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„Per Hand unterschreiben macht mich sauer“: Das sagen Esten über Digitalisierung

Estland wird international für die Erfolge bei der Digitalisierung gefeiert. Die Esten selbst haben einen anderen Blick auf ihren digitalen Staat.

5 Min.
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Man sieht es der mittelalterlichen Hauptstadt nicht an, aber Estland ist Vorreiter bei der Digitalisierung. (Foto: Ingus Kruklitis/ Shutterstock)

Ein halbes Jahr habe ich in Estland gelebt, im Land der Träume für digitale Pioniere. Als ich mich in Tallinn anmelden wollte und dafür ganz analog die Stadtverwaltung besuchen musste, war ich erstmal enttäuscht. Was haben diese lieblosen Wartezimmer und ausgedruckten Formulare hier zu suchen?

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Aber die Dokumente, Wartezeiten und Termine haben sich gelohnt. Nach zwei Wochen hielt ich meine ID-Karte in der Hand, den Schlüssel zum digitalen Staat.

Der digitale Staat: Was können wir von Estland lernen?

Estland gilt als digitaler Vorzeigestaat. Das kleine baltische Land ist bekannt für seine Startup-Dichte, ermöglicht quasi alle Behördengänge online und bietet diese Services auch seinen weltweiten E-Residents an. Unsere Autorin Helen Bielawa lebt aktuell in Estland und recherchiert zu Innovationen im öffentlichen Sektor. In dieser Artikelreihe zeigt sie, was hinter Estlands Image steckt und was Deutschland davon lernen kann.

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Ich konnte digital unterschreiben, meinen Impftermin buchen, mich im Lern-Portal der Uni einloggen, meinen Wohnsitz am Ende wieder abmelden. Die Karte war zugleich mein Bibliotheksausweis und die Payback-Karte im Biomarkt. Kostenlose Busse und Bahnen in Tallinn waren inklusive.

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Während ich mich über jede einzelne Funktion gefreut habe, ist das für die Esten eine Selbstverständlichkeit. Verwaltung wird als Service betrachtet, der möglichst komfortabel und schnell funktionieren soll. Hier erzählen fünf Esten, wie sie über den digitalen Staat denken.

„Vertrauen in den digitalen Staat“

Mirell Vinnal ist studierte Accessoire-Designerin und Buchbinderin. Sie arbeitet als Autosattlerin, ihr Freund Joosep Hansar als mechanischer Ingenieur. Für die beiden ist der digitale Staat normaler Teil des Alltags.

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Wir bemerken den digitalen Staat eigentlich gar nicht. Es ist so normal und alltäglich, dass alles so einfach zu erledigen ist. Es ist vielmehr komisch, wenn du einen wichtigen Service nicht online erledigen kannst und dafür irgendwo hingehen musst – das fühlt sich oldschool an.

Unsere Generation ist mit den neuen digitalen Möglichkeiten aufgewachsen. Ich glaube, wir haben alle ein wachsendes Vertrauen in den digitalen Staat. Unser Staat hat oft bewiesen, dass digitale Lösungen sicher sind. Außerdem sind wir ein kleines Land und versuchen, zusammenzuhalten. Dadurch ist es viel einfacher, etwas zu verändern.

„Wenn ich auf Papier unterschreiben muss, werde ich sauer“

Auch für Jaanus Müür, Doktorand an der Tallinn University of Technology, ist der digitale Staat nichts Besonderes mehr. Nur in internationalen Projekten fallen ihm Unterschiede auf.

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Jaanus Müür promoviert im Bereich Public Administration.

Ehrlich gesagt, ich denke nicht viel darüber nach, wie der digitale Staat mein Leben beeinflusst. Ich war fast 15, als unsere Regierung die Kommunalwahlen im Jahr 2005 zum ersten Mal digital durchgeführt hat. Der sogenannte digitale Staat ist einfach da.

Ich glaube, das einzige Mal, wenn ich wirklich über den digitalen Staat nachdenke, ist, wenn ich an einem Projekt mit Partnern aus anderen Ländern zusammenarbeite und irgendein Dokument unterschrieben werden muss. Dann werde ich immer sauer, weil Snail-Mail, Briefmarken und physische Unterschriften leider immer noch Thema sind im Europa des 21. Jahrhunderts.

Ich weiß noch, als ich mal in der estnischen Studierendenvereinigung gearbeitet habe und wir die Satzung unserer Organisation an unsere Dachorganisation in Brüssel – die European Students‘ Union – schicken mussten, wegen eines Audits oder was auch immer. Deren Buchhalter hat eine digital signierte Kopie nicht akzeptiert. Sie wollten eine physische Kopie mit dem Stempel unserer Organisation. Also habe ich gestempelt … jede Seite … nur um sicher zu gehen. Ist das nicht absurd?

