Aufmerksamkeit als Geschäftsmodell: Die Spielregeln der neuen Welt

Seit geraumer Zeit schreibe ich andernorts über unsere moderne Aufmerksamkeitswirtschaft. Sie entwickelt sich an der Schnittstelle zwischen Technologie, Medien und digitaler Wirtschaft. Dort geht es bekanntermaßen seit Jahren turbulent zu, inklusive immer neuer Herausforderungen: von der ewigen Suche nach Geschäftsmodellen für den Journalismus über Filter Bubbles bis zur Macht der Plattformen.
Im Hintergrund all dessen hat sich über die letzten zwei Jahrzehnte eine spannende Entwicklung gezeigt. Dank neuer Technologien und der mit ihnen einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen (#Beschleunigung, #alwaysOn etc.) ist die menschliche Aufmerksamkeit immer knapper bemessen. Die Folge: Sie wird zum Gut. Das ist keine neue Einsicht. Bereits 1997 formulierte sie Michael H. Goldhaber im Wired Magazine. Doch sie gewinnt zunehmend an Relevanz.
Denn Unternehmen leben zunehmend von unserer Aufmerksamkeit. Auf immer mehr Screens (und bald Lautsprechern) lassen sie wenig unversucht, um sie zu erhaschen. Diese Entwicklung steht gerade erst am Anfang: Das allgegenwärtige Smartphone ist noch immer ein junges Phänomen. Langsam aber sicher kommen Augmented, Mixed und Virtual Reality in unserer Welt an. Und Unternehmen jeglicher Couleur werden sich verstärkt dieser Mittel bedienen.
Das hat diverse Konsequenzen. Zwei sind mir besonders wichtig:
a) Ihr Einfluss auf uns Menschen. Wie passen wir uns an eine Welt an, in der wir jederzeit verbunden sind und in der es ein unbegrenztes Angebot an Informationen gibt?
b) Ihr Einfluss auf unser Wirtschaftssystem. Welche Folgen hat der Wandel weg von angebotsbestimmten Massenmärkten – die darauf fußten, mit Hilfe von Massenmedien den Großteil der Menschen eines Marktes erreichen zu können – hin zu einer On-Demand-Wirtschaft?
Beide Themen sind eng miteinander verflochten. Immer mehr Unternehmen aus aller Welt wollen sich ein Stück vom Aufmerksamkeitskuchen sichern (was dadurch erschwert wird, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt). Ihre Bemühungen werden zusehends aufdringlicher. Das Web hat sich in weiten Teilen in eine extrem lästige Werbeplattform verwandelt. Vermeintlich nützliche virtuelle Assistenten beginnen inzwischen, unsere Wohnungen in personalisierte Werbeflächen zu verwandeln.
Doch das Problem betrifft nicht allein die Werbung. Etliche Web-Services versuchen, ihren Aufmerksamkeitsanteil zu erhöhen, um darauf basierend ein Geschäft zu etablieren (welches meist auf Werbung basiert). Das Resultat: Eine Flut von Benachrichtigungen auf all unseren Bildschirmen. Anscheinend ist es angemessen, uns zu unterbrechen, wann immer monumentale Ereignisse wie diese eintreffen:
- Zwei Personen, mit denen du vage bekannt bist, besuchen eine Veranstaltung in deiner Nähe.
- Ein obskurer Produzent, der einen Song gemacht hat, den du geliked hast, hat einen neuen Track hochgeladen.
- Irgendeine Person – deren Identität du nur herausfindest, wenn du bezahlst – hat dein Profil auf einem Netzwerk besucht, bei dem du vor Jahren mal einen Account angelegt hast.
