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MIT Technology Review Feature

Arbeiten für KI: So wenig verdienen Clickworker

Durch die neue Plattform „Data Workers‘ Inquiry“ sollen die oft prekären, aber unsichtbaren Arbeitsbedingungen von Clickworkern und Content-Moderatoren besser publik gemacht werden. Ein Blick nach Venezuela zeigt, wie es zu einer neuen Form digitaler Ausbeutung im Dienste der künstlichen Intelligenz kommen konnte.

Von MIT Technology Review Online
17 Min.
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(Illustration: Edel Rodriguez)

Dass hinter den großen Sprachmodellen der künstlichen Intelligenz die Arbeit von massenhaften menschlichen Arbeiter:innen steckt, ist eigentlich paradox. Diese sogenannten Click- oder Data-Worker füttern zu Hunderttausenden weltweit die Systeme mit Informationen aller Art: vom Benennen von Gegenständen auf Fotos über das Klassifizieren von Texten bis hin zum Transkribieren von Tonaufnahmen. Ihre Arbeit ist essenziell, da sie Informationen so aufbereiten, dass sie als Trainingsmaterial für KI-Modelle eingesetzt werden können. Und dennoch sind die Clickworker unsichtbar und ihre Arbeitsbedingungen prekär. Zumindest der Unsichtbarkeit soll jetzt mit einem Forschungsprojekt entgegengewirkt werden: Das frisch gestartete „Data Workers‘ Inquiry“ ist eine Plattform, auf der Clickworker über ihre Arbeit und Erfahrungen berichten sollen – „ungefiltert“, wie Milagros Miceli im Vorstellungsvideo betont. An dem Projekt beteiligt sind das Berliner Weizenbaum Institut, das DAIR Institute, das von der Ex-Google-Mitarbeiterin und KI-Ethikerin Timnit Gebru gegründet wurde, sowie die TU Berlin.

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Erfahrungen von Clickworkern bündeln

Clickworker weltweit sind dazu eingeladen, als Community-Forscher:innen teilzunehmen – gegen Bezahlung. Auswahlkriterium für die Data-Worker ist, dass sie sich bereits in Betriebsräten, Gewerkschaften, Gemeinden oder Interessenvertretungen organisieren. In einem Zeitraum von zwei bis vier Monaten arbeiten die Teilnehmer:innen an einer bestimmten Fragestellung aus ihrer Clickwork. Dabei können die Personen die Hilfe der beteiligten Projekt-Initiatoren in Anspruch nehmen. Die Untersuchungsergebnisse, die die Plattform sammelt, können in Form von Berichten, aber auch Podcasts oder Dokumentationen veröffentlicht werden. So soll ein besseres Bild über die Arbeitsbedingungen und -erfahrungen der Clickworker entstehen.

Es gibt bereits erste Inhalte von Clickworkern in Venezuela, Syrien und Kenia: So ist beispielsweise schon ein Comic entstanden, der sich mit den unsichtbaren Konflikten von Data-Workern in Kenia auseinandersetzt. Er stammt von Wilington Shitawa, einem ehemaligen Mitarbeiter von Cloud Factory und Sama in Nairobi. Des Weiteren geht es in zwei Podcast-Episoden um die prekären Arbeitsverhältnisse von Content-Moderator:innen in Deutschland bei Telus International in Essen.

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Die Hintergrundidee des Projekts ist es auch, Clickworker miteinander zu vernetzen. „Wir wollen einen Platz schaffen, in dem die Forschung als Mittel zur Organisation dient. Die Teilnehmer:innen, unsere Co-Wissenschaftler:innen, haben damit die Möglichkeit, sich mit ihren Arbeitskolleg:innen auszutauschen. Sie können Sorgen teilen und zusammen Lösungen entwickeln“, sagt Miceli.

Der jetzt folgende Text ist zuerst in der Ausgabe 6/2022 von MIT Technology Review erschienen. Darin beschäftigen wir uns mit den kolonialen Mustern, die die Arbeit rund um KI hervorgerufen hat. Hier könnt ihr die TR 6/2022 als Print- oder PDF-Ausgabe bestellen.

