Die Null-Euro-Jobber: Roboter in der Logistik
Entspannt steht die Packerin am Rande eines gekennzeichneten Bereichs in der Lagerhalle und wartet. Ein kleiner orangefarbener Roboter saust heran, auf seinem Rücken: ein ganzes Regal. Die Packerin entnimmt ihm ein Produkt und der Roboter entfernt sich wieder – nur, um Platz zu machen für den nächsten kleinen Transporthelfer. In einer anderen Lagerhalle, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort fährt gemächlich ein etwa mannshoher grauer Turm durch den Gang, passiert einen menschlichen Kollegen, hält vor einem Lagerregal und entnimmt einen kleinen Karton. Diesen packt er in sein Inneres und fährt zurück zum Packplatz, wo ein Packer auf genau diesen Karton wartet.
Das ist keineswegs Zukunftsmusik, sondern Alltag in den Lagern von Amazon, dem Speditions- und Logistikunternehmen Meyer & Meyer und einigen anderen deutschen Händlern, die schon auf Robotik im Lager setzen. In Zukunft werden diese Szenarien noch öfter in Lagerhallen zu sehen sein, denn die Logistik der E-Commerce-Branche ist dringend auf entsprechende Technologien angewiesen.
Denn der Onlinehandel wächst in Deutschland zweistellig, was nicht zuletzt die Paketdienste zu spüren bekommen: 2017 fuhren diese laut Bundesverband Paket und Expresslogistik (BIEK) rund elf Millionen Sendungen pro Tag durch Deutschland, im Vorjahr waren es noch zehn Millionen. Doch bevor die Pakete in den Transportfahrzeugen landen, müssen sie erst durch ein Logistikzentrum verschickt werden, entweder beim Händler selbst oder bei einem damit beauftragten Fulfilment-Dienstleister. Doch die kämpfen mit Problemen. Mathias Krage, Präsident des mächtigen Deutschen Speditions- und Logistikverbandes, sieht die Branche am Limit: So viel Personal wie sie bräuchte, bekommt sie schon lange nicht mehr. Und die Arbeitsplätze, die geschaffen werden, stehen ständig in der Kritik, weil sie sich in der Regel auf die Losung „wenig Geld für harte Arbeit“ reduzieren lassen.
Da bleibt die Automatisierung, die mit maschineller Hilfe den Menschen die Arbeit erleichtern und fehlende Arbeitskraft ersetzen kann, oftmals der einzige Ausweg. Ist die technologische Entwicklung also vielmehr eine willkommene Entlastung als eine Bedrohung für zahlreiche Arbeitsplätze? Leser der viel zitierten Studie von Carl Benedikt Frey und Michael Osborne von der Oxford University 2013, die auf den potenziellen Wegfall vieler Jobs in der Logistikbranche hinweist, sollten zumindest im Hinterkopf haben, dass viele der Mitarbeiter, deren Jobs da theoretisch wegbrechen, aktuell gar nicht existieren.
Die Ängste vor einer vollständigen Automatisierung, die in den dazugehörigen Diskussionen hochgespült werden, sind beim aktuellen Stand der Technik ohnehin noch unbegründet. Bislang ist jeder Roboter beispielsweise nur auf eine einzige Art Lagergut spezialisiert. So konzentriert sich das Startup Magazino aus München mit seinem Roboter Toru momentan auf Schuhkartons und kann generell nur rechteckige Objekte greifen. Das System Swift von IAM Robotics aus den USA kann verschiedene Formen bewältigen, solang der Luftdruck-Saugarm das Lagergut halten und das maschinelle Sehen es erkennen kann. Der komplexe Vorgang der Hand-Auge-Koordination bleibt vorerst die Domäne des Menschen – so schnell lässt sich ein menschlicher Mitarbeiter also im Logistikzentrum nicht durch eine Maschine ersetzen.
Vielmehr werden Roboter der Logistikbranche und dem Onlinehandel mittelfristig eine langersehnte Entlastung und einen Weg aus dem Dilemma des Personalmangels ermöglichen. Grund genug, die verschiedenen technischen Ansätze unter die Lupe zu nehmen.
