Carglass: „Man kann nicht sagen: ‚Komm, wir sind jetzt digital‘“
„Carglass repariert, Carglass tauscht aus“: Wer viel Radio hört oder Fernsehen guckt, dem dürfte dieser Jingle bekannt vorkommen. Seit Jahren wirbt das Unternehmen aus Köln über Rundfunkkanäle damit, bei einem Steinschlag weiterhelfen und Front- sowie Heckscheiben austauschen zu können. Carglass hat sich damit das nahezu altbackene Image des Reparateurs von nebenan geschaffen.
Genauso traditionell agierte die Firma bisher auch intern: Die Mitarbeiter notierten die Schritte einer Reparatur größtenteils auf analogem Wege, die Kunden konnten das Unternehmen aus der Domstadt nur über die Hotline erreichen. Die Aufgabe von Chief Digital Officer Bernhard Speyer ist es, das alte Image abzustreifen und dem Mittelständler einen digitalen Anstrich zu verpassen. Wie iPhones helfen sollen, was Powerpoint-Präsentationen damit zu tun haben und warum Speyer selbst bald arbeitslos sein könnte, hat er uns im Interview erzählt.
Carglass-CDO Speyer: „Das Ausdrucken bleibt den Mitarbeitern erspart“
t3n.de: Bernhard, haben bei euch eigentlich mittlerweile alle Mitarbeiter ein iPhone?
Bernhard Speyer: Ein iPhone?
t3n.de: 2015 hieß es in einem Artikel, dass 2016 alle Carglass-Mitarbeiter ein iPhone bekommen würden, damit sie auf Kundenanfragen reagieren können.
Ach so. Ja, mittlerweile haben tatsächlich alle Mitarbeiter ein mobiles Gerät bekommen. Der Rollout hatte sich zwischenzeitlich zwar wegen Problemen mit der SIM-Karten-Aktivierung verzögert. Aber das Ziel ist nun erreicht.
t3n.de: Wozu brauchen die Angestellten bei Carglass denn Smartphones?
Für den Prozess hinter der Reparatur. Normalerweise würde ein Kunde in die Empfangshalle reinkommen und der Mitarbeiter die Informationen über das Fahrzeug am dortigen PC eingeben. Dann müssen diese Punkte ausgedruckt werden, der Monteur nimmt das Papier auf einem Clipboard mit in die Halle zur Arbeit. Auf dem Zettel trägt er dann die Nummern der Materialien ein, die er bei der Reparatur verwendet hat. Und schließlich geht er zurück zum PC, tippt alles wieder ein und muss die Rechnung fertig machen. Das ist viel Aufwand. Und wenn der Mitarbeiter die Nummern abliest, können Fehler auftreten.
t3n.de: Und das Smartphone soll diesen Prozess digitalisieren?
Genau. Das Ausdrucken bleibt den Mitarbeitern dabei erspart. Der Monteur kann den Auftrag künftig mit dem mobilen Gerät aufrufen, mit dem Barcodescanner die Materialien aus dem Warenlager auschecken und seine Arbeitsschritte digital dokumentieren. Wenn er also eine Scheibe rausnimmt, kann er in einem Progress-Report in der App vermerken: Scheibe raus, Scheibe wird vorbereitet, Scheibe ist drin. Und wenn er die Reparatur beendet hat, drückt er auf „fertig“ und kann dem Kunden direkt die Rechnung ausdrucken.
t3n.de: Also spart ihr im Prinzip nur Papier ein?
Nein. Wir können Kunden jetzt auch sagen, wie lange die Reparatur dauert. Bisher haben wir den Kunden gegenüber eine Schätzung abgegeben. Beim Austausch einer Scheibe zum Beispiel zwei bis drei Stunden. In dieser Zeit ist der Kunde dann zum Beispiel shoppen gegangen und nach zwei Stunden wiedergekommen. Manchmal war das Auto dann aber noch nicht fertig. Jetzt können wir ihn durch den Progress-Report auf dem Laufenden halten. Er weiß dann: Scheibe ist eingebaut, aber die muss zum Aushärten jetzt noch eine Stunde stehen. Außerdem wird auch der Bezahlprozess mobiler.
t3n.de: Was heißt das genau?