Den Anspruch, die Arbeitsbedingungen der sogenannten Clickworker öffentlich zu machen und in der Folge auch Verbesserungen zu erreichen, teilt auch Oskarina Fuentes Anaya. Sie möchte, dass die Menschen verstehen, wie es ist, ein wichtiger, aber unsichtbarer Teil der globalen Entwicklung von künstlicher Intelligenz zu sein. Sie möchte, dass Menschen wie sie gesehen werden.

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Clickwork der Venezolanerin Oskarina Fuentes Anaya

Fuentes‘ Arbeit bei der Crowdworking-Plattform Appen sollte eigentlich nur ein vorübergehender Nebenjob sein. Während ihres Studiums meldete sich Oskarina Fuentes Anaya bei der Crowdworking-Plattform Appen an, um etwas Geld hinzuzuverdienen. Doch dann brach die Wirtschaft in Venezuela zusammen, die Inflation schoss in die Höhe und ein einst garantierter Arbeitsplatz in der Ölindustrie war keine Option mehr. Aus dem Neben- wurde ein Vollzeitjob.

Heute lebt Fuentes in Kolumbien, wie eine Million weiterer venezolanischer Flüchtlinge. Sie ist in ihrem Haus gefangen – durch eine chronische Krankheit und durch undurchsichtige Algorithmen, die ihr vorschreiben, wann sie zu arbeiten hat.

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Trotz Drohungen von Appen hat sie sich entschlossen, als namentlich genannte Quelle aufzutreten. Sie möchte, dass die Menschen verstehen, wie es ist, ein wichtiger, aber unsichtbarer Teil der globalen Entwicklung von künstlicher Intelligenz zu sein. Sie möchte, dass Menschen wie sie gesehen werden.

Appen ist eines von Dutzenden Unternehmen, die Daten für die KI-Industrie aufbereiten – etwa zum Training der Deep-Learning-Algorithmen von Onlineshops, Sprachassistenten oder selbstfahrenden Autos. Die unersättliche Nachfrage nach solchen Diensten hat zu einem großen Bedarf an billigen Clickworkern geführt, die manuell Videos taggen, Fotos labeln oder Audioaufnahmen transkribieren. 2030 wird der Markt für solche „Geisterarbeit“ voraussichtlich fast 14 Milliarden Dollar erreichen.

Krisen schaffen billige Arbeitskräfte

In den vergangenen fünf Jahren hat sich das krisengeschüttelte Venezuela zu einem Hotspot für diese Arbeit entwickelt. Es stürzte genau zu der Zeit in die schlimmste wirtschaftliche Katastrophe, die irgendein Land in den letzten 50 Jahren in Friedenszeiten erlebt hat, als die Nachfrage nach Clickworkern explodierte. Scharen gut ausgebildeter Menschen mit Internetzugang meldeten sich bei Crowdworking-Plattformen an, um zu überleben. Dadurch bekamen die Unternehmen einige der billigsten Arbeitskräfte, die es je gab.

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Für Menschen wie Fuentes waren solche Plattformen einerseits eine Rettungsleine, andererseits ein Weg in die Ausbeutung. „Es gibt ein enormes Machtgefälle“, sagt Crowdworking-Forscher Julian Posada, Doktorand an der Uni Toronto. „Die Plattformen entscheiden, wie etwas gemacht wird.“ Vieles daran erinnert an die Kolonialzeit.

Antreiber waren ausgerechnet Autogiganten alter Schule wie Volkswagen und BMW. Sie gerieten in Panik, dass die Teslas und Ubers dieser Welt ihr Geschäft zerstören könnten. Also taten sie das, was alteingesessene Konzerne immer tun, wenn sie auf frische Konkurrenz stoßen: Sie stellten Blankoschecks aus.

Autogiganten als „Antreiber“

Autonome Autos brauchen Millionen bis Milliarden von Trainingsdaten – etwa in Form stundenlanger Videos, bei denen Clickworker sämtliche Straßenmarkierungen, Fahrzeuge, Fußgänger, Bäume oder Mülltonnen markieren. Doch anders als bei KI-Modellen, die Kleider kategorisieren oder Nachrichten empfehlen, kann ein einziges falsch beschriftetes Bild in diesem Fall den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.

