Wer eine Station im Arbeitsleben abschließt, lässt sich dafür meist ein Zeugnis ausstellen. Man weiß ja nie, wann die nächste Bewerbungsphase kommt und möchte die eigene Leistung – oder viel mehr die Einschätzung des Arbeitgebers zur eigenen Leistung – gerne schwarz auf weiß vorlegen. Aber lesen Personaler:innen die mitgeschickten Dokumente wirklich? Wir haben nachgefragt.
Bei Recruiterinnen nachgefragt: „Niemand schickt ein schlechtes Zeugnis“
Mit Arbeitszeugnissen ist das so eine Sache: Offensichtlich negative Passagen dürfen aus rechtlichen Gründen nicht rein. Die Positiv-Floskeln, in denen Kritik deswegen verpackt wird, sind mittlerweile aber auch hinlänglich bekannt oder spätestens nach einer kurzen Suche im Netz enttarnt.
Jeanine Totzauer, Senior People & Culture Managerin bei der Konsumgütermarke Share, erklärt dementsprechend auf Anfrage von t3n: „Niemand schickt ein schlechtes Zeugnis.“ Arbeitszeugnisse würden ihr zwar immer wieder begegnen, aber „wenn Kandidat:innen eines mitschicken, dann ist es sowieso nur ein gutes Zeugnis und enthält in der Regel dieselben Phrasen“.
Liegt kein Arbeitszeugnis vor, wird Trotzauer aber auch nicht automatisch skeptisch, „denn noch immer wissen einfach nicht alle Arbeitnehmenden, dass ihnen ein Zeugnis zusteht“. Insgesamt geben die Arbeitszeugnisse aus Sicht der Personalerin kaum Aufschluss darüber, ob jemand menschlich gut ins Team und zur ausgeschriebenen Stelle passt. „Ihr einziger Mehrwert besteht in der Tätigkeitsbeschreibung, die man darin finden kann“.
Internationales Recruiting: Empfehlungsschreiben statt Arbeitszeugnis
Schaut man auf die internationale Ebene, wird klar: Ein Arbeitszeugnis, wie man es aus Deutschland kennt, gibt es gar nicht überall. Bei Zalando werden die klassischen Zeugnisse deswegen im Bewerbungsprozess nicht berücksichtigt – im Team des Onlinehändlers arbeiten Menschen aus rund 140 Nationen.
Man konzentriere sich „in erster Linie auf die Qualifikationen, Fähigkeiten und Leistungen der Kandidat*innen im gesamten Auswahlverfahren“, heißt es von einer Unternehmenssprecherin. Sie ergänzt allerdings auch: „Referenzen von früheren Führungskräften oder Kolleg*innen können als nützliche zusätzliche Informationen dienen.“
Wer also beispielsweise ein Empfehlungsschreiben mitliefert, das Arbeitgeber im Gegensatz zum Arbeitszeugnis nicht verpflichtend ausstellen müssen, könnte damit punkten.
Arbeitszeugnisse als „ergänzender Aspekt“
Für Eva Ell, die bei Henkel die Bereiche Employer Reputation, Diversity, Equity & Inclusion, Recruitment und Ausbildung in Deutschland und der Schweiz leitet, sind Arbeitszeugnisse „ein ergänzender Aspekt“. Sie lege mit ihrem Team aber „insgesamt mehr Wert auf die für die jeweilige Stelle relevanten Fähigkeiten und Kenntnisse, die Soft Skills sowie die bisherigen Erfahrungen der Bewerber:innen“.
Und Alexandra Kammer, Chief Diversity Officer und Mitgründerin des HR-Startups Aivy vermutet, dass die meisten Recruiting-Profis Zeugnisse, wenn denn eher überfliegen, „um schnell die vermeintlich vergebene Schulnote zu erkennen“.
„Der aus dem Zeugnis gewonnene Eindruck fließt in den Gesamteindruck ein und wird hier wohl eher als Bestätigung genutzt.“ Denn, so Kammer: Der sogenannte Confirmation Bias beschreibt, dass unser Gehirn unter Zeitdruck die Informationen stärker wahrnimmt, „die das bereits gewonnene Bild bestätigen“. „Ist dieses zum Beispiel positiv, so achte ich beim Überfliegen des Zeugnisses auf Worte und Formulierungen, die mich bekräftigen.“
Der Knackpunkt am Arbeitszeugnis: Es ist „sehr subjektiv“
Bei Aivy beschäftigt sich Kammer mit stärkenbasiertem Recruiting. Psychologische Eignungsdiagnostik soll dabei helfen, „individuelle Stärken (…) sichtbar zu machen“. Aus Kammers Sicht haben Arbeitszeugnisse mehrere Schwächen. Die Erste: „Sie sind sehr subjektiv, der Kontext der Erstellung ist im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar und kann zum Beispiel durch unternehmensinterne politische Beziehungen beeinflusst werden“. Geht es nach Kammer, kommen Objektivität und Fairness dadurch zu kurz.
Auch die Floskeln, die in Zeugnissen Standard sind, sieht Kammer kritisch – denn da könne es durchaus unbeabsichtigte Fauxpas geben. „Hier ist auch die Frage, ob sich alle derselben Codes bedienen. In etablierter Zeugnissprache bedeutet ja zum Beispiel die Bewertung ‚gut‘ nur ‚durchschnittlich‘ und so entstehen Beurteilungsfehler. Kleine Unternehmen, mit einer schwach besetzten oder nicht existenten Personalabteilung, können hier schon mal daneben greifen“.
Kammer glaubt, dass „die Bewertung von beruflichen Leistungen auch weiterhin in Arbeitszeugnissen ihren Platz finden wird“. Weil sich die Arbeitswelt aber immer schneller ändere, dürfte der „Blick in die Vergangenheit“ aber immer weiter an Bedeutung verlieren.