Große bis mittelgroße Händler können bei Herstellern wie Magazino, dem US-Startup Fetch Robotics, dem österreichischen Hersteller Knapp oder dem Robotikgiganten Kuka Robotiksysteme für ihre Lagerhalle erwerben, die menschlichen Mitarbeitern die Arbeit erleichtern, indem sie durch die Übernahme körperlich anstrengender Tätigkeiten für mehr Ergonomie sorgen. Wirtschaftlich sorgen die Roboter langfristig auch für Aufwind, indem sie Kosten reduzieren, Packzeiten verringern und die Betriebszeiten der Lager verlängern. Die Preise beginnen bei mittleren fünfstelligen Beträgen und können je nach System und Umfang bis in die Millionen gehen. Diese Kosten können neben Projektkosten für die Einrichtung und Anbindung der Robotiksysteme – beispielsweise an Softwareschnittstellen von Unternehmenssoftware – und der eventuell notwendigen Montage noch jährliche Lizenz- oder Servicegebühren enthalten. Das Robotiksystem selbst wird im Regelfall gekauft.
Zwei Kategorien auf dem Automatisierungsmarkt sind für Onlinehändler besonders interessant: Autonome Roboter, die in Koexistenz mit dem Menschen im klassischen Hoch- oder Fachbodenregallager arbeiten, sowie große Lager- und Automatisierungsanlagen, die meist mit Shuttle-Systemen Waren aus den Tiefen ihres Innenlebens hervorholen und an den Menschen, der keinen direkten Zugang zum System hat, weiterreichen. Beide Ansätze haben eins gemeinsam: die sogenannte Ware-zur-Person-Methode. Das heißt: Die zu verschickende Ware wird vom Robotiksystem zur menschlichen Arbeitskraft gebracht. Sie entwickelt sich langsam zur präferierten Kommissionierungsmethode, da so dem menschlichen Personal weite Laufwege erspart bleiben.
Neben dem österreichischen Hersteller Knapp ist in den USA noch Fetch-Robotics mit einem autonomen Shuttle-System in Lagerhallen unterwegs. Die Transportroboter solcher Shuttle-Systeme werden in der Regel von Menschen be- und entladen und transportieren autonom – beispielsweise über ein vorinstalliertes Schienennetz. Autonome Roboter dagegen bedienen sich keiner festgelegten Schienenwege. Statt sich in einem vom Menschen abgegrenzten Bereich in der Lagerhalle zu bewegen, arbeiten sie parallel zum menschlichen Arbeiter und werden in den Ablauf integriert: „So kann der Roboter das tun, was er gut kann und was für den Menschen beschwerlich ist, und der Mensch übernimmt, was der Roboter nicht kann“, erklärt Frederic Brantner, Gründer von Magazino, das auf autonome Roboter setzt. Diese nutzen unter anderem kameragestützte Algorithmen für das maschinelle Sehen, um mithilfe eines Regelsets eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Beispielsweise die, einem entgegenkommenden Lagerarbeiter auszuweichen. Magazinos Roboter übernimmt zudem auch den Arbeitsschritt des Pickens, also den Vorgang, bei dem Waren einem Regalfach entnommen und zur Kommissionierung gebracht werden. Toru fährt zu Lagerplätzen und belädt sich selbst mit dem benötigten Lagergut.
Je nach Anwendungszweck und Händler gibt es neben Shuttle-Systemen und autonomen Robotern auch individuell angepasste Zwischenlösungen. Jedes System hat seine eigenen Vor- und Nachteile.
Amazon will beschleunigen
Ein gutes Beispiel dafür ist Amazon. Der US-Konzern will vorrangig die Geschwindigkeit und Effizienz seiner Logistikzentren beschleunigen und setzt dabei auf maschinelle Unterstützung beim zeitintensivsten Prozess im Lager: dem Picken. Amazon hat sich allerdings gegen einen Pickroboter und für ein Shuttle-System entschieden: Autonome Roboter, die sich frei im Lager bewegen, sind nämlich nur bedingt schnell. Selbst wenn die Maschinen technisch schneller sein könnten als menschliche Arbeiter, dürfen sie aus Gründen des Arbeitsschutzes diesen Vorteil nicht ausspielen, solange Menschen neben ihnen arbeiten. Die Gesetze zum Schutz der Betriebssicherheit haben in der Regel zur Folge, dass Roboter nur in menschlichem Tempo durch Lager fahren. Amazons System hingegen kann in einem abgesicherten Bereich, der durch Zäune gegen unbefugtes, menschliches Betreten gesichert ist, seinen Geschwindigkeitsvorteil ausspielen.
