Instagram-Alternative EyeEm im Porträt: Wie die Berliner mit ihrer Foto-Community durchstarten
Manch gute Startup-Idee entsteht aus dem Bedürfnis heraus, einen bestimmten Mangel im Alltag abzuschaffen (Online-Schlüsselnotdienste, Carsharing-Plattformen, Müslimix-Zusammensteller). Der Mangel, der zur Gründung von EyeEm führte, war hingegen akkut: Florian Meissner ging für einen Fotoauftrag nach New York, als ihm in der U-Bahn seine Fotoausrüstung geklaut wird. Er bekommt ein iPhone geschenkt, macht fortan Handy-Fotos und glaubt daran, dass sich darüber Menschen miteinander verbinden lassen.
Vier Jahre später ist aus der Idee ein 17-köpfiges Team geworden, das unter dem Namen „EyeEm“ in Berlin Mitte sitzt. Wie so oft in Berlin dauert es ein bisschen, bis man den richtigen Eingang gefunden hat: An Hausnummern wird gespart und das richtige Gebäude befindet sich am Ende eines Hinterhofs. Seit zwei Jahren sitzen die vier Gründer hier mit ihren Mitarbeitern. Im Büro sieht es in etwa so aus, wie man es von einem Foto-Sharing-Startup erwarten würde: Die Wände sind an vielen Stellen mit Fotos beklebt, überall hängen Fotocollagen und im Eingangsbereich prangt in großen Lettern der Name „EYEEM“, wobei jeder Buchstabe aus einzelnen Fotos zusammengesetzt ist.
Neben Florian gehören noch Lorenz Aschoff, Ramzi Rizk und Gen Sadakane zum international zusammengewürfelten Gründerteam. Jeder von ihnen hat in unterschiedlicher Form mit Fotografie zu tun, sie kennen sich aus dem Freundeskreis oder haben zusammen in Agenturen gearbeitet. Richtig stolz ist das Team auf Ramzi, der als CTO das achtköpfige Entwicklerteam leitet. „Er ist ein super Programmierer, kann darüber hinaus fotografieren und hat einen Sinn für Ästhetik – eine ziemlich einmalige Kombination“, preisen seine Kollegen den zurückhaltenden, libanesisch-stämmigen Entwickler an. Überhaupt sei eine gewisse Affinität zur Fotografie bei allen Mitarbeitern Voraussetzung.
Fotos: riesiges Netzwerkpotenzial
Als Florian nach jenem denkwürdigen Erlebnis in New York in die Handy-Fotografie einsteigt, erscheint ihm das Potenzial schon bald riesig. Der Beklaute nimmt die beiden Plattformen Hipstamatic und Polarize genauer unter die Lupe, mit denen sich bereits 2009 Fotos mit Hilfe von Filtern in Retro-Polaroid-Bilder verwandeln lassen. Sein Eindruck ist, dass man das Netzwerkpotenzial von Fotos noch ausschöpfen müsse. Bald ist ein erster Blog aufgesetzt, Florian erzählt Freunden in Deutschland von seiner Idee und sammelt seine drei Mitgründer um sich. Heute ist er das Gesicht von EyeEm, kümmert sich um das tägliche Geschäft und um Partnerschaften, führt Interviews. Da er beim t3n-Besuch krank ist, erzählen Lorenz und Gen die Geschichte von EyeEm.
Cleveres Tagging-System
Heutzutage muss sich jede Foto-Sharing-Filter-App die Frage gefallen lassen, was denn das Besondere an ihr sei. Der große Vergleichsparameter ist dabei Instagram. Die EyeEm-Macher selbst finden, dass man mit Instagram gar nicht so viel gemeinsam habe. Natürlich gebe es Farbfilter, die Fotos können auf unterschiedlichen Plattformen geteilt werden, es existiert eine aktive Community. „Aber im Gegensatz zu Instagram steht bei uns die Relevanz der Inhalte im Vordergrund und nicht nur der soziale Aspekt.“ Die Vision sei, Fotos auf neue Art und Weise miteinander zu verbinden – und dadurch letztlich auch die Menschen.
