Quereinstieg in die IT: Wie sich die Branche verändert
Über Bewerbermangel kann sich Cathleen Scharfe nicht beschweren: An fast jedem zweiten Arbeitstag liegt im E-Mail-Postfach der jungen Frau eine Jobanfrage. Auch über Karriereportale wie Xing und Linkedin wird sie immer wieder angeschrieben. Meistens überfliegt Scharfe die Bewerbungen und schreibt dann in wenigen Sätzen eine Absage: „Vielen Dank, leider derzeit unpassend“. Ab und zu seien aber auch mal richtig interessante Anfragen dabei, erzählt die 30-Jährige.
So weit, so normal – würde Scharfe als Personalerin arbeiten. Doch Scharfe ist Softwareentwicklerin: Die Dresdnerin war bis kürzlich als Freiberuflerin tätig und hat im Juli Herzdigital gegründet, eine Software-Agentur, die Gesundheits-Apps etwa für Krankenhäuser oder Physiotherapeuten entwickelt. Die Bewerbungen, die Scharfe bekommt, sind von Firmen und Headhuntern, die sie als Entwicklerin anstellen wollen. Mit anderen Worten: Scharfe erlebt in der Praxis täglich, was es heißt, wenn Ökonomen darüber dozieren, dass sich der IT-Arbeitsmarkt vom Nachfrager- zum Anbietermarkt gewandelt habe.
IT-Mitarbeiter dringend gesucht
Scharfe befindet sich in guter Gesellschaft. Denn wer sich mit Anwendungsentwicklung und -design auskennt, ist längst nicht mehr nur bei Softwarefirmen wie SAP gefragt. Ob Versicherer, Banken oder Industriekonzerne: So gut wie alle Unternehmen digitalisieren derzeit ihr Geschäftsmodell, ihren Vertrieb und ihre Fabriken. Dafür brauchen sie die richtigen Mitarbeiter. Softwareentwickler, IT-Projektmanager, Qualitätsmanager und Sicherheitsexperten sind besonders gefragt. Laut einer Untersuchung des Digitalverbands Bitkom fehlten Ende vergangenen Jahres in Deutschland rund 82.000 IT-Spezialisten – 49 Prozent mehr offene Stellen als ein Jahr zuvor. „Und dieser Trend wird weiter zunehmen“, prognostiziert Bitkom-Bildungsexpertin Natalie Barkei.
Der Engpass auf dem Arbeitsmarkt macht nicht nur Menschen wie Cathleen Scharfe zu gefragten Personen. Er eröffnet auch Perspektiven für Kandidaten, die bislang keine klassische IT-Karriere durchlaufen haben. Die begann lange Zeit für die meisten mit einer Ausbildung – etwa zum Fachinformatiker oder IT-Systemelektroniker – oder mit einem Studium. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit trifft das derzeit auf 85 Prozent der sozialversicherungspflichtig beschäftigten IT-Fachkräfte zu. Auch Scharfe studierte an der HTW Dresden zuerst Medieninformatik und dann Angewandte Informationstechnologien.
Doch der Bedarf an Arbeitskräften wächst so schnell, dass dieser „Zeugniszwang“ immer häufiger entfällt. Laut Arbeitsagentur machen heute schon acht Prozent der IT-Fachkräfte ihren Job ganz ohne Fachausbildung. In Zukunft dürften es noch mehr werden – auch, weil neue Berufsbilder entstehen, deren Inhalte noch gar nicht den Weg auf die Lehrpläne der klassischen Ausbildung gefunden haben. So bietet etwa der noch relativ junge Beruf des Data-Scientists neue, fachfremde Perspektiven für Physiker: Denn diese haben in der Regel im Studium gelernt, große Datenmengen zu analysieren. Für User-Interface-Designer, Cloud-Architekten oder Roboter-Programmierer gilt: In ihrem Fachbereich gibt es nicht nur eine Unterzahl an Bewerbern, sondern oftmals noch gar keine formalen Einstellungskriterien, die es zwingend zu erfüllen gilt.
Die Möglichkeiten für den Berufseinstieg sind dadurch vielfältig. Besonders wichtige Auswahlkriterien für Firmen sind Praxiserfahrung und Spaß an der Weiterentwicklung. Denn Programmieren lernt man weniger durch Studieren als durch Probieren. „Viele Unternehmen schätzen es, wenn man praktische Erfahrung vorweisen kann“, sagt Cathleen Scharfe. Auch sie hat sich nicht allein auf ihr Studium verlassen, sondern arbeitete nebenher als Werkstudentin und absolvierte Praktika. „Das hat mir bei der Suche nach dem ersten Job sehr geholfen.“ Auf Empfehlung eines Freundes bewarb sie sich damals bei einer Agentur für Android-Entwicklung und wurde direkt eingestellt.