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Lange war Amazons „Mechanical Turk“ der dominierende Vermittler von Niedriglohnarbeitern. Aber er war eine Plattform für Generalisten, die keine gesicherte Qualität garantieren konnte. In den frühen 2010er-Jahren entstand deshalb eine neue Generation von spezialisierten Crowdworking-Plattformen, die Autobauern eine Genauigkeit von über 99 Prozent bieten konnten.

Eines der bemerkenswertesten Unternehmen darunter ist Scale AI. Es wurde 2016 vom damals 19-jährigen MIT-Studenten Alexandr Wang gegründet und konnte schnell Zehntausende von Clickworkern sowie namhafte Kunden gewinnen. Heute zählen Toyota, Lyft, Open AI und das US-Verteidigungsministerium dazu. Investoren waren begeistert: „Wenn du eine Rikscha ziehen könntest oder Daten beschriften in einem klimatisierten Internetcafé, ist Letzteres der bessere Job“, sagte Mike Volpi von Index Ventures, das 2019 bei Scale eingestiegen war. Heute wird es mit 7,3 Milliarden Dollar bewertet.

Ein globaler Pool von billigen Clickworkern

2017 startete Scale eine Plattform namens Remotasks, um einen globalen Pool von billigen Clickworkern aufzubauen. Bei einigen Aufgaben erstellt eine KI zunächst vorläufige Labels, um sie dann von Menschen korrigieren zu lassen. Bei anderen Aufgaben werden die Daten direkt von Menschen beschriftet und anschließend von anderen Clickworkern überprüft. Die Bezahlung hängt von Geschwindigkeit und Genauigkeit der Verschlagwortung ab.

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Anfänglich suchte Scale vor allem auf den Philippinen und in Kenia nach Clickworkern. Beide Länder boten sich an, da sie seit jeher auf Outsourcing setzen, die Bevölkerung hervorragend Englisch spricht und die Löhne niedrig sind. Etwa zur gleichen Zeit verzeichneten Konkurrenten wie Appen, Hive Micro und Spare5 aber einen dramatischen Anstieg von Anmeldungen aus Venezuela, wie die Recherchen von Florian Alexander Schmidt, Professor an der HTW Dresden, ergaben.

2019 folgte Scale seinen Konkurrenten nach Venezuela. Das Management sah dort die Chance, einen der billigsten Arbeitsmärkte der Welt für die aufwendige Annotation von Laserscan-Daten selbstfahrender Autos einzuspannen. Also warb es Leute an, indem es ihnen mit einer aggressiven Marketingkampagne in den sozialen Medien weismachte, sie könnten viel Geld verdienen. Anfang 2020 eröffnete es zudem eine Plattform namens Remotasks Plus, die nur auf Einladung zugänglich war. Sie versprach eine bessere Ausbildung, Mindestlöhne, Boni sowie Aufstiegsmöglichkeiten – angeblich, um Venezolanern in einer historischen Notlage zu helfen. Später wurde sie auch weltweit eingeführt.

Die weltweite Corona-Pandemie trieb die Anmeldungszahlen in die Höhe. Scale war bald die erste Wahl bei Start-ups, Appen bei Tech-Konzernen und Hive Micro bei anspruchsloseren Kunden.

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Jobs im Browser

Fuentes lebt etwa eine Autostunde südlich von Medellín. Die 32-Jährige teilt sich eine Wohnung mit Mann, Mutter, Tante, Onkel, Oma sowie ihren beiden Hunden. Die Wohnung dient auch als Friseursalon ihrer Mutter. Während Fuentes, ein eingefleischter Anime-Fan mit rosa- und lavendelfarbenen Haaren, im Wohnzimmer am Laptop sitzt, schneidet ihre Mutter einer Frau die Haare.