EyeEm setzt auf ein ausgeklügeltes, geo-basiertes Tagging-System, das auf der Analyse sämtlicher Bilderdaten beruht. Der Kontext der Bilder ist wichtig, Dinge wie Ort, Zeit oder Event werden mit einbezogen. Alles dient dazu, dem Nutzer möglichst passgenaue Schlagworte vorzuschlagen und ihm das Tagging damit so einfach wie möglich zu machen. So bekommt man zum Beispiel beim Spaziergang im Winter andere Vorschläge als im Sommer, nachmittags andere als abends. „Es gibt keinen Fotodienst, der von hochgeladenen Fotos so viele Daten sammelt wie wir.“
Der betriebene Aufwand kommt letztlich dem Hauptprodukt zugute, dem „Discovery Feed“: EyeEm-Nutzer können sich Inhalte anzeigen lassen, die für sie thematisch oder örtlich relevant sind. Und so auf interessante Themen und Menschen stoßen. Welche Nutzer fotografieren noch gerne Weißwürste? Wer ist gerade in meiner Nähe? Auf diese Weise entstünden themenrelevante Communities, die sich – fernab von Facebook – zum Beispiel zum Thema Skateboarding vernetzen. „Während sich bei Facebook schnell mal 1.000 Freunde stapeln, sind unsere Netzwerke elastisch.“ Der Social Graph, auf den Facebook aufbaut, werde aussterben, glaubt man bei EyeEm. Weil User nach neuen und relevanteren Formen der Vernetzung suchen – und eine davon funktioniere über Fotos, das Kommunikations-Tool schlechthin.
„Nutzer müssen Kontrolle behalten“
Am Anfang dachten viele, EyeEm sei nur ein winziger Mitbewerber, der kurzzeitig davon profitierte, dass Instagram von Facebook gekauft wurde. Damals suchten sich viele Facebook-kritische Nutzer ein neues Zuhause. Mittlerweile zeigt sich aber, dass EyeEm Potenzial zu mehr hat: Anders als manche Mitbewerber hat EyeEm sofort mit internationalem Fokus losgelegt und wird bereits in 130 Ländern genutzt. Über die Hälfte der User kommt derzeit aus den USA, der asiatische Markt wächst.
Eine Zeit lang löste EyeEm Instagram sogar in puncto Beliebtheit ab und war in Apples US-App-Store nach YouTube die begehrteste App im Bereich Foto/Video. Der Grund: Instagram hatte mit Änderungen in den Geschäftsbedingungen User verärgert und einen medialen Kreuzzug hervorgerufen, da Nutzer die Rechte an ihren Fotos abtreten sollten. Die EyeEm-Gründer zieren sich bisher, selbst Zahlen preiszugeben. Jedoch analysierte Martin Weigert von netzwertig.com, dass es in dieser Phase etwa um die 50.000 Downloads pro Tag gewesen sein dürften [1].
Damit ist Instagram also nicht in erster Linie ein Mitbewerber, sondern ein Glücksfall, der EyeEm immer wieder neue User beschert. Doch ist es nicht scheinheilig, dass dieselben Nutzer, die täglich kostenlos Videos und Musik konsumieren, angesichts ihrer eigenen Bildrechte so auf die Barrikaden gehen? Und würde EyeEm nicht ähnlich wie Instagram handeln, wenn es irgendwann um die Frage des Geldverdienens geht? „Auf keinen Fall!“, empört sich Lorenz. „Es geht bei der Debatte um Transparenz. Nutzer müssen immer wissen, was passiert, und die Kontrolle darüber behalten. Falls sich bei uns die Fotorecht-Bestimmungen je ändern sollten, werden wir das mit unseren Nutzern besprechen und von jedem die Erlaubnis einholen, falls wir seine Bilder verwenden wollen.“
Die Einschränkung „falls sich bei uns die Fotorecht-Bestimmungen je ändern sollten“ ist jedenfalls interessant. EyeEm muss immer wieder die Kritik einstecken, dass es kein Geschäftsmodell habe. Bisher leben die Berliner vom Geld ihrer Investoren, neben Christophe Maire sind Wellington Partners sowie Passion Capital beteiligt. Aber klar ist: Eines Tages muss auch auf anderen Wegen Geld in die Kasse fließen.
