Talentförderung und Weiterbildung: Wissenshäppchen sind die neuen Seminare
An der Universität Witten/Herdecke schauen die Startup-Stars bereits im Studium vorbei: Investor Florian Heinemann von Project A, Sibyll Brüggemann vom Fintech Klarna oder Trivago-Gründer Rolf Schrömgens teilen ihr Wissen bereitwillig mit den 2.500 Studierenden. Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Denn die prominenten Dozenten kommen virtuell ins Ruhrgebiet: Sie sind Teil eines Videokurses zur digitalen Transformation. Das Bochumer Startup Masterplan verkauft diese Weiterbildungsangebote eigentlich an Unternehmen. Seit dem Sommer aber ist der Kurs auch Teil einiger Studiengänge an der Hochschule, mit dem die Teilnehmer Credit-Points sammeln können.
Neue Inhalte, moderne Module, flexible Zeitpläne: Das Wittener Beispiel zeigt, was in der Aus- und Weiterbildung gerade in Bewegung ist. „Um sich in der Tech-Welt zu behaupten, ist es von zentraler Bedeutung für die berufliche Zukunft jedes Einzelnen, lebenslang zu lernen“, sagt Masterplan-Gründer Stefan Peukert – wie sein Mitgründer Daniel Schütt ein Absolvent der Uni Witten/Herdecke.
Fortbildungen gab es dabei schon immer. Aber das Tempo, in dem sich Stellenprofile entwickeln, nimmt stetig zu. Man müsse dringend dafür sorgen, dass alle Beschäftigten ihre Kompetenzen und Qualifikationen regelmäßig erneuern und anpassen, schrieb Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Vorwort einer Weiterbildungsstudie von Bitkom und dem Verband der neutralen technischen Gutachter (VdTüv).
Kickstarter für die Karriere:
Klein anfangen, um groß rauszukommen: Mit neuen Formaten können sich Neugierige in kurzer Zeit frisches Wissen besorgen. Die US-Online-Akademie Udacity hat dafür den Namen Nanodegree geprägt. Etwa 50 Kurse bietet Udacity an – fast ausschließlich rund um IT-Trend-Themen wie Cloud-Computing oder Machine Learning. Auch Coursera oder EdX haben ähnliche Schulungen im Angebot, zum Teil in Kooperation mit renommierten Hochschulen.Kleinere Seminare kosten wenige Hundert Dollar, längere Zertifikatskurse liegen häufig zwischen 1.000 und 3.000 US-Dollar. Die Programme ziehen sich manchmal über wenige Stunden, meist jedoch über einige Monate. Pro Woche sollten dann einige Abende fürs Lernen freigehalten werden.
Am Ende stehen Praxisprojekte oder Prüfungen – und dann ein Zertifikat, das die neuen Fähigkeiten verbrieft. Wer es richtig wissen will, findet auch Bachelor- und Masterstudiengänge, die komplett online laufen.
Der Bildungspfad kennt so viele Abzweigungen wie nie zuvor und könnte dabei auch nach abgeschlossenem Studium immer wieder durch Hörsäle führen. Hochschulen „werden verstärkt auf die individuell vorhandenen Kompetenzen und Vorkenntnisse eingehen und ihre Angebote entsprechend ausrichten müssen“, sagt Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FIBS).
Forscher des FIBS haben in diesem Jahr bildhaft ein paar mögliche Modelle skizziert. Sie sehen etwa das „Jenga“-Konzept, bei dem nach einem verkürzten Erststudium im Laufe des Berufslebens weitere Lernblöcke auf den Abschluss gestapelt werden. Noch mehr Bastelei bringt das „Lego“-Modell: Hier könnten ganz unterschiedliche Module von verschiedenen Bildungsanbieten zu einem Studienabschluss kombiniert werden. Gerade aus den USA kommt bereits eine breite Palette solcher Angebote: Über sogenannte Massive-Open-Online-Courses (kurz MOOC) können Nutzer vom Schreibtisch aus das Einführungsmodul in Informatik aus dem Programm der US-Elite-Uni Harvard absolvieren. Oder neben der Arbeit bequem einen Machine-Learning-Kurs aus Stanford absolvieren.
Die Politik will Berufs- und Hochschulen stärker für Weiterbildung öffnen und die Anerkennung nicht formaler Qualifikationen erleichtern. Seit Anfang 2019 unterstützt das Qualifizierungschancengesetz die Weiterbildung von Mitarbeitern mit Fördergeldern der Bundesagentur für Arbeit.
Jetzt lernen, später zahlen
Ein privater Plan für die Weiterbildung wird wichtiger werden – kostenlos gibt es die meisten Zusatzqualifikationen jedoch nicht. 381 Euro zahlte jeder Deutsche im Schnitt für Seminare und Schulungen aus der privaten Tasche. Das zeigen Auswertungen des staatlichen Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) aus dem vergangenen Jahr. Dazu kamen stolze 128 Stunden Büffeln in der Freizeit. „Die eigene berufliche Weiterbildung hat für viele Menschen einen sehr hohen Stellenwert“, resümierten die BIBB-Forscher. Spannend ist daher die Frage, wer für die neue Bildungsoffensive aufkommt. Ein Zahl-später-Modell könnte in Zukunft an Bedeutung gewinnen: Studiengänge und Seminare, die für die Teilnehmer erst einmal kostenfrei sind. Im Nachgang aber erhalten die Anbieter für eine gewisse Zeit einen Anteil vom Einkommen des Studierenden, gewissermaßen als Erfolgsbeteiligung an der Bildung. Die privat getragene Universität Witten/Herdecke macht das schon lange und nennt das Modell einen „umgekehrten Generationenvertrag“.