Auf Fuentes Browser erscheinen die aktuellen Jobs von Appen. Die Aufgaben reichen vom Tagging von Bildern über die Moderation von Postings bis hin zur Kategorisierung von Produktfotos (etwa in Rubriken wie „Schmuck“, „Kleidung“ oder „Taschen“). Zu jedem Job werden eine anonymisierte Kunden-ID angezeigt, die Zahl der zu bearbeitenden Elemente sowie die Entlohnung – in der Regel ein paar Cent pro Element. Das Geld kann sie erst abheben, wenn sie den Mindestbetrag von 10 Dollar erreicht hat.

Nimmt sie einen Job an, folgen die Anweisungen des Kunden. Manchmal sind sie eindeutig, manchmal nicht. Und manchmal erweist sich eine Aufgabe als unmöglich: Zu einem Satellitenbild eines stark bewaldeten Gebiets gibt es keinerlei Instruktionen – nur die Schaltflächen „Baum“ und „keine Bäume“ sowie ein Cursor, mit dem sie offenbar bestimmte Teile des Bildes markieren soll. Egal, was sie auch probiert, es wird jedes Mal abgelehnt.

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Sie öffnet einen weiteren Job – einen Test als Moderatorin. Wenn sie ihn besteht, bekommt sie mehr solcher Aufgaben, die in der Regel besser bezahlt werden. „Enthalten diese Videos Verbrechen oder Menschenrechtsverletzungen?“, lautet die Instruktion. Aber die Videoplayer bleiben dunkel. Es handelt sich eindeutig um einen Bug. Aber nach ihren bisherigen Erfahrungen mit dem Support von Appen lohnt es sich nicht, das Unternehmen darüber zu informieren. Die Aufgabe ist, wieder einmal, unlösbar.

Nach dem venezolanischen Traum folgte das Crowdworking

An der Universität hatte Fuentes Öl- und Gasingenieurwesen studiert. Damals bescherten Venezuelas staatliche Ölkonzerne dem Land noch einen erheblichen Reichtum. Sie war eine gute Studentin und auf dem besten Weg, den venezolanischen Traum zu verwirklichen. Doch im letzten Jahr ihres Masterstudiums brachen die Ölpreise ein, und es begann der dramatische Niedergang der Wirtschaft.

Freunde machten sie damals auf Appen aufmerksam. Und so verdiente sie sich während ihrer Abschlussarbeit 10 bis 15 Dollar pro Woche hinzu. Doch nach dem Studium gab es kaum noch Jobs für Absolventen. Sie machte sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Familie und wusste nicht einmal, ob sie sich künftig überhaupt noch Lebensmittel würde leisten können. Also zog sie Anfang 2019 mit ihrem Mann nach Kolumbien, wo sie ebenfalls die Staatsbürgerschaft besaß. Eine Generation zuvor war ihre Familie auf der Suche nach Sicherheit von Kolumbien nach Venezuela gezogen.

Während ihr Mann in Kolumbien noch um eine Arbeitsgenehmigung kämpfte, bekam Fuentes einen Job in einem Callcenter. Doch dann wurde bei ihr akute Diabetes diagnostiziert. Sie litt einen Monat lang unter lähmenden Krämpfen und verlor zeitweise ihr Augenlicht. Als sie wieder sehen konnte, fragte sie sich, wie sie ihre Medikamente bezahlen sollte. So begann sie, Vollzeit für Appen zu arbeiten.

Zunächst gute Zeit mit Clickworking als Vollzeitbeschäftigung

Wie sich zeigte, verdiente sie damit ungefähr so viel wie in ihrem alten Job. (Laut CTO Wilson Pang orientiert sich Appen bei der Bezahlung am Mindestlohn des jeweiligen Landes.) Nun konnte sie zu Hause bleiben und sich besser pflegen. Sie investierte in einen schnelleren Laptop, um lukrativere Aufgaben wie die Beschriftung von 3D-Laserscans zu übernehmen. Die Investition hatte sie schnell wieder hereingeholt – und noch einiges mehr. Auch ihr Mann hatte mittlerweile einen festen Job gefunden, und sie verdiente mit Appen rund 70 Dollar pro Woche. Das waren die guten Zeiten, sagt sie und lächelt.