Praxis schlägt Abschlüsse
Ähnlich hat es die Entwicklerin Jennifer Deigendesch aus Ravensburg erlebt: „In der IT entwickelt sich ständig viel Neues. Das Studienwissen ist zwar eine gute Grundlage, oft aber schon nach ein paar Jahren wieder veraltet“, sagt sie. Deigendesch absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Fachinformatikerin und einen Bachelor in Angewandter Informatik, inzwischen arbeitet sie als freie Entwicklerin im Bereich Cloud-Computing. Einen Großteil ihres Könnens hat sie sich dabei allein angeeignet: „Mir macht es Spaß, mir neues Wissen selbst zu erarbeiten“, sagt sie. „Sonst hat man es in der IT auch schwer.“
Jobanwärter sollten im Blick behalten, welche spezifischen Fachkenntnisse bei den Unternehmen gerade gefragt sind. Durch diesen Fokus will sich auch die Code University of Applied Sciences von bisherigen IT-Studiengängen abheben. Die 2017 gegründete private Hochschule für Softwareentwicklung residiert im Berliner Factory Campus. Gut 200 Studierende werden hier aktuell zu Softwareentwicklern, Interaction-Designern und Product-Managern ausgebildet. Die Studierenden arbeiten in Kleingruppen an konkreten Projekten, teils auch schon in Zusammenarbeit mit Unternehmen. „Nach ihrem Abschluss für Firmen sollen unsere Studierenden direkt einsatzbereit sein“, erklärt Adam Roe, der an der Code University of Applied Sciences lehrt.
Welche fachlichen Kompetenzen Berufseinsteiger dazu mitbringen müssen, hänge stark von ihrem späteren Einsatzgebiet ab, sagt Roe. Zum Beispiel bei Programmiersprachen: Entwickler, die mobile Websites bauen wollen, sollten sich gut mit HTML, CSS und JavaScript auskennen. App-Entwickler nutzen dagegen vor allem Kotlin und Java für Android und Swift für iOS. Viele verschiedene Sprachen werden in der Backend-Entwicklung verwendet, unter anderem Java, GoLang oder JavaScript. Die Sprache Python wird häufig für Data Science und Machine Learning (KI) verwendet, C++ im wachsenden IoT-Bereich. Stark gefragt seien auch IT-Fachleute, die sich mit künstlicher Intelligenz auskennen, insbesondere Machine Learning, sagt Roe. „Dieser Bereich wächst derzeit schnell und es gibt weltweit noch vergleichsweise wenige Experten dafür.“
Einen Berufseinstieg in die IT komplett ohne Abschlusszeugnis hat Tim Krone geschafft. Krone ist seit rund zwei Jahren ein „White Hat“-Hacker: Er hilft Unternehmen dabei, ihre Systeme gegen Angreifer zu schützen. Seinen echten Namen will der Mitte-30-Jährige nicht verraten, denn mittelfristig will er eine Security-Clearance bekommen – einen Nachweis, das man eine besonders sorgfältige Hintergrundprüfung bestanden hat und damit für Regierungen oder auch Geheimdienste arbeiten darf. Dafür sei es besser, nicht zu sehr in der Öffentlichkeit zu stehen, sagt er.
Noch bis vor Kurzem war Krone aber alles andere als öffentlichkeitsscheu: Vor seiner Karriere als Hacker arbeitete der studierte Ökonom als Wirtschaftsjournalist. Unter anderem recherchierte er damals zum Thema IT-Sicherheit, interviewte Programmierer, Netzwerkadministratoren und andere IT-Experten – und beschloss dann, selbst einer zu werden. Er nutzte seinen Feierabend, um sich die Grundzüge der Programmiersprache Python beizubringen, viele Blogs und Foren zu lesen und sich zu Hause eine Netzwerk-Umgebung aufzubauen, in der er legal trainieren konnte, wie man Computersysteme hackt. Dann bewarb er sich bei einem Beratungsunternehmen, das auch im Bereich IT-Sicherheit tätig war.
Natalie Barkei vom Digitalverband Bitkom beobachtet solche Werdegänge immer wieder. „Weil der Bedarf so groß ist, ist vielen Unternehmen das tatsächliche Können von Bewerbern wichtiger als deren formale Qualifikation“, sagt sie. Wichtig sei dabei, dass Quereinsteiger erste konkrete Projekte vorweisen könnten – sei es, dass sie in ihrer Freizeit schon eine eigene App programmiert oder ihr Können in Open-Source-Projekten bewiesen haben. So war es auch bei Krone. Dass er keinen Informatik-Abschluss hatte, störte seinen zukünftigen Arbeitgeber überhaupt nicht. Im Bewerbungsgespräch bekam er eine Stunde Zeit, um in einem simultierten Netzwerk Schwachstellen zu finden und auszuunten. Als er alle Systeme gehackt hatte, gab es ein Jobangebot.
