Der Senkrechtstarter unter den Social Messengern im Praxis-Check: Snapchat fürs Marketing
Die amerikanische Werbezeitschrift Adweek kürte Snapchat vor kurzem zur „Hottest Digital Brand of the Year“. Die App, mit der User Fotos machen, sie mit Texten und Filtern versehen sowie versenden können, ist auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich – bis auf die Flüchtigkeit der Inhalte: Fotos und Videos (die Snaps) sieht der Empfänger nach dem Öffnen nur maximal zehn Sekunden, dann löschen sie sich selbst. Öffnen lässt sich die Nachricht außerdem nur maximal 24 Stunden nach dem Versand.
Mit diesem Use Case ist Snapchat eine der am schnellsten wachsenden Social-Apps weltweit. Aktuell verzeichnet die App mehr als sechs Milliarden Video-Views pro Tag – diese Dimension kennt man sonst nur von Social Media-Giganten wie Facebook. Der Unterschied zwischen den beiden sozialen Netzwerken ist dennoch enorm: Anders als Facebook gibt es Snapchat nur als App, es gibt keine Biografie und kein klassisches Profilbild. Schon das lässt viele Marketer schlucken. Doch es geht noch weiter: Snapchat verweigert sich dem gewohnten Social-Media-Mantra von „sehen und gesehen werden“ – von außen ist kaum nachvollziehbar, wer mit wem interagiert. Es gibt keine öffentlich sichtbare Fanbase. Und auch das Grundprinzip der App – dass Inhalte nach kurzer Zeit verschwinden – scheint aus Marketingsicht eher widersinnig.
Freiraum durch Verfallsdatum
Viele Unternehmen kommunizieren vor allem über
etablierte Kanäle wie E-Mail, Facebook und Twitter. Social Messenger
holen aber schnell auf. Ihr Vorteil: Sie werden von Nutzern eher dem
privaten Kommunikationsraum zugeordnet, weshalb Nachrichten über
WhatsApp oder Facebook-Messenger persönlicher wirken. Für Snapchat gilt
das in besonderem Maße. Die App dient den Usern auch zum Austausch von
Alltagsschnipseln, die für andere Social-Media-Kanäle zu profan oder gar
peinlich erscheinen.
YouTube-Stars wie Melina Sophie und
Dagi Bee machen es vor: Da Snaps schnell wieder
verschwinden und die App weder eine Bewertungs- noch Kommentarfunktion
hat, zeigen sie nicht nur Hochglanz-Inhalte, sondern auch mal
ungefilterte kleinere Pannen. Das heißt nun nicht, dass Unternehmen auf
Snapchat nur noch Fotos von fallengelassenen Kaffeetassen posten
sollten. Wie das Beispiel von Snapchat-Profi Casey Neistat zeigt (dokumentiert in seinem YouTube-Kanal „Casey Neistat’s Snap Stories“), bietet die App die ideale Umgebung, um kreative Ideen auszuprobieren.
Das gilt mit einer Einschränkung: Man kann nicht verhindern, dass
Nutzer Screenshots von Snaps anfertigen. Immerhin meldet Snapchat diese
Information dem Verfasser. Und gegebenenfalls mag diese Aktion sogar
erwünscht sein: Gibt es ein größeres Kompliment, als wenn ein Nutzer
einen Snap innerhalb von Sekunden für so relevant hält, dass er ihn
unbedingt sichern muss?
Marketing für die Kunden von morgen
Ganz klar widerspricht Snapchat vielem, was dem Marketing lieb und
teuer ist. Dennoch hat die App großes Potenzial: Nachrichten sind
beispielsweise so lange als „neu“ markiert, bis der Empfänger sie
öffnet. Anders als bei Twitter und Facebook versickern Inhalte somit
nicht im Newsfeed der User. Und da die Nutzer wissen, dass Snaps nach
kurzer Zeit wieder verschwinden, ist die Aufmerksamkeit beim Betrachten
hoch.
Weltweit gibt es bereits 100 Millionen aktive Nutzer; mehr als die
Hälfte sind laut Global Web Index zwischen 16 und 24 Jahren alt. Diese
Zielgruppe lässt sich mit klassischer Werbung immer schlechter
erreichen. Um die Kunden von morgen anzusprechen, ist Snapchat daher ein
äußerst spannender Kanal.
Ein neuer Weg des Storytellings
Bevor ein Unternehmen auf Snapchat aktiv wird, sollte es die
wichtigsten Features kennen. Besonders interessant sind die sogenannten
„Stories“. Hier werden Fotos und Videos chronologisch zu einer
Geschichte aneinandergereiht, weshalb sie sich ideal zum visuellen
Storytelling eignen. Ein weiteres Plus: Anders als einfache Snaps
können Empfänger eine Story in einem Zeitfenster von 24 Stunden auch
mehrfach ansehen.
Sixt („sixtde“) nutzte diese Funktion beispielsweise zur dmexco 2015. Ein
Künstler gestaltete aus Bildern der Messebesucher humorvolle
Fotomontagen, die er anschließend per App veröffentlichte. Um
Aufmerksamkeit zu schaffen, bewarb Sixt diese Aktion außerdem durch
Anzeigen auf Twitter und Facebook.