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„Meine Steuererklärung mache ich in 2 Minuten“

Als Estland 1996 das Tiger Leap Programm, ein Digitalisierungsprogramm für die Bildung, gestartet hat, war Laura Limperk-Kütaru gerade eingeschult worden. Heute arbeitet sie beim estnischen Bildungsministerium.

Dinge online zu machen, passt zum Charakter der Esten – wir halten gerne Abstand zueinander und vermeiden übermäßigen Kontakt mit anderen Menschen. Darüber hinaus werden wir auch umweltbewusster. Die papierfreie Verwaltung ist eine logische Konsequenz.

In meinem Erwachsenenleben habe ich erst einmal in einem Wahlbüro gewählt. Das war, als ich Erstwählerin war und das Gefühl erleben wollte. Seitdem habe ich mich immer für die digitale Wahl entschieden, von wo immer ich bin – zu Hause, im Ausland, bei meinem Großvater, und so weiter. Sogar mein 85-jähriger Großvater hat bei mehreren Wahlen digital abgestimmt, ohne irgendwelche Probleme.

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Für Laura Limperk-Kütaru war Digitalisierung schon immer eine Selbstverständlichkeit.

Es ist kein Mythos, dass die Steuererklärung ein Nationalsport in Estland geworden ist. Normalerweise mache ich meine Steuererklärung im Februar mit ein paar Klicks in rund zwei Minuten. Es dauert nur länger, wenn ich mich nicht entscheiden kann, an welche Organisation ich meine Rückzahlung spenden möchte – das ist auch eine automatische Option bei der Erklärung.

Als ich Ende letzten Jahres ein neues Bankkonto eröffnen wolle, musste ich mich nur mit meiner ID-Karte online ausweisen und hatte das Konto innerhalb von fünf Minuten. Mit dem Konto habe ich einen neuen Rentenfonds eröffnet. Ich konnte es eröffnen, das Paket auswählen, Geld überweisen und es nun täglich verfolgen (wenn ich will), alles bequem von zu Hause aus. Der digitale Staat hat die Menschen sehr bequem gemacht, aber sie erwarten auch, dass alles sofort geschieht, was natürlich manchmal zu Problemen führt.

„Größer denken und träumen“

Anu Tali dirigiert das Nordic Symphony Orchestra. Aus ihrer Sicht sollte Estland sich nicht auf seinem Erfolg ausruhen, sondern offen für Neues bleiben.

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Als Musikerin reise ich viel. Das hat meine Einstellung zur gesamten Welt und meinem eigenen Land darin verändert. Wir denken vielleicht, dass unsere Heimat das Zentrum der Welt ist. Aber die Welt ist so viel größer und beinhaltet so viel mehr. Deshalb wünsche ich meinem Land mehr Offenheit.

Wir Esten sind sehr stolz auf den Gedanken, dass wir eines der führenden Länder sind bei digitalen Lösungen und Startups. Gleichzeitig haben wir als kleine Nation die ganze Zeit Angst, dass unsere Nachwuchstalente das Land verlassen. Meiner Meinung nach müssen junge Menschen die Welt bereisen, im Ausland studieren und neues Wissen und Perspektiven kennenlernen. Am Ende finden sie ihren Weg zurück nach Hause, oder, wenn nicht, können sie uns aus der Distanz bereichern, weil wir so oder so von ihrem Wissen profitieren.

Auf diese Weise lernt man, andere Kulturen zu respektieren und größer zu denken und zu träumen. Bildung ist nicht nur die Schule, die man absolviert. Genauso wichtig sind die Kulturen und Menschen der Welt, ihre Kunst, ihre Sprachen, und unterschiedlichen Traditionen.

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Ich ertappe mich oft bei dem Gedanken, dass wir ständig neue Tech-Startups aufbauen. Aber Estland hat auch einen anderen besonderen und sehr nachhaltigen Bereich, der uns begleitet, seit Estland existiert und uns durch verschiedene Kapitel der Geschichte geführt hat – unser kulturelles Erbe und Talent. Vielleicht könnten wir das auch als gleichwertigen Wert und Schatz sehen.

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Kommentare (3)

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Titus von Unhold

Estland ist Transparent und sanktioniert behördliches Vergehen total.
Deutschland wäre – soalnge die Union dabei ist – eine neue DDR.

MrX

Deutsche brauchen Sicherheit, also das was man kennt und bewährt ist.
Veränderung bedeutet Austritt aus der Komfortzone

Kon

Germany ist sowas von lost.
Ich glaube nicht, daß ich es noch erlebe, das es kein oder kaum noch Papier und Behördengänge braucht.
Kein Wunder das andere Länder um 10 – 20 Jahre voraus sind.

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