Ab 2017 können die Monteure auch gleich die Rechnung fertig machen und das Geld entgegennehmen. Vorher ging das nur in der Empfangshalle. Jeder Mitarbeiter wird damit im Endeffekt zum Checkout-Punkt: Er kann sein Smartphone über Bluetooth mit einem mobilen Kartenlesegerät verbinden.
t3n.de: Sonderlich mobil ist das aber nicht.
Für uns ist das schon eine wichtige Entwicklung. Bisher waren unsere Mitarbeiter beim Bezahlungsprozess an die Kasse gefesselt. Jetzt können wir überall im Geschäft abrechnen. Wenn einer unserer Monteure ein Kartenlesegerät dabeihat und auf einer Autobahnraststätte eine Reparatur tätigt, kann er auch gleich das Geld entgegennehmen. Der komplette Arbeitsablauf ist damit mobil.
„Die Aufgabenbeschreibung des CDO sieht in jeder Firma anders aus.“
t3n.de: Wenn ich an die Vorreiter der Digitalisierung denke, ist Carglass nicht unbedingt das erste Unternehmen, das mir einfallen würde. Als Chief Digital Officer bist du dafür verantwortlich, dass sich diese Sicht ändert. Welche Herausforderungen begegnen dir dabei?
Eine der größten Herausforderungen ist, dass die Rolle des Chief Digital Officer nicht klar definiert ist. Das ist aber ein Carglass-unabhängiges Problem. Die Aufgabenbeschreibung des CDO sieht in jeder Firma anders aus. Wenn ich zu zehn Unternehmen gehe und sie frage, was der CDO macht, dann bekomme ich zehn verschiedene Tagesabläufe.
t3n.de: Wie sieht deiner aus?
Ich kümmere mich als Director Digital und IT um alles vom Rechenzentrum über das Helpdesk bis zu Applikations-Entwicklung. Ich bin außerdem der Motor der Digitalisierung bei Carglass, quasi Ideengeber, Impulsgeber und Change-Agent in einer Person. Meine Aufgabe ist es, mir zu überlegen, wie man die digitale Transformation den Carglass-Mitarbeitern vermitteln kann.
t3n.de: Und wie kann man sie vermitteln?
Durch sehr viel netzwerken. Gespräche, Erklärungen, Kommunikation. Ich muss das Thema greifbar für die Mitarbeiter machen. Das Beispiel mit dem Smartphone zeigt das ganz gut. Das ist jetzt eines der Hauptarbeitsmittel der Mitarbeiter. Es geht aber auch um ganz banale Dinge wie die Arbeit in Dokumenten.
t3n.de: Was meinst du damit genau?
Wenn ein Mitarbeiter bei uns eine Powerpoint-Präsentation baut, muss er sie vielleicht noch mit drei Leuten abstimmen. Bisher schickte er die Präsentation an die drei Personen, dann bastelte der eine daran, parallel die beiden anderen, sie schickten alle ihre Anmerkungen zurück und am Ende fehlte doch irgendeine Änderung im Dokument. Mit Microsoft Office 365 ist das viel einfacher. Da sehe ich in Echtzeit, was der andere anmerkt. Aber das nutzen viele bei uns noch nicht. Dieses Umdenken will ich fördern.
t3n.de: Das klingt so, als wäre das nicht so einfach.
Hauptsächlich gibt es zwei Herausforderungen: Wie viele deutsche Mittelständler arbeiten auch wir mit uralten Legacy-Systemen. Die können wir nicht einfach schnell modernisieren oder ersetzen. Das ist ein Prozess, da kann man nicht sagen: „Wir sind mal hier geschwind digital.“ Und ich muss die Mitarbeiter mitnehmen und ihnen ihre Ängste und Sorgen nehmen. Das ist sehr wichtig, damit sie die Beweggründe verstehen und nicht das Gefühl haben, dass ihnen die Digitalisierung von oben aufgezwungen wird. Denn sie müssen dieses neue Arbeiten ja umsetzen.
t3n.de: Was heißt „neues Arbeiten“ bei euch?
Wir haben beispielsweise agile Arbeitsweisen in der IT eingeführt. Dazu zählt ein PMO, ein Projekt-Management-Office. Damit gehen wir weg von der hierarchischen Organisation hin zu einer Projektstruktur. Es geht also weniger um die eigene Funktion, sondern vielmehr um die gemeinsame Arbeit. Dieses kollaborative Zusammenarbeiten gab es vorher nicht. Das fördern wir auch durch unsere Räumlichkeiten.
t3n.de: Durch eure Räumlichkeiten?