Der Einsatz von Stories beschränkt sich aber nicht nur auf Events. Unter dem Titel „Ein Tag am Flughafen MUC“ zeigte Sixt beispielsweise anhand von 13 aneinandergereihten Snaps, welche Dinge es rund um den Tresen der Autovermietung zu entdecken gibt. Eigentlich eine unspektakuläre Location – und doch sind die Bilder durch die Kombination mit Texten und Emojis äußerst unterhaltsam. Das wiederum lädt die User ein, die Inhalte auch mehrfach zu konsumieren.

Snapchat-Channels Discover
Eine weiteres spannendes Feature ist „Discover“. Snapchat bündelt
unter diesem Namen Kanäle unterschiedlicher Anbieter auf einer Seite.
Hinter jedem Channel verbergen sich mehrere ausführliche Stories, die
alle 24 Stunden aktualisiert werden. Bislang gehörten diese Kanäle vor
allem zu Medien und Nachrichtenseiten, wie etwa National Geographic,
Vox.com und BuzzFeed.
Seit Kurzem steht diese Option aber auch Werbetreibenden zur
Verfügung, beispielsweise zur Vorstellung von Produktneuheiten. Als
erstes Unternehmen nutzte Sony Pictures Entertainment das Feature und
bewarb den neuen James Bond Film „Spectre“ mit einem eigenen Channel. Da
mittlerweile Deeplinks auf Facebook und Twitter in Discover-Inhalten
möglich sind, sollten Unternehmen außerdem auch in crossmedialen
Kampagnen denken.
Branded Filter
Eine weitere Möglichkeit für Unternehmen sind die
„Sponsored Lenses“ – gebrandete Filter, Sticker und Animationen, mit
denen Nutzer ihre Selfies schmücken können. Zu den Kosten des Features
hält sich Snapchat bedeckt, in Medien zirkulieren aber Zahlen von
450.000 bis 750.000 US-Dollar, abhängig von Tag und Anlass. Pionier war
auch hier ein Filmstudio: Twentieth Century Fox machte damit auf den
US-Start des „The Peanuts Movie“ aufmerksam.

Eine spezielle Art von Filter sind die „Geofilter“: Sie dienen als
Overlays für Snaps und sind nur an bestimmten Standorten verfügbar. Im
Juni 2015 setzte McDonald’s („mcdonalds“) als erstes Unternehmen dieses Werbeformat
ein. Wer sich in einer amerikanischen Filiale aufhielt, konnte sein
Selfie beispielsweise mit fliegenden Fritten, einem angebissenen BigMac
und natürlich dem Unternehmenslogo verzieren.
In den US-Filialen von Procter & Gamble konnten Nutzer per
gebrandetem Filter den Spruch „A look on the dark side“ über einen Snap
legen: Werbung für eine spezielle Star-Wars-Kollektion von Procter &
Gamble. Durch Marketingmaßnahmen wie diese werden Snapchatter zu
authentischen Multiplikatoren. Außerdem schafft der Visual Content
einen emotionalen und persönlichen Zugang zur Zielgruppe. Die
Filter-Snaps wirken natürlicher und persönlicher als gängige
Werbeanzeigen.
Promotion mit Mehrwert
Es gibt also zwei Herangehensweisen, um Snapchat als
Marketingkanal zu nutzen: Unternehmen können selbst Snaps und Stories
veröffentlichen, was zunächst kostenfrei ist. Sie können aber auch
kostenpflichtige Werbefeatures wie Discover, Sponsored Lenses und
gebrandete Geofilter einsetzen.
Doch auch in der kostenfreien Variante eignet sich Snapchat
hervorragend, um Aktionen oder Neuheiten anzukündigen. Ein besonders
gelungenes Beispiel liefert Taco Bell („tacobell“): Die Fast-Food-Kette drehte mit
dem Stories-Feature einen Kurzfilm, in dem ein Mitarbeiter auf die Suche
nach der neuen Geschmacksrichtung der „Doritos Locos Tacos“ ging. Gefilmt wurde „Snap by Snap“ – sobald eine Szene im Kasten war, wurde
sie in der Snapchat-Story veröffentlicht. So entwickelte sie sich im
Lauf eines Tages zu einem abgeschlossenen Kurzfilm. Die Resonanz war
enorm und beschränkte sich nicht nur auf die App selbst. User
kommentierten die Kampagne auch über andere Social-Media-Kanäle, was dem
Unternehmen enorme Aufmerksamkeit bescherte. Gelungener hätte Taco Bell
die neue Geschmacksrichtung kaum einführen können.
Mit Snapchat lassen sich aber auch Sonderangebote und Rabatte promoten, wie die Lieferservice-App GrubHub demonstriert: Sie veröffentlichte Stories, die mit der Einblendung eines Promo-Codes endeten und sich aufgrund dieses Nutzwertes die Aufmerksamkeit der Rezipienten sicherten. Mehrwert ist eines der Schlüsselwörter für erfolgreiche Snapchat-Kommunikation – in Form von exklusiven Informationen, Insights oder durch Rabatte und Sonderaktionen.