„Wir sind schon kräftig am Experimentieren“, sagt Lorenz. „Fest steht: Unser Fokus liegt zunächst darauf, eine große Community und ein exzellentes Produkt aufzubauen“. Am intensivsten experimentiert EyeEm mit einem Konzept, das die Gründer „Missions“ nennen. Dabei handelt es sich um Foto-Aufträge für die Crowd: Kommerzielle Partner wie aktuell die Lufthansa suchen im Rahmen eines Wettbewerbs nach bestimmten Fotos, zum Beispiel „Strand in Sao Paulo“. EyeEm identifiziert per Geolocation Nutzer vor Ort und schickt ihnen Push-Mitteilungen mit der Einladung, am Wettbewerb teilzunehmen. Die Gewinner-Fotos werden über EyeEm an die Partner verkauft, die Prämie geteilt.
„Im Bereich Commission Photography sehen wir großes Potenzial. Aus unserer Community heraus können wir innerhalb kürzester Zeit passende Fotografen akquirieren.“ Solche „Social Photos“ seien mittlerweile sehr gefragt, da sie authentischer sind als die oftmals künstlichen iStock-Fotos. Es gehe darum, die Stock-Fotografie umzudrehen: Unternehmen müssen sich nicht mehr mühsam Fotos herauspicken, sondern geben selbst Aufträge heraus, für die dann gezielt Fotos gesammelt werden.
Ein weiteres Standbein könnten Print-Produkte darstellen: Die Möglichkeit, sein iPhone-Foto zum „höherwertigen Kunstdruck“ zu machen und zu bestellen. Da EyeEm seinen Nutzern empfiehlt, was zu ihren präferierten Themen passt, ist auch das Thema Sponsoring als Geldquelle denkbar. Werbung habe man nicht im Blick, es passe nicht zum bisherigen Weg. Allerdings ist den Formulierungen anzumerken, dass man sich nicht zu 100 Prozent festlegen will.
Perfektes Produkt, dann Marketing
Interessant ist die Frage, wie die deutsche Foto-App angesichts zahlloser Mitbewerber international so populär wurde. An einer ausgefeilten Marketingstrategie kann es nicht liegen, denn dafür habe man „nie eine müde Mark ausgegeben“. Gezieltes Marketing, so Lorenz‘ Überzeugung, bringe erst etwas, wenn das Produkt „absolut wasserfest“ sei. „Wir zwingen uns selbst dazu, unsere Zahlen noch nicht durch Geld zu verbessern, sondern allein durch die Produktqualität: Wir schauen uns die Landing Pages an, beschäftigen uns mit Conversion Rates und versuchen, den Anmeldeprozess so sinnvoll wie möglich zu gestalten.“ Bisher setzen die Berliner vor allem auf Aktionen, die Nutzer miteinander verbinden, ihnen einen Mehrwert bieten und die Beziehung zum Produkt stärken. Und stecken viel Herzblut in ihren Blog, der von Anfang an auf Englisch war und somit auch gleich das amerikanische Publikum erreichte.
Vielleicht ist dies das Erfolgsrezept: Die Gründer versuchen, ihre Nutzer so stark wie möglich mit einzubinden, machen neben Foto-Wettbewerben auch Offline-Events wie zum Beispiel Vernissagen. „Wir haben eine der ersten Handyfotografie-Ausstellungen der Welt initiiert und dafür viel Presseaufmerksamkeit bekommen. Unsere zweite Ausstellung fand daraufhin in New York statt“, erklärt Gen. So habe man praktisch von Anfang an um die 5.000 Kernnutzer gehabt. Beim Startup-Pitch im Berliner Betahaus wurde dann direkt der Investor Christophe Maire auf sie aufmerksam.
Als es damit losging, dass EyeEm auch außerhalb der USA und Deutschland genutzt wurde, riefen sie ein „Embassador Program“ ins Leben: In vielen Ländern gibt es nun EyeEm-Botschafter, die vor Ort Ausstellungen und Meetups organisieren. Auch Foto-Walks und PhotoHackDays stehen auf dem Programm. Beim letzten PhotoHackDay beteiligten sich sogar Facebook und Getty Images. „Mit unseren Aktionen wollten wir feststellen, ob es wirklich Leute gibt, die Bock auf unser Produkt haben. Wir wollten uns früh mit den Leuten verbinden, für die wir später eine Community bauen wollten.“ Außerdem hat das Team seine Sprachversionen alle von den Nutzern selbst übersetzen lassen.