Für die meisten anderen Venezolaner war es allerdings unmöglich, das Land zu verlassen. Viele von ihnen mussten Click-Jobs auch deshalb annehmen, weil eine Welle der Kriminalität sie in ihren Häusern gefangen hielt. So wurde Clickworking für viele Familien zur Vollzeitbeschäftigung, sagt Forscher Posada. Manchmal wechselten sich Eltern und Kinder an einem gemeinsamen Computer ab, manchmal übernahmen die Frauen die Hausarbeit, damit die Männer rund um die Uhr arbeiten konnten.

Nach Ausbruch der Pandemie

Auch für Fuentes lief es bald wieder schlechter. Nach Ausbruch der Pandemie wurde es bei Appen immer schwieriger, Jobs zu bekommen, da sich immer mehr Clickworker anmeldeten. Zuvor war die Auftragspipeline zuverlässig 24 Stunden am Tag gefüllt.

Neueinsteiger hatten es noch schwerer. Appen teilte seine Aufgaben in vier Levels ein. Neulinge mussten sich zunächst in den unteren Levels bewähren, bevor sie lukrativere Jobs in den höheren Levels bekamen. Doch irgendwann gab es kaum noch Jobs für Einsteiger. Wer trotzdem Geld verdienen wollte, musste sich auf einem Untergrundmarktplatz ein bestehendes Konto mit einem höheren Level kaufen – mit dem Risiko, dass dieses Konto wegen Verstoßes gegen die Unternehmensrichtlinien gesperrt wurde. (Appen-Sprecherin Christina Golden sagt, man sei inzwischen von den Leveln abgerückt, aber bestimmte Projekte erforderten immer noch bestimmte Qualifikationen und seien daher nicht für jeden zugänglich.)

Somit blieb Remotasks als nächstbeste Option übrig. (Bei Hive Micro ist der Einstieg zwar am einfachsten, aber es bietet auch die härtesten Jobs – wie die Kennzeichnung terroristischer Bilder – für die miserabelste Bezahlung.) Doch kaum war Remotasks Plus gestartet, zeigte das System erste Risse: Arbeitsstunden wurden zu niedrig berechnet, die Anforderungen stiegen, Clickworker beklagten mangelnde Unterstützung, und wer nicht schnell oder präzise genug arbeitete, lief Gefahr, gesperrt zu werden. (Matt Park, Senior Vice President of Operations von Scale, sagt, man habe „stark in Schulung und Unterstützung investiert“, einschließlich spanischsprachigem 24/7-Support und Diskussionskanälen.)

Nach ein paar Monaten wurde die Arbeitszeit von Remo Plus auf 60 Stunden pro Woche gedeckelt. Trotzdem wirbt Scale weiter mit Bildern von Dollarstapeln. „Sie versprechen Stabilität, sie verkaufen dir das wie einen langfristigen Job, und sie lügen“, sagt ein Student, der bei Remo Plus gearbeitet hat und anonym bleiben möchte.

Abgeschaltet: Remo Plus

Ihren Frust können die Clickworker nirgends loswerden. Ihre wichtigsten Kommunikationskanäle zum Unternehmen laufen über Ausbilder, Community-Manager und Personalvermittler, die oft selbst Auftragnehmer der Plattform sind. Deshalb haben sie weder die Möglichkeit noch den Anreiz, sich für die Clickworker einzusetzen. Fragen wurden mit Schweigen, Ausreden oder Mobbing beantwortet. Der ehemalige Computertechniker Ricardo Huggines sagt, dass er bei Remo Plus gesperrt wurde, nachdem er sich zu lautstark über reduzierte Zahlungen und erhöhte Arbeitsbelastung beschwert hatte. („Wir nehmen alle Beschwerden ernst und gehen den Vorwürfen nach“, sagt Park. „Der Zugang kann bei anhaltend schlechter Leistung, Betrug oder Spam entzogen werden.“)