Darüber hinaus können spätere Ein- und Umsteiger ihr Können über sogenannte Micro- oder Nano-Degrees nachweisen – also Zertifikate für spezielle Fachbereiche. Angeboten werden diese unter anderem von Onlineplattformen wie Udacity, Udemy oder Treehouse, teils auch in stark abgespeckten Basisvarianten kostenlos. Spezielle Zertifikate im Bereich IT-Sicherheit bietet der Berufsverband ISACA an; zahlreiche Hochschulen werben für ihre Fernstudiengänge in Informatik. Wichtig sei bei solchen Angeboten stets, sich vorab über die Qualität der Kurse zu informieren, rät Barkei: „Oft findet man in Internetforen oder bei sozialen Netzwerken Erfahrungsberichte.“
Unternehmen locken Quereinsteiger
Manche Unternehmen richten sich sogar mit eigenen Programmen an Quereinsteiger – so etwa Volkswagen. Auch dort wächst der Bedarf an IT-Fachkräften. Nicht nur, weil in jedem Auto heute auch ein Computer steckt. Darüber hinaus helfen Big-Data-Experten, die Marktnachfrage zu analysieren und Logistikprozesse zu optimieren. Spieleentwickler gestalten virtuelle Entwicklungsumgebungen für den Bau neuer Modelle, Cloud-Experten vernetzen die Produktion. Über 100 Stellen hatte der Konzern Mitte August auf seinem Karriereportal im IT-Bereich ausgeschrieben.
Das Problem der Wolfsburger: Wie viele andere Industriekonzerne ist Volkswagen als Arbeitgeber bisher vor allem ein Magnet für Ingenieure und Maschinenbauer – weniger für IT-Fachkräfte. Um das zu ändern, hat der Autobauer kürzlich die „Fakultät 73“ ins Leben gerufen – ein zweijähriges Programm, bei dem Quereinsteiger zu Entwicklern ausgebildet werden. Seit März lernen die ersten 100 Teilnehmer zunächst Grundlagen wie die Programmiersprachen Python und Java; später lernen sie dann verschiedene IT-Aufgaben im Konzern kennen. Das bringt ihnen zwar keinen staatlich anerkannten Abschluss, aber die Garantie auf eine Festanstellung ein. Und der Autobauer will das Programm ausbauen: Für 2020 sind zwei neue Jahrgänge mit jeweils weiteren 100 Plätzen geplant.
Bewerben könnten sich darauf sowohl Volkswagen-Mitarbeiter, die bisher nicht im IT-Bereich arbeiten, als auch externe Kandidaten, sagt der Leiter der Fakultät 73, Gregor Bräunlein. Erwünscht sind alle, die laut Konzern-Homepage „gern am heimischen Computer basteln“ und „erste Programmiererfahrung gesammelt haben – zum Beispiel in einer Computer-AG in der Schule“. „Viele Menschen haben ein großes Interesse an Software, hatten aber nie die Chance, das zu vertiefen, oder sie erfüllen bisher aus verschiedenen Gründen nicht die formalen Kriterien für einen Jobeinstieg in der IT“, sagt Bräunlein. „Dieses Potenzial wollen wir heben.“
Neben solchen Spezialprogrammen bei großen Unternehmen böten darüber hinaus auch Startups gute Chancen für einen Quereinstieg, sagt Adam Roe von der Code University of Applied Sciences. Teils liegt das daran, dass junge Firmen im Schnitt weniger zahlen können als Konzerne und sich bei der Fachkräftesuche so noch schwerer tun. „Vor allem aber sind dort die Einstellungsverfahren meist persönlicher und weniger standardisiert als bei Großunternehmen.“ Die Dresdnerin Cathleen Scharfe hat momentan noch keine eigenen Mitarbeiter in ihrer frisch gegründeten Firma Herzdigital: „Für mich wäre aber die praktische Erfahrung auf jeden Fall wichtiger als irgendein Abschluss – man kennt das ja schließlich von sich selbst.“
Danke für diesen Artikel. Bin gerade am Zweifeln meiner Berufswahl und lese mich durch alle möglichen Quereinsteiger Möglichkeiten! Hat mir auf jeden Fall viel geholfen
IT-Fachkräftemangel? Gibt es nicht! Interessant dazu ist dieser Beitrag, der das Ganze aus der Recruiting- und Unternehmens-Perspektive beleuchtet: https://brandmonks.de/blog/fachkraeftemangel-loesung-quereinsteiger/ Dort heißt es: Quereinsteiger sind die Antwort auf den Fachkräftemangel. Es braucht nur mutige Unternehmen, die diesen Schritt gehen und sich nicht vor falschen Entscheidungen sorgen. Talente, die nicht 1:1 zur Stellenausschreibung passen, aber ausgeprägte Soft Skills wie Lernbereitschaft und Motivation haben, können innerhalb kurzer Zeit alle Hard Skills aneignen. Vorausgesetzt, Unternehmen investieren in sie.
Sehr interessante Beispiele. Was mir bei den vorgestellten Karriereseiten allerdings fehlt, ist die Möglichkeit, sich via Video-Botschaft zu bewerben. In Zeiten von TikTok und Co. sollten moderne Unternehmen diese Option mit aufnehmen – neben dem klassischen Upload von Lebenslauf und Bewerbungsschreiben als unspekatkuläres PDF… Wir haben auch einen Beitrag über gute Karriereseiten verfasst und gehen dabei auch auf den Punkt mit Video-Bewerbungen ein: https://brandmonks.de/blog/fachkraeftemangel-loesung-quereinsteiger/