Auch Wissens-Startups wie die IT-Akademie Neuefische oder die Code University bieten solche nachgelagerten Finanzierungsmodelle an: „Wir wollen die besten Studenten – nicht die reichsten“, heißt es auf der Code-Homepage.
Firmen erneuern Lernplattformen
Es gibt Grund zur Hoffnung, dass auch Firmen sich deutlich mehr um den Wissensschatz ihrer Mitarbeiter kümmern. Aus ganz eigennützigen Motiven: Denn ein vielfältiges Angebot ist ein starkes Argument im Werben um Mitarbeiter. Wer sich innerhalb einer Firma weiterentwickeln kann, denkt zudem nicht so schnell über den Wechsel zu einem Konkurrenten nach. 93 Prozent der befragten Firmen gaben laut der Studie von Bitkom und VdTüv zudem an, mit der Investition die Motivation und Arbeitszufriedenheit verbessern zu wollen – 87 Prozent wollen die Attraktivität ihres Unternehmens erhöhen. Gerade Mitarbeiter in begehrten Berufen profitieren davon: Wer in Bewerbungs- oder Entwicklungsgesprächen mehr Zeit und Geld für die Weiterbildung einfordert, dürfte vielerorts auf offene Ohren stoßen.
Parallel muss aber auch die Organisation vieler Unternehmen mitwachsen. Nur in Plattformen und Trainer zu investieren, reicht nicht. Die neue Personalentwicklung muss auch bereit sein, stärker auf individuelle Karrieren zu achten, statt nur blind nach den gewohnten Bedarfen der Unternehmen fortzubilden. Aus regelmäßig angebotenen Kursen werden so Bausteinkonzepte. Starrer Frontalunterricht wird immer wieder mit Videokursen und Praxiseinheiten aufgelockert. Und statt einem abgeschlossenen Weiterbildungs-Katalog entstehen immer mehr Lernplattformen, auf denen Mitarbeiter das passende Programm für sich zusammenstellen können.
Einige große Konzerne wie Henkel, Porsche oder die Deutsche Bahn haben angekündigt, ihre internen Weiterbildungsstrategien umfangreich zu renovieren. Durch die Digitalisierung steigt das Angebot an individuell einsetzbaren Lernmöglichkeiten via Smartphone und Tablet. Wer für jede simple Software-Schulung eine Woche in die Firmenzentrale reisen muss, verliert schnell die Lust auf eine persönliche oder fachliche Weiterentwicklung. Kleine Kurshappen zwischendurch am Flughafen oder im Homeoffice zu erledigen, passt dagegen besser zum Arbeitsalltag vieler Mitarbeiter.
Mehr Möglichkeiten, mehr Gesprächsbedarf
Oft kollidieren alte Welt und neue Bildungswege aber heute noch. Motivierte Mitarbeiter verschaffen sich wertvolles Fachwissen, und müssen dann auf Personalabteilungen hoffen, die diese Bemühungen anerkennen. In vielen Unternehmen sind immer noch bestimmte klassische Studienabschlüsse für bestimmte Positionen vorgesehen. Und Hochschulen tun sich schwer damit, ein buntes Potpourri an Modulen offiziell anzuerkennen. Bildungsforscher Dohmen geht davon aus, dass „die Zertifizierung anderweitig – auch online – erworbener Kompetenzen wichtiger“ werde.
Für Mitarbeiter und Unternehmen wird es in den nächsten Jahren daher in manchen Punkten erst einmal komplizierter. Mehr Verhandlungen über den Wert von neuen Modulen, mehr Recherche bei der Auswahl des richtigen Seminars, mehr Diskussionen über die Bezahlung von und die Freistellung für Weiterbildungen. Es könne „aufwendig und langwierig sein, ein individuell passendes Weiterbildungsangebot und Fördermöglichkeiten zu finden“, hat auch das Bundesarbeitsministerium in diesem Sommer festgestellt. Gemeinsam mit der Digitalisierungsoffensive Tech4Germany soll deshalb eine zentrale Plattform rund um die berufliche Weiterbildung entstehen. Durch solche neuen Portale nimmt die Transparenz zu. Das Wissen, wie man Wissen erwirbt, kann sich besser verbreiten.
Das ist wichtig, denn auch die Definition des Begriffs der Weiterbildung weitet sich. Statt neuer Handgriffe, Tastaturbefehle oder Codezeilen werden persönliche Kompetenzen immer bedeutender. Soft-Skills sind gefragt. Ein Kommunikationskurs ergibt auch für die Softwareentwicklerin Sinn, die interdisziplinäre Teams leiten soll. Und der Vertriebler profitiert von einem Achtsamkeits-Seminar, um zwischen Vollgas und Atempause balancieren zu können.
Die Palette an Kursen wird so vielfältiger. Das Startup Coachhub etwa, das Matti Niebelschütz vor einem guten Jahr mit seinem Bruder gegründet hat, will von dieser Entwicklung profitieren. Über Smartphone oder Laptop können sich Mitarbeiter regelmäßig mit einem persönlichen Coach austauschen – die Rechnung zahlt der Arbeitgeber.
Diese individuelle, aber auch teure Betreuung war bislang meist den obersten Führungsebenen vorbehalten. Durch die Vernetzung via Video soll der Preis sinken und das Angebot für immer mehr Angestellte möglich werden. „Die Idee ist, das Thema breiter in die Organisationen zu tragen“, sagt Niebelschütz. Unternehmen wie Bosch, die Versicherung Generali oder Hellofresh nutzen das Tool schon für ihre Mitarbeiter. Die ersten Kunden, berichtet Niebelschütz, wollen das Programm sogar für alle Angestellten öffnen – und sich so auch von der Konkurrenz absetzen: „Für die junge Generation von Talenten ist das persönliche Wachstum wichtiger als die nächste Gehaltserhöhung.“