Mit der Zeit wurde die Plattform immer unübersichtlicher und unzuverlässiger. Stürzte sie ab, wurden Clickworker für unvollständig erledigte Jobs bestraft. Nutzer berichten zudem über wochen- bis monatelang ausbleibende Zahlungen. Im April 2021 wurde Remo Plus schließlich ganz abgeschaltet und alle Nutzer auf die Standardplattform Remotasks umgestellt. Scale teilte offiziell mit, dass es sich dabei um ein Experiment gehandelt habe und dieses nun beendet sei. Viele Clickworker beklagen, dass sie ihre letzte Auszahlung nie erhalten haben. TR liegen Screenshots einer Nutzerin über einen achtmonatigen Zahlungsstreit vor, den der Supportmitarbeiter schließlich als gelöst markierte, ohne dass sie jemals ihr Geld erhalten hätte. (Park sagt, die Unternehmensdaten zeigten „keine ausstehenden Zahlungen oder lohnbezogene Supportanfragen“.)

Für viele hat dies die Existenzgrundlage ihrer Familie zerstört. „Daran, wie sie uns behandelten, erkannte ich, dass ihr Ansatz darin bestand, jeden Nutzer so weit wie möglich auszuquetschen, um ihn dann loszuwerden und neue Nutzer zu gewinnen“, sagt Huggines.

Heutzutage wacht Fuentes ängstlich an ihrem Computer, um jederzeit einen Auftrag annehmen zu können. In manchen Wochen verdient sie gar nichts, in anderen nur sechs bis acht Dollar und verfehlt damit die Schwelle, Geld abzuheben. Gelegentlich taucht ein hoch bezahlter Job auf, der in wenigen Stunden 300 Dollar einbringt. Diese Glücksfälle kommen gerade oft genug, um ihr durchschnittliches Einkommen erträglich zu machen. Aber sie sind auch selten genug, um sie an ihren Computer zu fesseln. Wenn ein guter Job auftaucht, hat sie nur wenige Sekunden Zeit, ihn anzunehmen. Einmal hat sie bei einem Spaziergang einen 100-Dollar-Job verpasst. Jetzt geht sie nur noch am Wochenende spazieren, denn sie hat gelernt, dass Kunden ihre Aufträge meist während der Bürozeiten einstellen.

Sie macht ihrem Frust in Telegram- und Discord-Gruppen Luft. Die Mitglieder tauschen Strategien und Hacks aus, um ihr Einkommen zu steigern. Dazu zählen auch selbstentwickelte Tools – zum Beispiel eine Browser-Erweiterung, die neue Jobs mit einem akustischen Signal meldet. Fuentes lässt das Tool sogar nachts laufen, um sich bei Bedarf wecken zu lassen.

Organisation untereinander: Jobs teilen

Vor allem eine Gruppe hat ihr geholfen. Als die Jobs bei Appen zu schwinden begannen, haben die Mitglieder begonnen, ihre Aufträge zusammenzulegen. Wer einen neuen Job angezeigt bekommt, postet dessen URL an alle anderen, die ihn dann übernehmen können. „Wir helfen uns gegenseitig aus“, sagt Fuentes. Das System ist allerdings nicht perfekt: Wenn mehrere Nutzer dieselbe Aufgabe parallel bearbeiten, bleibt weniger für jeden Einzelnen übrig.

Die Mitglieder warnen sich auch vor Kunden, die Leistungen besonders streng bewerten. Das kann zu einer verheerenden Kontensperrung führen. Nahezu alle Mitglieder haben so etwas schon erlebt, sagt Fuentes. Dann verlieren sie nicht nur den Zugang zu neuen Aufträgen, sondern auch zu allen Einnahmen, die noch nicht abgehoben wurden.

Auch Fuentes ist bereits gesperrt worden – mit der Begründung, sie habe „unehrliche Antworten“ gegeben. Als sie Einspruch erhob, bestätigte der Support, dass es sich um einen administrativen Fehler gehandelt habe. Dennoch dauerte es Monate, bis ihr Konto wiederhergestellt wurde. „Wir haben Maßnahmen ergriffen, die Reaktionszeit zu verkürzen“, sagt Appen-Sprecherin Golden. „Aber wir bekommen täglich Tausende von Anfragen und bearbeiten diese nach Priorität.“

Golden berichtet zudem von einem Anstieg der „Betrugsversuche“ – zum Beispiel durch Nutzer, die per VPN vorspiegeln, sich in einem Land mit höheren Löhnen zu befinden. Deshalb suche das Unternehmen proaktiv nach solchen Verhaltensweisen und schließe Konten, die es für unrechtmäßig hält. Die Nutzer entgegnen, dass gerade die unrealistischen Erwartungen und die aggressive Politik der Plattform sie dazu zwingen, kreative Umgehungen zu finden.