Der US-Konzern hat zur Automatisierung seiner Lager eigens einen Hersteller namens Kiva Robotics eingekauft, der mittlerweile unter Amazon Robotics firmiert und exklusiv für Amazon Logistics zum Beispiel rasenmähergroße orangefarbene Roboter produziert, die ganze Regale durch Lagerhallen zu Mitarbeitern transportieren. Die autonomen Roboter stapeln die Regale in einem für Menschen unzugänglichen Bereich dicht an dicht und bringen bei Bedarf das passende Regal mit dem benötigten Artikel direkt zum Picker, der am Rand der Roboter-Lagerzone seine Pickstation hat. Von dort aus wandert die Ware auf das übliche Transportband und wird zum Packer an die Packstation weiterbefördert.
Amazon setzt diese Technologie mittlerweile international in einer zweistelligen Zahl von Logistikzentren ein, darunter auch in Deutschland. Auf Mitarbeiter kann Amazon dort trotzdem nicht verzichten. Das neue Logistikzentrum in Winsen, das ebenfalls auf Roboter setzt, beschäftigt auf einer Betriebsfläche von 64.000 Quadratmetern rund 1.800 Mitarbeiter. Aktuell ist die Technologie nur für Amazon verfügbar – ob sie jemals frei verkäuflich sein wird, ist ungewiss. In Deutschland wird bei DB Schenker eine vergleichbare Lösung namens Carrypick eingesetzt, die bei der Kuka-Tochter Swisslog erhältlich ist.
Rewe mit All-in-One-System
Bei Rewe sieht der Anwendungsfall etwas anders aus. Der Online-Supermarkt des Lebensmittelhändlers braucht kostengünstige Automatisierungstechnologie, die schon heute in Serienreife verfügbar ist, und muss unterschiedliche Waren, darunter auch gekühlte Lebensmittel, verarbeiten. Während Amazon eine separate Kommissionierungsstraße und ein Paketbeförderungssystem zusätzlich einsetzt, wollte Rewe ein All-in-One-System, das sowohl die Lagerverwaltung automatisiert als auch fertig kommissionierte Aufträge befördern und puffern kann. Entschieden hat sich das Unternehmen in seinem neuen 17.000 Quadratmeter großen Logistikzentrum Scarlet One für ein Shuttle-System von Knapp. Das verspricht – genau wie bei Amazon – einen hohen Geschwindigkeitsgewinn, da das Areal der Shuttles nicht von Menschen betreten wird und so ohne Rücksicht auf den Lagerarbeiter hohe Geschwindigkeiten gefahren werden können.
In dem intelligenten Lager, dessen einzelne Lagerplätze von einer Art Aufzug in einer gigantischen Regalkonstruktion angesteuert und dann be- oder entladen werden, herrscht eine chaotische Lagerhaltung: Einzelne Artikel haben also keinen starr vorgegebenen Platz, sondern werden jeweils an den nächsten freien Regalplatz transportiert. Knapps OSR-Shuttles (Order, Storage and Retrieval) befördern kleine Transportbehälter und fahren sie über Transportgassen von ihren Stellplätzen zum Packer, wo diese weiterverarbeitet werden.
Die Shuttles übernehmen das Einlagern von Artikeln, unterstützen die Kommissionierung und puffern fertig kommissionierte Kundenbestellungen bis zur Weiterverarbeitung und zum Versand. Sie fahren horizontal oder vertikal in den Lagerebenen und nutzen diese zur Lagerung der Transportbehälter. Abgerufene Lager-Trays werden dann von Liftsystemen in die Kommissionierungszone transportiert, das spart Wege: „Bisher haben die Mitarbeiter bei der Kommissionierung der Kundenbestellungen pro Schicht bis zu 15 Kilometer zurückgelegt. Nun kommen die Produkte aus mehreren Kühlzonen zu ihnen“, erklärte Christoph Eltze, Chef von Rewe-Digital bei der Vorstellung des Logistikzentrums. Damit gewinnt Rewe nicht nur Zeit, sondern entlastet auch seine Mitarbeiter. Was wiederum dazu führt, dass der einzelne Mitarbeiter mehr kommissionieren kann, da ihm die fehlenden Wegstrecken Zeit sparen.
