Wird der Arztbesuch bis Ende des Jahres „digital first“ sein?

Vom E-Rezept über Diga bis zur Medikamentenlieferung per App – t3n-Redakteurin Insa Schniedermeier stellt die These auf, dass der Gesundheitsbereich bis Ende des Jahres „digital first“ sein könnte. Am Dienstag haben meine Kolleg:innen Nadine Graf, Andreas Weck und ich in einem t3n Pro-Talk zusammen mit unserem Chefredakteur Holger Schellkopf über steile Thesen für das Jahr 2022 gesprochen. Eine meiner Thesen lautete dabei: Bis Ende des Jahres wird der Gesundheitsbereich „digital first“ sein – vom Arztbesuch bis zur Medikamentenbestellung per App. So steil mag das für uns digitale Pionier:innen vielleicht gar nicht klingen. Aber wenn man Deutschland und das hiesige Gesundheitssystem mit in den Mix wirft, lehnte ich mich doch ganz schön aus dem Fenster. Im Folgenden erkläre ich, welche Entwicklungen mich zu der Aussage bewogen haben. Medizin wird digitaler 1. Das Angebot in der Telemedizin wächst. Anbieter:innen wie die Teleclinic (Gründung 2015) oder Zava (Gründung 2011) sind seit Jahren etabliert und auch neue Player:innen drängen in den Markt: Das Telemedizin-Startup Medkitdoc konnte beispielsweise erst kürzlich rund sieben Millionen Euro an Kapital einsammeln. Zu den Investor:innen gehört Vorwerk Ventures, die auch in Hellofresh und Flaschenpost investiert sind. Medkitdoc bietet chronisch erkrankten Patient:innen eine Plattform, auf der sie sich von Fachärzt:innen in einer Videosprechstunde beraten lassen können – wodurch zeitaufwändige Hausbesuche entfallen. 2. Das E-Rezept kommt 2022, daran scheint es trotz aller Pannen nichts mehr zu rütteln zu geben. Durch das E-Rezept werden neue Chancen für Startups und neue Geschäftsmodelle entstehen. 3. Auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbestätigung (E-AU) soll im Juli 2022 endlich kommen und den gelben Schein aus Papier ablösen. Die Pilotphase läuft bereits seit diesem Januar. 4. Zudem wird die Akzeptanz der digitalen Gesundheitsanwendungen – kurz Diga – steigen. Diga sind digitale Anwendungen fürs Smartphone oder Tablet, die von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen auf Rezept verschrieben werden können. Eine Zuzahlung der Patient:innen ist in der Regel nicht nötig. Möglich ist das durch das am 19. Dezember 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das den Weg für die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (Digav) bereitet hat. Die ersten beiden „Apps auf Rezept“ gegen Tinnitus (Kalmeda) und Angststörungen (Velibra) gingen Anfang Oktober 2020 live. Seitdem ist das Diga-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte auf 28 Apps angewachsen – Tendenz steigend. Einer der Neuzugänge ist die Potenz-App Kranus Edera, über die wir vor Kurzem berichtet haben. Kranus Edera ist seit Dezember 2021 vorläufig als Diga zugelassen und richtet sich an Männer ab 18 Jahren mit Erektionsstörungen. Noch sind die Nutzungszahlen der „Apps auf Rezept“ gering: Stand Oktober 2021 wurden einer Studie von Deloitte zufolge nur rund 45.000 Diga an Patient:innen verschrieben. Doch die Studie zeigt auch, dass über das erste Jahr seit der Zulassung ein deutliches Wachstum erkennbar war. Zudem stellt die Deloitte-Studie als positives Zeichen heraus, dass eine Professionalisierung im Studiendesign der Hersteller:innen erkennbar wurde. Denn um als Diga zugelassen zu werden, müssen hohe Zulassungsanforderungen erfüllt werden, inklusive klinischer Evidenzstudien, die für die meisten Startups Neuland sind. Der größte Handlungsbedarf liegt Deloitte zufolge darin, die Diga in die Therapiekonzepte der Ärzt:innen zu integrieren. Die Autoren schreiben: „So ist die Integration in Versorgungspfade derzeit noch nicht erkenntlich, da auch eine vertragsärztliche Einbindung für die Mehrheit der Diga nicht vorgesehen ist. Hier bestehen aus unserer Perspektive die größten Hebel für eine effektivere Nutzung von Diga durch Patient:innen und Ärzt:innen.