Ja. Wir haben in der IT ein komplettes Stockwerk umfunktioniert und in ein Großraumbüro gewandelt. Unsere Mitarbeiter waren am Anfang sehr zurückhaltend. Sie waren in ihren Einzelbüros ganz glücklich. Nachdem wir umgezogen sind, haben aber viele gefragt, warum wir das nicht früher gemacht haben.
„Bei Carglass ging es vorher eher behördenartig zu.“
t3n.de: Großraumbüros sind jetzt aber auch nicht völlig neu …
Das stimmt, aber es ist mehr als nur ein Großraumbüro. Wir haben eine große Breakout-Area gestaltet, mit Sofas, bemalbaren Wänden, Magnetwänden, Spielsachen für die Kreativität. Bei Carglass ging es vorher ja eher behördenartig zu. Bisher saßen die Mitarbeiter zu zweit in ihren Büros und arbeiteten Schritt für Schritt ihre Aufgaben ab. Die Türen blieben zu, jeder kümmerte sich nur um seinen Teil. Jetzt hingegen können die Mitarbeiter miteinander kommunizieren, ohne Wände, ohne Schallmauern. Dadurch verkürzen sich die Wege, wenn ein Problem gelöst werden soll.
t3n.de: Was kommt davon am Ende beim Kunden an?
Wir sind für den Kunden auf allen Wegen erreichbar – von Social Media über E-Mail über Video bis hin zum klassischen Telefonat. Früher, also vor einigen Jahren, gab es ja nur die Hotline. Jetzt kommunizieren wir mit den Kunden auch über digitale Kanäle. Kunden können beispielsweise bei uns einen Termin online buchen und auch ändern. Dann bekommen sie eine Nachricht mit dem Auftrag, dem entsprechenden Servicecenter, der Uhrzeit und einer Wegbeschreibung. Und die Kunden müssen nicht mehr 30 Mal anrufen, wenn sich der Einbau der Scheibe verzögert. Wir informieren etwa per Whatsapp oder SMS, wenn das Fahrzeug fertig ist.
„Carglass braucht Leute, die ‚Out of the Box‘ denken“
t3n.de: Apropos abholen: Gefühlt kennt man Carglass vor allem aus dem Radio. Wie sorgt ihr dafür, dass ihr eure Kunden auch im digitalen Zeitalter erreicht?
Radio und TV funktionieren bei uns als Marketingkanäle immer noch sehr stark, vor allem in Deutschland. Nichtsdestotrotz gibt es im Digitalen viele neue Möglichkeiten, Personen zu erreichen, die kein Radio hören. Deswegen eruieren und testen wir auch gerade verschiedene Wege.
t3n.de: Zum Beispiel?
In Berlin haben wir 2016 eine Werbung geschaltet, die sich dem Wetter angepasst hat. Wenn es regnet, kommt die eine Botschaft, wenn die Sonne scheint eine andere. Wir spielen unsere Werbung damit in Echtzeit aus und können den Kunden so besser erreichen.
t3n.de: Was steht als nächstes bei euch an?
2017 wollen wir das Marketing noch etwas ausbauen, zum Beispiel soziale Medien einbinden. Gleichzeitig suchen wir gerade nach neuen Fachkräften für unser IT-Team. Wir haben unser Team 2016 schon von 20 auf 40 Mitglieder verdoppelt, und das wollen wir jetzt noch weiter ausbauen. Viele glauben ja, dass Carglass noch ein sehr traditionelles Unternehmen ist – und das stimmt in vielerlei Hinsicht auch –, aber wir wandeln uns gerade und brauchen dafür noch mehr kreative Menschen, die auch „Out of the Box“ denken.
t3n.de: Du hast einmal gesagt, wenn alles bei Carglass digitalisiert sei, dann sei dein Job erledigt. Wann wirst du voraussichtlich arbeitslos sein?
Im Moment ist das noch nicht absehbar. Die digitale Transformation ist auf der einen Seite eine Systemtransformation hin zu Maschinen und Tools, auf der anderen Seite bedeutet sie aber auch einen Mindshift bei unseren Mitarbeitern. Wir sind auf einem guten Weg, aber wir sind noch nicht über den Berg.
Bernhard, vielen Dank für das Gespräch.
Hahahaha. Carglass repariert, Carglass tauscht aus :D Gute Marketing-Abteilung, wenn sich dieser Satz in die Köpfe der Zuhörer/Zuschauer brennt ;)