Die Coronakrise hat eine Reihe von Veränderungen erst wahrnehmbar gemacht, die in den nächsten Jahren anstehen, durch die Pandemie aber an Dynamik gewonnen haben. Da ist zunächst einmal die Konvergenz von Onlinegeschäft und dem klassischen Laden. Die Frage ist inzwischen nicht mehr, ob das eine kommt oder das andere bleibt, sondern wie sich beide sinnvoll ergänzen können. Denn letzten Endes profitieren – anders als früher vorhergesagt wurde – Händler:innen durchaus von den guten alten Filialen. Doch für viele hat die Pandemie gezeigt, dass ein zusätzliches Standbein (entweder durch den eigenen Onlineshop oder die Präsenz bei Plattformen von Amazon bis Zalando) nicht verkehrt ist und hilft, Risiken zu minimieren und abzufedern.
Egal, ob es sich um das Bekleidungshaus handelt, den Kaffeeröster, die Drogerie oder den Großmarkt für Computer und Unterhaltungselektronik: Die Kund:innen geben auch stationär immer noch gerne Geld aus, wenn sie es denn können. Das beobachten auch die Experten vom Werbedienstleister Criteo im Rahmen ihres Consumer-Sentiment-Index. Demnach sind Omnichannel-Kund:innen, die sowohl im Laden als auch online einkaufen, die wertvollsten Käufer:innen. Sie führen laut Daten von Criteo im Durchschnitt 3,8 Transaktionen in 90 Tagen durch und kaufen damit insgesamt deutlich häufiger als reine Onlineshopper (2,7 Transaktionen) und rein stationäre Käufer:innen (2,2 Transaktionen).
Hybrid Commerce: Der Einzelhandel entdeckt das Netz für sich
Auch Xenia Giese, Industry Executive Retail & Consumer Goods bei Microsoft Deutschland, beobachten den Trend zu „Hybrid Commerce“: „Der Einzelhandel befindet sich aktuell in der wohl größten Umbruchphase seit Einführung der Selbstbedienung. Erfolgreiche Handelskonzepte der Zukunft drehen sich nicht mehr allein um physisch oder online, die Grenzen verwischen zunehmend.“ Daher sei Hybrid Commerce das Gebot der Stunde. Händler:innen sollten hier mit den unterschiedlichen Kanälen und Touchpoints spielen und für sich herausfinden, was für sie gut funktioniert – von Click & Collect über Mikro-Lager und Microwarehousing bis hin zu Paket- oder Verkaufsautomaten als Einkaufspunkte oder Abholstationen und der Lieferung in den Kofferraum und auf der „Letzten Meile“.
Generell ist damit aber auch der Weg vieler kleiner Geschäfte in den E-Commerce verbunden – als zweites Standbein sozusagen. So bemerken insbesondere Anbieter von Shopsoftware und SaaS-Anbieter den zunehmenden Bedarf und die wachsende Nachfrage. Auch Nikbin Rohany, CEO vom Tablet-basierten Kassensystemanbieter Shore, sieht diesen Trend: „Gerade viele kleine Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor werden im kommenden Jahr noch in das E-Commerce-Geschäft einsteigen und eine Shop-Lösung einführen. Menschen genießen wieder das Einkaufen im stationären Handel, wollen aber gleichzeitig von diesem neu begeistert werden und vom Komfort des Online-Handels profitieren.“
Und IBM-Experte Looks hat in dem Zusammenhang noch einen weiteren Trend ausgemacht, den er mit dem Begriff „phygital“ bezeichnet: „Zentral gespeicherte Kund:innendaten wie persönliche Präferenzen oder die Einkaufshistorie ermöglichen dabei, den Konsument:innen ein nahtloses, hyperpersonalisiertes Einkaufserlebnis zu bieten – egal, ob diese im stationären Handel oder online einkaufen“, weiß der Technologieexperte. Ob das im Interesse der Kundinnen und Kunden ist, bleibt abzuwarten – es erfordert sicherlich gerade in Deutschland einiges, dies als attraktiv zu vermitteln.
Headless Commerce rückt in den Fokus der Shopbetreiber:innen
Einen eher technischen Ansatz, der im kommenden Jahr noch wichtiger wird, ist Headless Commerce, wie etwa Volker Grümmer, Director Commercial Sales Adobe, betont. „Website-basierter Onlineshop gleich E-Commerce – diese Rechnung geht schon lange nicht mehr auf. Von Voice Commerce und Smartwatches bis hin zu Tablets oder klassischen Desktoprechnern gibt es heute nicht nur eine dynamische Endgeräte-Landschaft“, weiß der Softwarespezialist. In vielen Bereichen gebe es neben unterschiedlichen Kanälen inzwischen auch zielgruppenspezifische E-Commerce-Auftritte. Mit einer festen Verknüpfung von Backend und Frontend kann das nicht funktionieren. „Headless Commerce löst diese starre Beziehung auf und gibt dem E-Commerce so die nötige Agilität, um schnell und flexibel auf die rasante Veränderung am Markt reagieren und sich von der Konkurrenz abheben zu können.“
Social Commerce: Der Trend, der über Jahre nicht wirklich ankam
Und Roman Zenner, Omnichannel-Experte bei Shopify, beobachtet, dass der klassische E-Commerce immer intensiver mit sozialen Medien interagiert – ein, wie er es ausdrückt, grundlegender Paradigmenwechsel: „Heute müssen Händler die richtigen Wege und Kanäle aussuchen, um Kund:innen zu erreichen. Denn wir sehen, dass Konsument:innen weiterhin gerne stationäre Geschäfte aufsuchen, aber zeitgleich auf sozialen Netzwerken nach Trends und Produkten Ausschau halten.“ Nur wer eine echte Omnichannel-Strategie verfolge, sei für den Handel der Zukunft gerüstet, glaubt der Shopify-Experte. Kommt also doch noch der von vielen Expert:innen immer wieder vorausgesehene Social Commerce?
