. Bis etwa die schwarz-gelben Minibusse des Berlkönigs wirklich für leerere Straßen in der Hauptstadt sorgen, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Das zeigt der Hauptwunsch der Nutzer: Fast alle forderten eine Ausweitung des Geschäftsgebiets, das aktuell nur im Rahmen einer Sondererlaubnis des Senats existiert. „Es geht heute darum, im Kleinen auszuprobieren, wofür es im großen Rahmen erst gar keine Erlaubnis gäbe“, sagt Frank Ruff bei seinem Vortrag am „Tag der nachhaltigen Mobilität“ in Stuttgart. Als „Head of Pioneering“ ist er so etwas wie der oberste Zukunftsberater von Daimler.
In seinen Folien ist eine Vision bereits zu erkennen: Aus dem „Olga-Eck“, einem verkehrsumtosten Verkehrsknotenpunkt in der Stuttgarter Innenstadt, wird ein lebendiger Platz. Autonom gesteuerte Fahrzeuge teilen sich den Straßenraum mit den Fußgängern, darüber schwebt eine Seilbahn als Transportmittel für größere Entfernungen. Lieferfahrzeuge fahren gar nicht mehr bis direkt vor jedes Geschäft, ihre Pakete werden in Tiefgaragen in elektrisch angetriebene Lastenräder umgeladen. Viele Ideen, die in diesem Ausblick zusammenkommen – und den Verkehr im Ganzen verändern. „So kann man den Umbau der Stadt kollaborativ gestalten“, sagt Ruff.
Irgendwann müssen die Dimensionen jedoch größer werden, damit eine Wende gelingen kann. Der sogenannte „Deutschland-Takt“ könnte die Weichen dafür stellen. Dahinter steckt ein zeitlich und organisatorisch abgestimmter Fahrplan, Vorbild ist die Schweiz: Am größten Hauptbahnhof in Zürich etwa treffen die Züge aus allen Landesteilen jede Stunde ungefähr bis kurz vor halb ein – und fahren nach einigen Minuten Umsteigezeit ab Minute 32 wieder ab. An vielen Bahnhöfen entlang der Strecke warten dann Busse oder Regionalzüge, die die Reisenden zu ihrem Ziel bringen. Das verringert die Umsteigezeiten und erhöht die Planungssicherheit.
Bis 2030 soll ein ähnliches System auch in Deutschland entstehen, wo das Netz durch Querverbindungen und viel mehr Knotenpunkte jedoch ungleich komplexer ist. Wer heute in das gigantische Bauloch am Stuttgarter Hauptbahnhof starrt, der ahnt, dass dafür auch ein teures und zeitaufwändiges Update der Infrastruktur nötig ist. Die Idee geht jedoch in die richtige Richtung: „Nahtlose Übergänge zwischen verschiedenen Mobilitätsanbietern erleichtern den Umstieg zwischen individuellem Reisen und öffentlichem Verkehr“, sagt NPM-Vordenker Kagermann. „So entstehen positive Anreize, auf umweltfreundliche Verkehrsmittel umzusteigen.“
Ein Umstieg ist möglich
An anderer Stelle fordert die NPM (Nationale Plattform zur Zukunft der Mobilität) mehr Tempo: Schon 2020 oder 2021 soll in Deutschland eine ganze Region auf „Digitalisierte Mobilität“ getestet werden. Das Ziel: Die Datenbasis stärken – und die Akzeptanz für neue Ideen auch bei Auto-Enthusiasten fördern. Mitmachen dürfen sollen alle interessierten Anbieter, fordert die NPM. Eine passende Region muss allerdings erst noch gefunden werden. „Wir müssen Erfahrungen sammeln und zugleich den vernetzten, automatisierten Verkehr für die Menschen greifbar und erlebbar machen“, sagt Kagermann.
Spannend wird die Frage, aus welcher Richtung die entscheidenden Impulse kommen. Entwickeln sich Antriebe, autonomes Fahren und Vernetzung so rasch weiter, dass Selbstfahren und -besitzen wirtschaftlich und praktisch keinen Sinn mehr macht? Hält die „Fridays for Future“-Generation an ihren Idealen fest und erhöht so den Druck auf Unternehmen und Politik? Oder muss doch die erste Großstadtbürgermeisterin voranpreschen, ihre Innenstadt für Autos sperren – und so vielleicht ein positives Beispiel setzen?
Ein paar Folien weiter im Vortrag von Daimler-Manager Ruff taucht ein solches Beispiel aus Seoul auf. In der südkoreanischen Hauptstadt wurde vor knapp 15 Jahren eine Innenstadtautobahn abgerissen. Der kanalisierte Fluss darunter wurde zum Herzstück eines großen Parks und einer Fußgängerpromenade. Cheonggyecheon, so der Name des restaurierten Gebiets, krempelte den Stadtteil um: Die grüne Lunge reduziert die Temperaturen in dem sonst dicht bebauten Viertel um mehr als drei Grad, die Schadstoffbelastung in der Luft ging um mehr als ein Drittel zurück. Aus einer Verkehrsader wurde eine Lebensader.