Pick-Roboter bei Fiege und Meyer & Meyer
Sowohl Rewe als auch Amazon sind Beispiele für Logistikzentren, die speziell mit dem Blick auf Automatisierung entworfen und komplett neu gebaut worden sind. Solche Systeme würden bei der Integration in bestehende Logistikzentren radikale Umbauten und große Investitionen erfordern. Ein System wie es in Rewes Scarlet One zum Einsatz kommt, lässt sich nicht Schritt für Schritt in ein schon länger bestehendes Logistikzentrum einbauen. Hierzu braucht es einen neuen Aufschlag. Händler, die ihre bestehende Logistik mit einem stetigen Investitionsfluss langfristig transformieren wollen, haben daher mit autonomen Robotersystemen einen großen Vorteil: Sie können die neuen Systeme parallel zum bestehenden Betrieb und neben dem menschlichen Arbeiter einsetzen – und sukzessive neue Roboter in Betrieb nehmen.
So passiert das seit einiger Zeit beispielsweise beim Logistikdienstleister Fiege, der den autonomen Pickroboter Toru von Magazino in seinen Lagerhallen einsetzt. Mit einem integrierten Transportregal auf dem stählernen Rücken fährt Toru durchs Lager und bringt seinen menschlichen Kollegen die passende Ware zur Kommissionierung. Mit Erfolg integriert sich der Roboter in den Lageralltag, deshalb wird Fiege seine bisherige Flotte von vier Toru-Robotern auf 30 Stück erweitern. Ein Beispiel für die schnelle Skalierbarkeit des Systems in einem vom Menschen frequentierten Lager.
Ebenso wie bei Fiege pickt Toru beim Fashion-Logistiker Meyer & Meyer eigenständig Schuhkartons aus den Lagerregalen. Momentan konzentriert sich Magazino auf Fashion und besonders auf die Schuhbranche, da die Fähigkeiten von Torus Greifarmen auf rechteckige Gegenstände begrenzt sind. Auch der Buchversender Sigloch testet den Einsatz des Roboters aus der bayrischen Landeshauptstadt. US-Konkurrent IAM Robotics hat einen Sauggreifer entwickelt, der verschiedene glatte flache Oberflächen halten kann. Ebenfalls von Magazino ist der Pickroboter Soto, der sich wie Toru autonom durch das Lager bewegt. Er kann statt einzelner Stückgüter ganze Ladungsträger – wie Masterkartons im Fashionversand, die ganze Kleidungsposten enthalten – transportieren.
Die Integration von Robotern in den Lageralltag ist aktuell noch Projektarbeit, jeder Use-Case, jede Branche hat andere Anforderungen, die ein komplett neues Setup für das Robotiksystem erfordern. Ist dieses Setup allerdings einmal gefunden, können die autonomen Roboter-Systeme schnell skaliert werden. Die Roboter lernen voneinander und das „Gehirn“ des bereits integrierten Roboters kann unverändert auf einen neuen Blechmitarbeiter kopiert werden.
Auch der Kostenfaktor ist noch enorm, die steigende Verbreitung soll aber in diesem Punkt Abhilfe schaffen: „In spätestens fünf bis zehn Jahren sind wir so weit, dass Lagerroboter auch für kleine bis mittlere Händler wirtschaftlich interessant sind. Die Technologie steht vor dem Durchbruch zum Massenmarkt“, glaubt Florin Wahl von Magazino. Damit Roboter aber auch völlig verschiedene Formen, Oberflächen und Materialien greifen können, ist in Zukunft noch einiges an Forschung und Entwicklung zu leisten. Für diese Detailarbeit stehen uns Menschen nämlich einzigartige Werkzeuge zur Verfügung: unsere Hände und Augen, die vermutlich auch auf absehbarer Zeit unersetzbar bleiben werden.