Hype um Abnehmmittel: Was Medikamente wie Wegovy können – und wo es noch Probleme gibt
„Ozempic ist wie Vaseline.“ Die Beobachtung von Mitch Roslin klingt zunächst schräg, ist aber auf den zweiten Blick ganz treffend. Der Leiter der bariatrischen Medizin am Northern Westchester Hospital im US-Bundesstaat New York meinte damit, dass Ozempic ähnlich wie die Creme zum Sammelbegriff geworden sei. In diesem Fall für alle jene wöchentlich verabreichten Spritzen, die als Diabetes-Mittel gestartet sind und deren Wirkstoffe auch fürs Abnehmen zugelassen wurden.
Der Hype ist so groß geworden, dass selbst die ausschließlich für Diabetes Typs 2 zugelassenen Vertreter vor allem in den USA zunehmend „off label“ verschrieben werden, also zulassungsüberschreitend auch für Gewichtsverlust. Weil das nicht selten ohne medizinische Notwendigkeit geschieht, überstieg die Lifestyle-getriebene Nachfrage das Angebot regelmäßig und brachte Diabetes-Patienten auch in Deutschland in Bedrängnis.
Angesichts der wachsenden Anzahl dieser Medikamente ist es schwer geworden, den Überblick zu behalten. Etwa darüber, welche denn tatsächlich zur Gewichtsreduktion zugelassen sind und welche nicht. Wie kommt es zudem, dass einige inzwischen auch für überraschend klingende neue Einsatzgebiete getestet werden, darunter zur Behandlung von Covid-19 oder zur Senkung des Alkoholkonsums?
Und nicht zuletzt: Wie steht es mit der Wirksamkeit und vor allem Nebenwirkungen, gerade weil man sie, ähnlich wie Blutdruckmedikamente, wohl so lange nehmen muss, wie man die gewichtssenkende Wirkung haben will? Technology Review fasst das Wichtigste zusammen. Für medizinischen Rat sind aber nach wie vor Ärzte zuständig.
Welche Medikamente sind explizit für Gewichtsreduktion zugelassen?
Drei Mittel sind ausdrücklich für den Einsatz bei Übergewicht und Fettleibigkeit zugelassen und werden wöchentlich verabreicht: Wegovy und Saxenda von Novo Nordisk sowie Zepbound von Eli Lilly. Saxenda ist ein älteres Mittel und muss täglich gespritzt werden statt einmal pro Woche. Das Angebot dürfte in den nächsten Jahren größer werden. Dieses Jahr läuft das Patent für den Saxenda-Wirkstoff Liraglutid aus und mehrere Unternehmen stehen mit generischen Kopien in den Startlöchern.
Welche Mittel sind dann zur Behandlung von Diabetes gedacht?
Die aktuellsten Vertreter sind Ozempic und Victoza von Novo Nordisk, sowie Mounjaro von Eli Lilly. Letzten November empfahl die europäische Zulassungsbehörde EMA, das Diabetesmittel Mounjaro auch zur Behandlung von Übergewicht zuzulassen. In den USA war diese Zulassungserweiterung bereits 2021 erfolgt. Victoza ist ein älteres Mittel und muss statt einmal pro Woche täglich gespritzt werden.
Sind da nicht dieselben Wirkstoffe drin, zum Beispiel Semaglutid in Wegovy und Ozempic?
Ja. Semaglutid und Co. wurden ursprünglich als neue, besser als Insulin wirkende Medikamentengeneration für die Behandlung von Diabetes Typ 2 entwickelt. Als klar war, dass diese sogenannten GLP-1-Agonisten auch gewichtsreduzierend wirken – bei Diabetes Typ 2 kommt es oft zur Gewichtszunahme –, brachten die Hersteller nach entsprechenden klinischen Studien dieselben Wirkstoffe, teilweise höher dosiert, unter eigenen Namen auf den Markt. Auf Victoza (Wirkstoff: Liraglutid) folgte Saxenda und auf Ozempic (Wirkstoff: Semaglutid) folgte Wegovy.
Inzwischen gibt es als zweite Folgegeneration auch sogenannte duale Agonisten, die einen GLP-1-Agonisten und einen GIP-Rezeptor-Agonisten enthalten. Dazu gehören Mounjaro gegen Diabetes (Wirkstoff: Tirzepatid) und Zepbound gegen Übergewicht.
Wie bewirken die Medikamente den Gewichtsverlust?