Wir beginnen gerade erst zu verstehen, welchen Effekt all das auf unsere mentale Verfassung hat. Allen Anzeichen zufolge jedoch keinen besonders guten. Daher häufen sich die Kommentare, die jene ständige Verschmutzung unserer Aufmerksamkeit kritisieren. In einem lesenswerten Wired-Beitrag hat Tim Wu unlängst über Aufmerksamkeitsdiebstahl geschrieben:
Inzwischen ist ziemlich gut verstanden, dass wir regelmäßig auf andere Weise als mit Geld für Dinge bezahlen. Manchmal zahlen wir noch mit Geld. Doch oft zahlen wir mit Daten und noch öfter mit unserer Zeit und Aufmerksamkeit. […]
Ob der Zentralität dieses Deals in unseren Leben ist es so unverschämt, dass es Unternehmen gibt, die unsere Aufmerksamkeit ohne irgendeinen Gegenwert kapern, und zwar ohne jegliche Form der Zustimmung – auch „Aufmerksamkeitsdiebstahl“ genannt. Nimm beispielsweise die „Innovation“ des Tankstellen-TVs – also die in Zapfsäulen eingebauten Fernseher, die den gefangenen Tankenden mit Werbung und anderem Pseudo-Programm zuballern. — Tim Wu, Wired
In Deutschland bin ich den extremsten Beispielen, die er in der Folge beschreibt (etwa personalisierte Werbung in Krankenhäusern!), glücklicherweise noch nicht begegnet. Dennoch: Auch hierzulande ist uns Aufmerksamkeitsdiebstahl bestens vertraut.
Wu hat auch einen Lösungsansatz. Der basiert auf Regulierung:
Die andere Option ist, dass Gemeindeverwaltungen ihre Gesetze zur Erregung öffentlichen Ärgernis überholen und sie etwa Werbebildschirme mit „gefangenen“ Zuschauern dort aufnehmen. Einem ähnlichen Problem standen wir schon mal gegenüber: In den 1940er Jahren haben Städte Werbetrucks mit lärmenden Lautsprechern verbannt; das Argument gegen Werbebildschirme und Sound-Trucks ist im Grunde identisch.— Tim Wu, Wired
Ich hätte keinerlei Einwände dagegen, doch ein Verbot flächendeckend durchzusetzen wird kaum gelingen. Zumal öffentliche Screens nur ein Teil des Problems sind. Doch zum Glück müssen wir nicht auf die Gesetzgeber vertrauen. Ich bin relativ zuversichtlich, dass sich eine Lösung auf organische Weise entwickeln wird: Geschäftsmodelle, die nicht auf Massenmärkten (und daher lautstarker Werbung) basieren, sondern auf Relevanz.
System Massenmarkt
Unsere heutige Aufmerksamkeitslandschaft, und weitergedacht unsere Wirtschaft, ist ein zusammenhängendes System. Medien, Werbetreibende, Agenturen und alle anderen Akteure stehen wechselseitig miteinander in Beziehung. Sie existieren, ohne fixe Reihenfolge, aufgrund des Anderen. Ihre gemeinsame Existenzgrundlage sind Massenmärkte.
Massenmedien entsprangen der pre-Internet Logik von Knappheit und Physik: Ein Medienprodukt zu produzieren war teuer und bedurfte hoher Investitionen. Deshalb setzten sich wenige große Anbieter durch. Da Platz in Medien endlich war – dank des Papiers, auf das gedruckt wurde, sowie begrenzter Sendefrequenzen – bündelten die Herausgeber Inhalte. Für jeden sollte zumindest ein bisschen was dabei sein. Nur so konnten Medien wirtschaftlich rentabel zum Kunden gebracht werden.
Die gleiche Logik traf auf Konsumartikelhersteller zu. Physische Güter sind knapp. Sie zum Kunden zu bringen ist eine logistische Herausforderungen. Distribution war pre-Internet daher ein kritischer Erfolgsfaktor. Der Handel war dafür essentiell, denn er besaß die knappen und daher begehrten Regalflächen. Also galt es, wenige Güter zu produzieren, die für möglichst viele Menschen „gut genug“ waren. Damit der Kunde im Regal dann das eigene Produkt anstelle eines anderen wählte, trieb man Werbung (und natürlich, um überhaupt vom Händler ins Sortiment genommen zu werden).
So also funktionierte das System Massenmarkt: Konsumartikelhersteller brauchten Werbung, die Werbung brauchte die Reichweite der Medien und die Medien brauchten die Werbegelder. Und genau diesem System entspringt ein Großteil des Aufmerksamkeitsdiebstahls, den wir heute beobachten können: Werbetreibende, die mit allen Mitteln versuchen, Menschen auf sich aufmerksam zu machen.
Gegenmittel Relevanz
Doch das Web verändert die Dynamik. Dort greifen wir auf Informationen und Inhalte on-demand zu, das Angebot ist im Grunde endlos. Physische Güter sind zwar nach wie vor knapp, nicht jedoch der Zugriff darauf. Während früher begrenzte Regalflächen die Gewinner bestimmten, haben wir online Zugriff auf alle „Regale“ weltweit. Zumal, de facto, nur Amazons (unlimitierte!) Regalfläche wirklich zählt.