“ [caption id="attachment_1446239" align="aligncenter" width="620"] Die Schlaf-App auf Rezept von Somnio ist inzwischen dauerhaft ins Diga-Verzeichnis aufgenommen worden. (Bild: Somnio)[/caption] Meiner Meinung nach wird das dann erfolgen, wenn die Diga die zwölfmonatige Probephase erfolgreich bestanden haben und ihre positiven Versorgungseffekte durch unabhängige Studien nachweisen konnten. Acht Apps ist das inzwischen gelungen. Sie wurden dauerhaft ins Diga-Verzeichnis aufgenommen, dazu gehören die Schlaf-App Somnio, Kalmeda gegen Tinnitus sowie die App gegen Stress und Burnout von HelloBetter. Die restlichen 20 Diga befindet sich derzeit noch in der Erprobungsphase. Auch der Preis der Diga müsse sich ändern, um die Akzeptanz unter den Ärzt:innen zu erhöhen, schreibt Ibo Teuber per Mail. Teuber ist Partner bei Deloitte im Bereich Healthcare und Mitverfasser der Diga-Studie. Derzeit liegen die Kosten einer Diga im Schnitt bei rund 400 Euro im Quartal. Teuber empfiehlt, den Preis der Diga zu halbieren, damit sie auch verschrieben werden, denn aktuell werden die Diga aus dem Arzneimittelbudget der jeweiligen Ärzt:innen finanziert. „Auch wenn die Preisreduktion für das Unternehmen auf den ersten Blick einen erheblichen Nachteil darstellt, kann es gegebenenfalls über eine entsprechende Mengenausweitung (bei Verschreibungen) überkompensiert werden“, schreibt er. [caption id="attachment_1446252" align="aligncenter" width="620"] Ibo Teuber, Partner bei Deloitte im Bereich Healthcare und Mitverfasser der Diga-Studie. (Foto: Deloitte)[/caption] 5. Last but not least ist Ende 2021 auch ein neuer Markt entstanden für Medikamentenlieferservices per App. Mit viel Kapital ausgestattet haben sich Player:innen wie First A, Mayd oder Kurando ins Rennen um den Titel des Gorillas für Medikamente begeben. Hier wird 2022 mit Sicherheit noch viel passieren. Wie kann eine „digital first“-Versorgung aussehen? Meine These für 2022 ist daher, dass wir bald, statt mit unseren Wehwehchen zum Arzt oder zur Ärztin zu gehen, um danach mit dem Rezept in Papierform in die Apotheke zu tigern, alles online erledigen können. Insbesondere dann, wenn es sich um eine Folgebehandlung handelt, bei der man nicht abgetastet oder abgehorcht werden muss. [crosslinks ids="1442850, 1444422, 1444831"] Ein:e Teledoktor:in übernimmt dann die Erstversorgung. Das E-Rezept gibt es anschließend digital, genauso wie bei Bedarf auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbestätigung (E-AU). Zur Therapie stehen Diga zur Verfügung. Alternativ oder ergänzend kann man sich bequem von zu Hause aus in nur 30 Minuten seine Medikamente liefern lassen. Durch die elektronische Patientenakte haben Ärzt:innen zudem bereits heute mehr Transparenz und eine bessere Grundlage für ihre Diagnose. Klingt doch nach einer schönen Zukunftsutopie, oder? Teuber schreibt dazu: „Die Zukunft der Gesundheitsversorgung wird ganz maßgeblich durch die digitale Transformation bestimmt, eine komplette Digitalisierung der Gesundheitsversorgung bis Ende des Jahres scheint aber tatsächlich zu ambitioniert. Wesentliche Bausteine – die es für eine integriere und sektorenübergreifende Versorgung benötigt – werden bis dahin nicht ausgerollt sein. So hat zum Beispiel das E-Rezept gerade wieder einen ‚Dämpfer‘ in der zeitlichen Umsetzung erfahren.“ Wir werden sehen.