Chronische Schmerzen: Übliche Medikamente dämpfen die Symptome – dieser Wirkstoff geht einen anderen Weg
Australische und US-Forscher haben eine neue Strategie gegen chronische Schmerzen entwickelt, um die Pein buchstäblich an der Wurzel zu packen. Sie setzen auf eine chemische Vorstufe, die nach der Einnahme im Körper zirkuliert und erst lokal an den schmerzenden Stellen zu dem eigentlichen Wirkstoff Monomethyfumarat (MMF) umgewandelt wird. Diese Umwandlung besorgen genau jene Stoffe, die für die Schmerzentstehung verantwortlich gemacht werden, sogenannte reaktive Sauerstoff-Verbindungen wie Wasserstoffperoxid (reactive oxygen species, ROS).
Wie Schmerz spürbar wird
Die auch Sauerstoffradikale genannten Substanzen entstehen etwa bei Muskel- und Nerven-Verletzungen in größeren Mengen. Sie reizen die Schmerzrezeptoren zum einen direkt, indem sie den sogenannten oxidativen Stress auslösen, und zum anderen auch indirekt, indem sie Entzündungsprozesse hervorrufen. Das Schmerzsignal reist dann von den Rezeptoren über Nervenbahnen zum Gehirn und ruft das Schmerzempfinden hervor.
Die oral verabreichte MMF-Vorstufe habe in präklinischen Tierversuchen mit Mäusen gezeigt, dass sie zu MMF umgewandelt chronische Schmerzen lindern kann, schreiben die Forschenden um Peter Grace vom MD Anderson Cancer Center an der University of Texas und Andrew Abell von der University of Adelaide im in der Fachpublikation „Nature Biotechnology“.
Die Wissenschaftler untersuchten die Wirkung in Tiermodellen für lokale chronische Schmerzen: Sie fügten Mäusen Verletzungen zu, um Äquivalente für Arthrose-Schmerzen sowie bei diabetes- und chemotherapie-bedingten Nervenschmerzen zu erzeugen. Als die Tiere sechs Monate später mit der MMF-Vorstufe behandelten, zeigten diese zum Beispiel keine Überempfindlichkeit mehr bei der Berührung ihrer Pfoten und bei Kältereizen und zogen sie nicht mehr weg.
Neues Schmerzmittel als Alternative zu Opioiden
Bisherige Medikamente gegen chronische Schmerzen setzen nach dem Schmerzreiz an und dämpfen die Signalweiterleitung: Opioide, Steroide, entzündungshemmend wirkende Antirheumatika, Antidepressiva oder Antiepileptika. Allerdings wirken sie nur bei einem von sechs Patienten, sagt Grace. Dazu gingen sie nicht das Schmerzproblem nicht an der Ursache an. Und schließlich haben sie dosis-limitierende Nebenwirkungen und im Falle von Opioiden auch ein Suchtrisiko.
MMF dagegen verhindert Schmerzen, indem es ihre Auslöser beseitigt, sagt Grace. Über einen Zwischenschritt, die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NRF2, regt es die Bildung von Antioxidantien an. Diese fangen die Sauerstoffradikale weg, sodass sie die Schmerzrezeptoren nicht mehr reizen und auch die Entzündungen nicht mehr befeuern. Die Forscher machten sich dabei zunutze, dass die reaktiven Sauerstoffspezies, die die Umwandlung der Vorstufe besorgen, an den Orten mit chronischem Schmerz in weitaus höheren Konzentrationen vorkommen als anderswo im Körper. Nur hier entstünden demzufolge ausreichend wirksame MMF-Mengen, sagt Grace.
ROS kommen zwar überall im Körper vor, schließlich sind sie auch Nebenprodukte von Prozessen wie der Energiegewinnung in den Mitochondrien. Diese Mengen sind allerdings zu klein, um therapeutisch wirksam zu sein. „Wir haben verschiedene Organe im Körper untersucht, etwa Herz, Leber, Lunge und Nieren – insbesondere das Herz mit seiner hohen Stoffwechselaktivität, das mehr ROS produziert – und wir sehen keine Aktivierung der Vorstufe an diesen Orten“, erklärt Grace.
Einsatz bei Multipler Sklerose
Mit der Vorstufe wollen die Forschenden die ernsten Nebenwirkungen von MMF vermeiden, mit denen die Verbindung bei der systemischen Behandlung von schubförmigen Multipler Sklerose aufgefallen ist. Auch da ist MMF nicht der Startwirkstoff, sondern ein Abbauprodukt des Wirkstoffes Diroximelfumarat (Handelsname Vumerity), der als Tablette eingenommen wird. Das entstehende MMF unterbindet dann ebenfalls über den Transkriptionsfaktor NFR2 Entzündungsprozesse und soll auf diese Weise die Häufigkeit der schmerzhaften Entzündungsschübe reduzieren.
„Die systemischen Nebenwirkungen sind allerdings dosis-limitierend. 50 Prozent der Multiple-Sklerose-Patienten hören ganz auf, das Mittel zu nehmen“, sagt Grace. Das Mittel kann also wegen seiner Nebenwirkungen nicht so hoch dosiert werden, wie es zur Symptomlinderung nötig wäre. Zu den häufigsten Beschwerden gehören laut dem Arzneimittelverzeichnis „Gelben Liste“ Hitzegefühl (35 Prozent), Magen-Darm-Beschwerden wie Durchfall (14 Prozent), Übelkeit (12 Prozent), sowie Schmerzen im Oberbauch oder in der Bauchhöhle (beides zehn Prozent). Darüber hinaus kann es in seltenen Fällen die Zahl der Weißen-Blutkörperchen Zahl zu stark absinken lassen und Leberschäden auslösen. Um all das zu vermeiden, „haben wir diesen aufwendigen Ansatz gewählt, um MMF genau dorthin zu bringen, wo es gebraucht wird“, sagt Grace.
Nebenwirkungen des Schmerzmittels
In ihren Mausversuchen fanden die Forschenden keine Hinweise auf unerwünschte Nebenwirkungen. Um etwa zu prüfen, ob die Tiere Hitzegefühle empfanden, maßen die Wissenschaftler die Hauttemperatur an den Ohren und fanden keine Erhöhung. Die Kontrollgruppe dagegen, die MMF systemisch erhalten hatte, zeigte die Nebenwirkung.
Grace zufolge ist die Bekämpfung der ROS nicht nur für die Schmerzbekämpfung nützlich. Der von ihnen ausgelöste oxidative Stress verursacht auch noch andere Gesundheitsprobleme wie zum Beispiel rheumatoide Arthritis, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und die Alzheimer-Krankheit. Inzwischen haben einige der Wissenschaftler ein Startup namens „Immunologic“ ausgegründet, das derzeit Mittel für den Abschluss der präklinischen Phase und die Entwicklung der MMF-Vorstufe für klinische Versuche am Menschen einwirbt.