Zustände bei Remote Tasks

Seit der Schließung von Remo Plus haben sich auch die Bedingungen auf Remotasks verschlechtert. Die Nutzer berichten von vielen Bugs und immer unzuverlässigeren Zahlungen. Manche verbringen Stunden mit Jobs, um dann festzustellen, dass sie dafür nur einen Bruchteil der vereinbarten Bezahlung bekommen. Andere berichten von Lohnverlusten durch plötzliche Stromausfälle. „Die Plattform ist so konzipiert, dass die Arbeit während des gesamten Prozesses automatisch gespeichert wird“, sagt Matt Park von Scale.

Im Zuge der weltweiten Expansion von Remotasks argwöhnen die Clickworker in Venezuela, schlechter behandelt zu werden als ihre Kollegen in reicheren Ländern. Und Nutzer in Nordafrika berichten, dass Scale ihre Löhne innerhalb weniger Monate um mehr als ein Drittel gekürzt sowie Auszahlungen zurückgehalten oder sogar ganz einbehalten habe, sodass einige Nutzer nun negative ausstehende Beträge haben (mit anderen Worten, sie schulden Scale Geld). Das zeigen Screenshots, die TR vorliegen. Etwas Ähnliches hätten philippinische oder europäische Kollegen nie erlebt, sagen Clickworker aus Venezuela und Nordafrika. „Die Zahlungen werden projektbezogen und nicht geografisch festgelegt“, sagt Park. In „seltenen Fällen“ hätten Fehler zu „ungenauen Lohnschätzungen“ geführt.

Scale versuchte auch, Proteste dagegen zu unterbinden. Als sich acht nordafrikanische Clickworker kürzlich gegen drastische Lohnkürzungen wehrten, drohte das Unternehmen allen mit Rauswurf, die sich an „Revolutionen und Protesten“ beteiligen. „Sie behandeln uns, als wären wir keine Menschen“, sagt Hossam Ashraf Esmael, ehemaliger Community-Manager bei Remotasks, der im Namen der acht spricht. „Als wären wir es nicht wert, genug Geld zu verdienen.“ Remotasks meint: „Im Februar wurden die Honorare für dieses Projekt aktualisiert, um sie an ähnliche Projekte anzupassen“, sagt Park. „Remotasks hat sich verpflichtet, in jeder Region faire Löhne zu zahlen. Wir führen regelmäßig Bewertungen und Aktualisierungen unserer Bezahlung durch.“

Tickender Timer

TR hat einen eigenen Account bei Remotasks in Venezuela angelegt, um die Aussagen der Clickworker zu überprüfen. Es war eine verstörende Erfahrung. Das Einführungstraining zeigte das animierte Bild einer Frau, die von Dollarscheinen überschüttet wird. Doch die Instruktionen einer Aufgabe waren oft schwer zu verstehen und enthielten seitenweise technische Informationen. Oben links auf dem Bildschirm tickte ein Timer ohne klare Deadline und ohne eine Möglichkeit, ihn zu stoppen, um zur Toilette zu gehen. (Parks sagt, es handele sich um einen Inaktivitätstimer, der eine Aufgabe wieder in den Pool zurückgibt, wenn sie zu lange unerledigt bleibt.)

Nach drei Fehlern landete man wieder bei den Instruktionen. Und manchmal konnten die Aufgaben nicht geladen werden. Nach zwei Stunden Arbeit, einschließlich Tutorial, haben wir elf US-Cent verdient. (Laut Park verdienen Clickworker in Venezuela durchschnittlich etwas mehr als 90 Cent pro Stunde.)