In eine ähnliche Richtung zumindest argumentiert Mira London, Head of E-Commerce bei der GroupM. Sie sieht Discovery-Commerce und Live-Shopping als einen bestimmenden Trend fürs kommende Jahr. „Die 1-zu-1-Verknüpfung von E-Commerce mit den klassischen Commerce-Kanälen löst sich jetzt auf. Onlineshopping entwickelt sich in Zukunft über diese gelernten E-Retail-POS hinaus und es werden ganz neue Kanäle erschlossen. Insbesondere über Social Plattformen bieten sich neue Interaktionsformen.“ Wer nach China schaut, sieht, wie erfolgreich gerade bei emotionalisiert beladenen Produkten dieses Event-Shopping-Thema ist, das im Westen erst in den Startlöchern steht – bestenfalls. Studien sehen in Fernost etwa jede zweite Nutzer:in als regelmäßige Konsument:innen von Shoppable Livestreams.
„Wie die Tupper-Party, nur digital“ – Simon Kramm, Geschäftsführer Strategie beim Agenturnetzwerk Wavemaker, bringt es auf den Punkt, wie auch Corona dazu beitragen kann, dass das Kauf-Event ins Digitale wandert: „Mit der Integration vielfältiger Commerce-Funktionen ermöglichen Social Plattformen Brands und Influencern mittlerweile auch die direkte Verknüpfung von Inspiration und POS. Die nächste Evolutionsstufe liegt hier in Shoppable Livestreams, also dem Verkauf von Produkten während eines Livestreams.“ Doch kommt das auch in Westeuropa an? Wir werden sehen, wie die großen Marktplätze und E-Retailer auf diese Entwicklung reagieren und ob die Bekleidungs- und Kosmetikindustrie hier das Thema für sich spielen können.
Direkt zu den Kund:innen – Handel im Abseits
Mit dieser Entwicklung verbunden ist auch eine Abwendung vom klassischen Handel, wie sie viele Unternehmen der Mode- und Sportartikelwirtschaft schon länger durchlaufen. Direct-to-Consumer (D2C), auch das ein Trend, der wohl im kommenden Jahr nicht länger ein Nischendasein fristen wird. „Konsumgüter-Hersteller setzen für den Verkauf ihrer Produkte zunehmend auf den direkten Kontakt mit dem Kunden und bauen über traditionelle Handelsformate hinaus ihre eigenen E-Commerce-Kanäle auf.
„Ziel des D2C-Modells ist dabei nicht nur der Direktvertrieb an die Endkunden, sondern über entsprechende Abomodelle oder Mitmach-Programme auch der Auf- und Ausbau einer direkten Kundenbindung“, beobachtet Xenia Giese von Microsoft Deutschland. Kundenbindung und Loyalty-Programme also endlich mal über das reine Preis- und Gutscheinversprechen hinaus? Wünschenswert wäre das – und für das Marketing deutlich weniger anstrengend ebenfalls. Giese glaubt jedenfalls, dass wirklich belastbare Kund:innenbindung kanalübergreifend funktionieren wird.
Herausforderung Logistikkette und Retouren
Und da ist noch eine Herausforderung, die im letzten Jahr noch nicht absehbar war und eher zwangsläufig zum Trendthema geworden ist: Die Knappheit an bestimmten Gütern, resultierend aus dem Chipmangel und der Angeschlagenheit der Lieferketten. Die damit verbundene Verschiebung kann man getrost unter dem Motto „die Lieferbarkeit ist der neue Preis“ subsummieren. Micha Augstein, Gründer und Geschäftsführer von Parcel One, glaubt, dass die Lieferengpässe in vielen Branchen uns auch über längere Zeit begleiten, einfach weil die Lieferketten weltweit aus dem Tritt gekommen sind. „Die Supply Chain bleibt ein zentrales Thema – und hier sowohl in der internen und externen Logistik Resilienz aufzubauen, wird für viele Retailer:innen im nächsten Jahr zum Wettbewerbsfaktor.“ Alleine ist er mit dieser Einschätzung beileibe nicht.
Doch auch die letzte Meile wird hier nach Aussage des Parcel-One-Chefs zur Nagelprobe, wenn es um Servicequalität geht. „Die Letzte Meile ist ein wichtiger Teil der Customer-Experience. Hapert es im Zustellprozess, wirkt sich das verstärkt negativ auf die Kundenerfahrung aus.“ Und wer glaubt, dass die Logistik dem Paketdienstleister zugeschrieben wird, der irrt. Der Kunde und die Kundin sehen dies (mit Recht) als Teil der Entscheidung des Händlers an.
Ähnlich umfassend und branchenübergreifend bleibt dabei auch der Mangel an Arbeitskräften – vor allem bei den Fachkräften im E-Commerce-Umfeld. Hier sieht Marc Irmisch-Petit, CEO von Talentbay, eine Veränderung in der Wertschätzung: Firmen müssen sich demnach zukünftig mehr um ihre Bewerber bemühen und sich mehr Zeit für das persönliche Gespräch nehmen. „Diese Transparenz brauchen wir, damit die Bewerber:innen einen echten Einblick in ihren potenziellen neuen Job bekommen. Denn beide Seiten entscheiden inzwischen über Match oder No Match.“