Hinzu kommen a) die fragmentierte und hochspezifische Weise, in der wir heutzutage unsere Aufmerksamkeit investieren sowie b) die mächtigen Plattformen, die sie aggregieren und distributieren. In dieser Welt ist es nicht länger sonderlich sinnvoll, ein Geschäft auf der Grundlage von Reichweite zu entwickeln, wie es Massenmärkte erforderten.
Das neue Rezept heißt Relevanz. Biete etwas an, das Konsumenten wirklich wollen, und optimiere das Geschäft für das Web. Wer dies erfolgreich schafft, wird entdeckt werden.¹
M.G. Siegler, ein General Partner bei Googles Venture-Capital-Ableger GV, schrieb neulich über Nischennetzwerke:
Würde ich jemandem, der gerade ein soziales Netzwerk bauen will, einen Rat geben, dann wäre dieser sehr simpel: Sei granular. Sogar nischig. Der Pfad zu massiver Größe ist geschlossen, doch ein anderer hat geöffnet. Ein großer Prozentsatz einer kleinen Grundmenge ist immer noch klein. Doch ein kleiner Prozentsatz einer gewaltigen Grundmenge ist groß. Und nochmals: Der wahre Wettbewerber ist Zeit. Der Weg, das Thema anzugehen, ist nicht länger möglichst breiter Anklang, sondern präzise targetierte Leidenschaft.— M.G. Siegler, General Partner bei Googles Venture-Capital-Ableger GV
Zwar sind Nische und Relevanz nicht identisch (alle Internetriesen basieren ebenfalls auf Relevanz, nicht Werbeausgaben), dennoch liegt Sieglers Zitat der gleiche Gedanke zugrunde: Die erfolgreichen Unternehmen von morgen müssen verstehen, dass der Schlüssel zum Erfolg nicht länger die Massenmarktlogik „gerade gut genug für möglichst viele Menschen“ ist, sondern ein Angebot, dass spezifisch zugeschnitten ist – und demnach relevant. Das gilt nicht nur für soziale Netzwerke.
Technologie und insbesondere das Web sind essentiell in unserer modernen Aufmerksamkeitswirtschaft. Daher spielen sie eine zentrale Rolle, wenn es um Aufmerksamkeitsdiebstahl geht. Jedoch sind sie nicht schuld an dem Phänomen. Vielmehr schaffen sie schlicht eine neue Realität. Nicht jedoch auf einen Schlag: So wie im Falle jeglicher Innovation, existieren die alte und die neue Welt für eine Weile parallel.
Der wahre Treiber für all den Aufmerksamkeitsdiebstahl um uns herum sind ergo all die Unternehmen, die sich noch nicht den Spielregeln der neuen Welt angepasst haben. Sie alle spüren das Problem, welches die neue Welt geschaffen hat: Es wird immer schwerer, einen Massenmarkt zu erreichen. Doch die wenigsten von ihnen reagieren darauf, indem sie den Kern der Herausforderung angehen. Dazu müssten sie zunächst akzeptieren, dass das eigene Geschäftsmodell defekt ist – und nach einem neuen suchen. Zugegebenermaßen ein schwieriges Unterfangen; ohne Erfolgsgarantie. Stattdessen versuchen sie, dass alte System solange es geht aufrecht zu erhalten. Die Resultate dessen nerven uns alle tagein, tagaus. Zum Glück hat diese Strategie eine Halbwertszeit.
Eine englische Fassung dieses Artikels erschien zunächst auf attentionecono.me.
¹ Was nicht heißen soll, dass Investitionen in die Kundenakquisition damit hinfällig seien. Doch wenn ein Service oder Produkt im Kern relevant für Menschen ist, muss das Marketing nicht so aussehen, wie die oben beschriebenen Methoden voller Aufmerksamkeitsdiebstahl. Auch bedeutet ein Geschäft auf Relevanz zu optimieren nicht, das Größe keine Rolle mehr spielt. Es bedeutet, sich die Größe nicht mit enormen Werbeetats zu kaufen, sondern sie zu erreichen, weil das eigene Angebot für eine große Zahl an Menschen relevant ist.
Hierzu habe ich ebenfalls geschrieben, so ein wichtiges Thema!