Parallel zum Aufstieg von Plattformen wie Scale bringen sich neue Start-ups als ethische Alternative ins Spiel, mit stabilen Löhnen, Sozialleistungen, Aufstiegschancen und guter Ausbildung. Doch sie machen nur einen winzigen Teil des Marktes aus. „Vielleicht verbessern sie das Leben von 50 Clickworkern“, sagt Milagros Miceli, Doktorandin an der TU Berlin, die solche Unternehmen untersucht. Aber auch sie müssen bei einem Dumping-Wettlauf mithalten, bei dem die Konkurrenten gezielt Arbeitskräfte aus verarmten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen rekrutieren – Jugendliche, Flüchtlinge, Menschen mit Behinderungen.

Koordinierte internationale Regelung gefordert

Besonders deutlich wurde dies während der Pandemie, als das plötzliche Überangebot an Clickworkern die Löhne einbrechen ließ. Davon betroffen sind Menschen wie Jana aus Kenia, die uns gebeten hat, ihren richtigen Namen nicht zu nennen. Sie könne mit ihrem sinkenden Einkommen ihr Kind nun nicht mehr ernähren, sagt sie. Deshalb jongliert sie mit zwei Jobs. Tagsüber arbeitet sie Vollzeit bei einer Plattform, die als Vorreiterin des ethischen Crowdworkings gilt. Nachts loggt sie sich bei Remotasks ein und arbeitet von drei Uhr früh bis zum Morgen. „Wegen Corona hat man keine andere Wahl“, sagt sie. „Man hofft einfach auf bessere Tage.“

Aber diese besseren Tage werden nicht ohne eine koordinierte internationale Regelung kommen, so Forscher Posada: „Plattformen können ausweichen. Wenn nicht auf die Philippinen, dann nach Venezuela. Wenn nicht nach Venezuela, dann irgendwo anders hin.“

„Es ist eine Mischung aus Armut und guter Infrastruktur, die solche Phänomene möglich macht“, ergänzt Crowdworking-Forscher Schmidt. „Wenn die Krisen weiterwandern, ist es sehr wahrscheinlich, dass ein anderes Land die Rolle von Venezuela übernimmt.“

Tatsächlich machen sich einige Plattformen bereits auf die Suche nach noch billigeren Arbeitskräften. So bot Scale während der Pandemie virtuelle Schulungen für Länder in Asien, Lateinamerika, Afrika südlich der Sahara und im arabischen Raum an. Dem Datenverkehr im Web zufolge ist der Anteil der Anmeldungen aus Venezuela bei Remotasks rückläufig. Daten aus der Onlinewerbung zeigen, dass nun Kenia gezielt angesprochen wird. „Ich denke, sie wissen, dass die Menschen hier Probleme haben“, sagt Calvin Otieno, Clickworker aus Kenia. Er verließ die Plattform nach vier Monaten wieder, weil die Bezahlung „sehr demoralisierend“ war.

Zwischen Dankbarkeit und Appell

Fuentes fürchtet den Tag, an dem Appen sie im Stich lassen könnte. Trotz allem ist sie unendlich dankbar: „Ich habe dank dieser Plattform überlebt. Andere Plattformen haben die Zahlungen eingestellt, aber Appen war immer da.“

Gleichzeitig wünscht sie sich, dass Appen anerkennt, wie engagiert seine Nutzer sind, und sich mehr um sie kümmert: „Ich hoffe, dass Appen in vier bis fünf Jahren ein traditionellerer Arbeitgeber wird. Sie wissen, dass es uns gibt, dass wir krank werden können, dass wir Sicherheit und Gesundheitsvorsorge brauchen.“ Appen-Sprecherin Golden: „Wir sind stolz auf unsere Mitarbeiter und arbeiten hart daran, es für sie besser zu machen. Wir möchten, dass sie wissen, dass wir sie schätzen und mit ihnen mitfühlen.“

Nachdem Fuentes der Plattform und ihren Kunden so viele Jahre anonym gedient hat, möchte sie, dass die Menschen ihr Gesicht sehen und ihren Namen kennen. Sie lädt ein Foto hoch mit der Botschaft: „Vergesst uns nicht!“

Dieser Text stammt von Karen Hao und Andrea Paola Hernández.
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