Snaps fürs Employer Branding
Auch im Employer Branding kann Snapchat nützlich sein. Da die Inhalte schnell verschwinden, ist es müßig, eine glattgebügelte Online-Persönlichkeit erschaffen zu wollen. Die Stärke des Kanals liegt vielmehr darin, kurze, persönliche und authentische Einblicke ins Unternehmen zu ermöglichen.
Dazu eignet sich beispielsweise Employee Takeover: Bestimmte Abteilungen oder Personen übernehmen den Kanal für eine gewisse Zeit und veranschaulichen aus ihrer Sicht, wie es ist, im Unternehmen zu arbeiten. Dieser „Blick durchs Schlüsselloch“ wirkt nicht nur glaubwürdig, sondern kommuniziert auch auf Augenhöhe mit potenziellen Bewerbern.
Geofilter lassen sich hierbei ebenfalls einsetzen. Snapchat selbst machte es vor: Das Unternehmen versuchte mit dem Feature die Mitarbeiter ausgewählter Startups abzuwerben, indem Snapchat-Nutzer in der Nähe dieser Locations eine Filter-Anzeige erhielten – etwa einen Taxi-fahrenden Snapchat-Geist mit der Frage: „This place driving you mad?“. Es ist zwar nicht bekannt, ob Snapchat tatsächlich Mitarbeiter abwerben konnte – eine erfrischende Idee ist das aber allemal.
Snapchat erfordert neue Denkmuster
Bislang sind nur wenige Unternehmen auf Snapchat aktiv. Und doch zeigen die Beispiele, wie groß das Potenzial des Social Messengers ist. Warum gehören also nicht mehr zu den „First Movern“ – gerade auch im deutschsprachigen Bereich, wo die App beständig Nutzer dazugewinnt? Ein Grund ist, dass Marketingabteilungen im Umgang mit Snapchat gewohnte Pfade verlassen müssen. Das fängt beim Aufbau einer Fanbase an: Nutzer können sich nur mit einem Unternehmen verbinden, wenn sie den Benutzernamen oder den Snapcode kennen. Hier bietet es sich an, etablierte Kanäle wie Facebook und Twitter zur Promotion zu nutzen. Sixt und Primark verwenden beispielsweise ihren Snapcode als Profilbild bei Twitter. Snapchatter müssen den Code nur in der App abfotografieren, und schon sind sie mit den Unternehmen verbunden.
Da Snapchat, anders als Facebook und Twitter, keine Analytics-Oberfläche anbietet, sind auch beim Messen der KPIs neue Prozesse erforderlich. Weil die Zahl der Aufrufe nur in Verbindung mit einem Snap sichtbar ist, muss ein werbetreibendes Unternehmen die Daten sichern, bevor sie wieder verschwinden – also innerhalb von 24 Stunden. Relevante KPIs sind beispielsweise die Views, die Anzahl der Screenshots und die Gesamtzahl der Follower.
Eine weitere Herausforderung ist die Gestaltung des Contents. Hier zählt vor allem Kreativität. Ein langweiliger Snap wird von den Nutzern blitzschnell beiseite gewischt. Marken sollten dabei mit Filtern, Texten und Emojis arbeiten. Zudem können Snaps einen Call-to-Action enthalten, der die Nutzer zur Interaktion und zum Teilen der Inhalte aufruft. Im Idealfall schafft der Snap damit auch den Sprung in andere Social-Media-Kanäle und lenkt so zusätzliche Aufmerksamkeit auf das Unternehmensprofil.
Fazit
Da sich bislang noch wenige Unternehmen auf Snapchat tummeln, können sie sich noch als Snapchat-Vorreiter positionieren. Forschern der University of Michigan zufolge empfinden Snapchatter den Austausch über die App ähnlich wie ein Treffen unter Freunden. Unternehmen sollten das bei der Gestaltung ihrer Inhalte berücksichtigen: Hier zählt vor allem Spontanität und Authentizität. Gleichzeitig sollten Snaps attraktiv sein. Mehrwert in Form von Unterhaltung, exklusiven Inhalten oder Rabattcodes laden Nutzer ein, die Inhalte zu teilen. Für Unternehmen kann es sich lohnen, erfahrene Snapchatter ins Boot zu holen, die den Kanal eine zeitlang bespielen. Neben der Steigerung von Brand Awareness kann auch die Verjüngung einer Marke ein Ziel sein.
Unternehmen müssen sich jedoch von alten Denkmustern verabschieden, wenn sie Snapchat als Marketingkanal nutzen wollen. Die App ist intransparenter als etablierte Social-Media-Kanäle wie Facebook oder Twitter und schränkt Unternehmen bei der Profilgestaltung und KPI-Messung ein. Wer sich damit arrangiert, dem bietet sie vielversprechende Möglichkeiten für die Kommunikation mit einer weiterhin stark wachsenden jungen Zielgruppe.