Lieben Gruß
Lisa
https://www.marketing-madam.de/2017/06/08/sprengt-die-digitalen-ketten-befreiungsschlag-gegen-geistfreie-ablenkungen/
Danke für den Hinweis, Lisa. Ein lesenswerter Beitrag! Meine Antwort habe ich Dir als Kommentar hinterlassen :)
Ich finde viele Werbemaßnahmen auch einfach nur lästig. Manche kann man ja beeinflussen, z.B die Benachrichtigungen, die am Ende auf dem Smartphone landen, aber vieles eben auch nicht. Und das nutzen die großen Firmen, wie Facebook und Google natürlich gerne aus.
Machen kann man dagegen natürlich nicht wirklich viel, aber die Frage, wie viel man selbst von sich im Netz preisgibt, beeinflusst auch, wie viel Werbung letztendlich bei eniem selbst ankommt. Hat man beispielsweise kein Facebook Profil (ja, ich weis, das ist für viele Menschen undenkbar), kommt auch weniger maßgeschneiderte Werbung bei einem an.
Es ist sicherlich nicht leicht die Balance zwischen „lästig“ und „informativ“ zu finden wenn es um Werbung geht. Aber gerade wenn man an dieses Thema als Anfänger herangeht, sollte man auch wirklich genug Zeit und Geld investieren um die richtigen Werbemittel zu nutzen. Eine Schulung und Beratung sollte daher für jeden Firmengründer auf der To-Do Liste stehen (eine Anlaufstelle sind hierbei natürlich Promotion Agenturen, wie z.B [url=https://www.barongmbh.com/leistungen/]hier[/url] ) und selbstredend die Einstellung von Mitarbeitern, die hierbei gut ausgebildet sind und Erfahrung im Business haben. Dann kann es gelingen, Werbung gezielt einzusetzten, ohne das Nervenkostüm der potenziellen Kunden zu überbeanspruchen. ;)
Fehler beim Senden des Kommentars, ich versuche es nochmal.
Ich finde viele Werbemaßnahmen auch einfach nur lästig. Manche kann man ja beeinflussen, z.B die Benachrichtigungen, die am Ende auf dem Smartphone landen, aber vieles eben auch nicht. Und das nutzen die großen Firmen, wie Facebook und Google natürlich gerne aus.
Machen kann man dagegen natürlich nicht wirklich viel, aber die Frage, wie viel man selbst von sich im Netz preisgibt, beeinflusst auch, wie viel Werbung letztendlich bei eniem selbst ankommt. Hat man beispielsweise kein Facebook Profil (ja, ich weis, das ist für viele Menschen undenkbar), kommt auch weniger maßgeschneiderte Werbung bei einem an.
Es ist sicherlich nicht leicht die Balance zwischen „lästig“ und „informativ“ zu finden wenn es um Werbung geht. Aber gerade wenn man an dieses Thema als Anfänger herangeht, sollte man auch wirklich genug Zeit und Geld investieren um die richtigen Werbemittel zu nutzen. Eine Schulung und Beratung sollte daher für jeden Firmengründer auf der To-Do Liste stehen (eine Anlaufstelle sind hierbei natürlich Promotion Agenturen, wie z.B hier ) und selbstredend die Einstellung von Mitarbeitern, die hierbei gut ausgebildet sind und Erfahrung im Business haben. Dann kann es gelingen, Werbung gezielt einzusetzten, ohne das Nervenkostüm der potenziellen Kunden zu überbeanspruchen. ;)
Die großen Werbeplattformen (Facebook, Google) sind in Sachen Aufmerksamkeitsdiebstahl erstaunlich zurückhaltend. Sie müssen es sein. Denn sie können sich schlicht nicht erlauben, ihre Nutzer mit den schlimmsten Formen der Werbung zu belästigen. Anders gesagt: sie haben begriffen, dass die User Experience kritisch für ihren Erfolg ist. Insofern sind die Werbeformate die sie anbieten, vergleichsweise respektvoll.
Egal ob Newsfeed-Ads oder Anzeigen in Google’s Suchergebnissen: sie fügen sich relativ nahtlos in das Nutzererlebnis ein. Google arbeitet an einem in Chrome integrierten „Light Ad-Blocker“ (kann man wettbewerbsrechtlich durchaus kritisch beäugen) und bietet in Android ein passables Benachrichtigungsmanagement. Die schwarzen Schafe muss man also woanders suchen. Etwa unter diversen Publishern, Ad-Tech-Anbieten und Werbenetzwerken und natürlich bei den Firmen, die entsprechende Anzeigen einkaufen (Mediaagenturen und Unternehmen).