GLP-1-Agonisten heißen so, weil sie die Wirkung des natürlichen Hormons GLP-1 imitieren. Sie kurbeln die ungenügende Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse an und senken so den krankhaft hohen Blutzuckerwert. Gleichzeitig unterdrücken sie auch die – bei dieser Diabetesform zu starke – Produktion des Hormons Glukagon und dessen Beitrag zu den überhöhten Zuckerwerten. Vor allem aber verlangsamen GLP-1-Agonisten die Weiterleitung des Speisebreis aus dem Magen in den Darm. Die Patienten fühlen sich länger satt und haben weniger Hunger, essen folglich weniger.
Wie wirksam sind die Abnehmmittel?
Zunächst einmal werden alle GLP-1-Agonisten zusätzlich zu viel Bewegung und gesunder Ernährung empfohlen. Gelingt das Abnehmen, verbessert sich der Stoffwechsel und Herz-Kreislauf-Risikofaktoren wie Blutfette, Blutdruck und Entzündungsmediatoren sinken.
Wegovy etwa führte in einer Phase-3-Studie zu einem durchschnittlichen Gewichtsverlust von 15 Prozent und reduzierte das Risiko für schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkte, Herzversagen oder Schlaganfälle um etwa 20 Prozent. Zepbound senkte den Ergebnissen von zwei Phase-3-Studien zufolge das Gewicht im Schnitt um 26 Prozent.
In einem ähnlichen Bereich liegt der angehende Dreifach-Agonist Retatrutid, für den Eli Lilly letztes Jahr in einer Phase-2-Studie bis zu 24 Prozent meldete. Dieses Mittel enthält zusätzlich zum GLP-1-Agonisten und dem GIP-Agonisten auch einen Glukagon-Agonisten, der vor allem Leberfett beseitigen soll.
Welche Nebenwirkungen sind möglich?
Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Übelkeit und Erbrechen, Verdauungsprobleme wie Durchfall und Verstopfung, dazu Schmerzen im Unterleib. Möglich sind auch niedrige Blutzuckerwerte oder gar eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. Beobachtet wurden zudem Erkrankungen der Gallenblase oder Gallensteine. Das Abnehmmedikament Wegovy und das Diabetes-Mittel Ozempic tragen Warnhinweise vor dem Risiko von Schilddrüsentumoren. Allerdings hat die Europäische Arzneimittelagentur EMA im Oktober letzten Jahres erklärt, dass sie – im Rahmen einer Beobachtung seit April 2023 – bei keinem der GLP-1-Agonisten ein erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs gefunden hat.
Was sollen die Medikamente denn noch alles können?
Ende August machte das Abnehmmittel Wegovy Schlagzeilen damit, dass es bei Covid-19-Patienten das Sterblichkeitsrisiko massiv um ein Drittel gesenkt hat, nämlich von drei auf zwei Prozent. Das war keine neue Untersuchung, sondern wurde beim Ausbruch der Corona-Pandemie einer bereits laufenden Phase-3-Studie hinzugefügt. Man hat also geschaut, wie es Probanden ergeht, die bei regelmäßiger Gabe von Wegovy Covid-19 bekommen. Offenbar hatte das Medikament ihre Herz-Kreislauf- und auch die allgemeine Gesundheit so verbessert, dass ihr Risiko für coronabedingte Komplikationen gesunken war.
Novo Nordisk hat offenbar auch Notiz von der wachsenden Zahl anekdotischer Berichte genommen, die als Nebeneffekt der Ozempic-Spritzen – dem Diabetes-Medikament also – von einem geringeren Verlangen nach Alkohol berichten. Seit Mai dieses Jahres untersucht das Unternehmen in einer neuen Studie die möglichen Effekte des Ozempic-Wirkstoffs Semaglutid auf die Lebergesundheit bei Probanden mit alkoholbedingte Lebererkrankung. Dabei wird nun auch geprüft, ob die Teilnehmer denn auch weniger Alkohol trinken. Eli Lilly bestätigte ähnliche anekdotische Berichte über seinen Wirkstoff Tirzepatide, plant aber keine Studien dazu. Beide Unternehmen verneinten Pläne zu Studien über den Einsatz ihrer Wirkstoffe bei Alkoholsucht. Manche Forscher sind derweil angesichts der zunehmenden anekdotischen Berichte besorgt, dass hier der nächste Hype und die nächste Verknappung entstehen könnte.