Den größten Push in Bezug auf die Nutzerzahlen habe ihnen dann aber nicht Instagrams Datenschutz-Skandal eingebracht, sondern eine Episode in Texas, auf die sie keinen Einfluss hatten, erzählen die Gründer. Einige Studenten fing an, EyeEm zu nutzen und twitterten so eifrig darüber, dass ein beispielloser viraler Effekt einsetzte. „Wir konnten bei Twitter dank geobasierter Tweets die Verbreitung mitverfolgen. Plötzlich waren wir in den USA unter den ‚Trending Topics‘, noch vor dem Lance-Armstrong-Skandal.“ Zuvor hatte das Team schon etwas ähnliches erlebt, als Mitglieder eines Highschool-Football-Teams in Tennessee mit EyeEm aufgenommene Bilder twitterten und eine Sign-up-Welle einsetzte.
Rund 200.000 Neuanmeldungen pro Tag bescherte ihnen der Viraleffekt Anfang des Jahres. „Die Server haben geraucht, Ramzi hat drei Tage lang praktisch nicht geschlafen.“ EyeEm ist stolz darauf, dass die Verbreitung generisch wuchs und nicht in erster Linie durch Instagram hervorgerufen wurde. Ihr Vorteil sei, dass das Produkt bereits eine gewisse Viralität in sich trage. Mittlerweile hat sich der akute Hype wieder etwas gelegt.
Bei solch einem Erfolg und der Tatsache, dass aktuell über die Hälfte der Nutzer aus den USA kommt, liegt die Frage nahe, ob eine Expansion ins Silicon Valley geplant ist? Die Reaktion ist verhalten. „Wir lieben Berlin und bleiben sicherlich hier“, lautet die Antwort. „Aber wir können uns gut vorstellen, zwei Mitarbeiter rüber zu schicken, um direkt vor Ort zu sein – vielleicht noch in diesem Jahr.“
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„Wir wollten zu schnell zu viel“
Hat EyeEm bei seinem Aufstieg auch Fehler gemacht? „Und wie! Wir wollten zu schnell zu viel.“ Das Team entwickelte von Anfang an Apps für sämtliche Betriebssysteme, ist schon jetzt für iPhone, Android und Windows Phone verfügbar. „Wir dachten, so eine App bauen kann jeder, das haben wir unterschätzt. Das geht dann auf Kosten der Qualität.“ In den zwei Jahren habe man gelernt, wie wichtig Fokussierung ist. Sie hätten auch zu viele Features gelauncht; jede ihrer neuen Versionen sei nun reduzierter als die vorige. Die Lektion ist: Je mehr sie auf Einfachheit setzten, desto mehr blieben die Nutzer beim Produkt. Neben der Selbstkritik an der eigenen Ungeduld kennt das Team aber auch die eigenen Stärken. Die wichtigste sei, dass sie nie zufrieden sind mit EyeEm, sondern immer weitermachen. Und auch, dass sie sich selbst so stark mit dem Thema identifizieren, das würden die Leute merken: „Unsere DNA ist eben, dass wir Handyfotografie lieben.“
Auch von ihren Investoren erwarten sie, dass sie mit dem Produkt etwas anfangen können und nicht nur auf eigenen Profit aus sind. Auf dem Weg zur Finanzierung habe man einige Absagen erteilt. Ein Tipp, den Gen anderen Gründern unbedingt mit auf den Weg gibt: „Bloß nicht sofort das erste Geld nehmen!“
In die Zukunft geschaut wünscht sich Gen vor allem, ein tragfähiges Geschäftsmodell aufzuziehen. Und für das man keine faulen Kompromisse eingehen muss: Bei EyeEm werde es immer um Fotografie gehen, man wolle nicht wie andere irgendwann anfangen, Videos oder ähnliches einzubeziehen. Auch sei die Qualität der Fotos ein wichtiger Faktor, man sei eben das Vimeo unter den Fotosharing-Diensten und nicht das YouTube. Falls der Plan aufgeht, wird sich Instagram warm anziehen müssen.
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