
In Estland ersetzt der Laptop die Wahlurne. (Foto: roibu/ Shutterstock)
Statt per Urne oder Brief können die Wahlberechtigten in Estland seit 2015 digital ihre Stimme abgeben. Heißt: Eine spezielle Software auf dem Computer installieren, ein Kartenlesegerät anschließen, sich per Ausweis und Passwort identifizieren, durch die Parteien scrollen und den Favoriten anklicken. Über einen QR-Code lässt sich in einer App prüfen, ob die Stimmabgabe korrekt gespeichert wurde. Falsch geklickt? Kein Problem, die Entscheidung kann beliebig oft geändert werden.
Der digitale Staat: Was können wir von Estland lernen?
Estland gilt als digitaler Vorzeigestaat. Das kleine baltische Land ist bekannt für seine Startup-Dichte, ermöglicht quasi alle Behördengänge online und bietet diese Services auch seinen weltweiten E-Residents an. Unsere Autorin Helen Bielawa lebt aktuell in Estland und recherchiert zu Innovationen im öffentlichen Sektor. In dieser Artikelreihe zeigt sie, was hinter Estlands Image steckt und was Deutschland davon lernen kann.
Die elektronischen Ausweise ermöglichen die digitalen Wahlen. Der kleine, goldene Chip auf der Rückseite der Karte macht die estnischen ID-Karten zum Schlüssel für den digitalen Staat: Behördengänge, Arzttermine, Unternehmensgründung, offizielle Unterschriften. In diesem System ist es eine Selbstverständlichkeit, dass auch die Wahlen digital funktionieren: „Das digitale Wählen ist einfach ein extra Service“, sagt Alo Einla, der Leiter der Abteilung für das digitale Wahlsystem bei der estnischen Behörde für Informationssysteme.
Digitale Briefumschläge für doppelte Sicherheit
Die Software für das digitale Wählen ist dem Ablauf der Briefwahl mit doppelten Umschlägen nachempfunden. Mit einer vom Computer generierten Zufallszahl und dem wahlspezifischen öffentlichen Schlüssel verschlüsselt der Wähler oder die Wählerin die Stimmabgabe lokal. Das entspricht dem inneren Umschlag bei der Briefwahl.
Genau wie beim äußeren Umschlag auf Papier sind auch digital eine Unterschrift und ein Zeitstempel als zweite Sicherheitsstufe erforderlich. Eine mit dem öffentlichen Schlüssel verschlüsselte Stimme kann nur mit dem speziellen privaten Schlüssel entschlüsselt werden. Dies funktioniert dank des digitalen ID-Systems, das es den Esten ermöglicht, Dokumente online zu signieren.

Die digitalen Stimmen werden so verschlüsselt, wie es auch bei der Briefwahl funktioniert. (Grafik: Estonian Information Systems Authority)
Die verschlüsselten und unterschriebenen Stimmabgaben werden daraufhin in das Wahlsystem eingespeist und überprüft. Die Daten liegen parallel auf Servern an drei verschiedenen Standorten, von Polizisten und Kameras überwacht.
Am Wahlabend werden die wiederholten Stimmabgaben entfernt. Vor der Auszählung werden die Daten nach Wahlbezirken sortiert. Danach ist der äußere Umschlag mit der Unterschrift nicht mehr notwendig und wird gelöscht.
Für die Auszählung werden die Daten entschlüsselt. Dafür kommt ein analoges Tool zum Einsatz: Sieben Vertreter des Nationalen Wahlausschusses, die alle aus verschiedenen Institutionen stammen, bekommen vor der Wahl Chips, die zusammen einen privaten Key ergeben. Wenn mindestens fünf der Vertreter mit ihren Chips anwesend sind, lassen sich die Stimmabgaben entschlüsseln und auszählen.
Knapp die Hälfte der Esten wählt digital
Inzwischen wählt fast die Hälfte der Bevölkerung in Estland digital. „Die Leute sind stolz und daran gewöhnt, dass sie digital wählen können“, sagt Alo Einla. Für ihn gehört das digitale Wählen einfach zum digitalen Staat dazu.
Ein Weg, mehr Menschen in die Demokratie einzubinden.
„Es ist auch ein Weg, mehr Menschen in die Demokratie einzubinden und den Kontakt zur jüngeren Generation zu knüpfen“, fügt er hinzu. Es sei nicht Ziel, dass hundert Prozent der Stimmen digital abgegeben würden. Vielmehr gehe es darum, möglichst viele Wege anzubieten, um alle einzubinden, egal, ob sie sich gerade im Ausland aufhalten oder gerade einfach ihr warmes Haus nicht verlassen wollen.

Mit dem Ausweis, einem Kartenlesegerät und der ID-Software funktioniert die digitale Identifikation. (Foto: Serov Aleksei/ Shutterstock)
Sicherheit hat Priorität
Angst vor einem Cyberangriff hat Estland nicht. Eine ganze Reihe von Maßnahmen sorgt für die Sicherheit der Wahl: Die doppelte Verschlüsselung nach dem Umschlag-System, offener Quellcode, regelmäßige Risiko- und Sicherheitsbewertungen, ein 24/7-Monitoring, Cybersicherheitstrainings für Angestellte und die Möglichkeit, die eigene Wahl per QR-Code zu überprüfen.
Einmal stand zur Debatte, die digitale Wahl auszusetzen: 2017 wurde eine Sicherheitslücke bei den elektronischen Personalausweisen bekannt. 800.000 estnische Ausweise waren betroffen. Theoretisch hätten Hacker mit ausreichend Ressourcen an die persönlichen Daten der Bürgerinnen und Bürger kommen können. Aber bevor jemand die Schwachstelle ausnutzen konnte, ersetzte Estland mit einem Update die Zertifikate und schloss die Lücke. Die Regierung entschied, die digitale Wahl stattfinden zu lassen. 31,7 Prozent der Stimmen wurden 2017 digital abgegeben – ein klares Zeichen für das Vertrauen in das System.
Und was ist mit dem Wahlgeheimnis? „Das ist auch wie bei der Briefwahl. Da müssen wir den Bürgern vertrauen“, sagt Alo Einla, „und außerdem: Wenn du das Gefühl hast, es hat dir jemand über die Schulter geguckt oder dich unter Druck gesetzt, dann kannst du die Abstimmung später wieder ändern.“
Wahlbüros in diesem Jahr erstmals papierlos
In diesem Jahr ersetzen die digitalen Wählerlisten erstmals auch die ausgedruckten Listen in den Wahlbüros. Bei den anstehenden Präsidentschafts- und Kommunalwahlen gibt es dann die Option, nach der digitalen Wahl auch nochmal auf Papier im Wahlbüro abzustimmen und die digitale Entscheidung zu ändern.
„Dass die Wahlbüros papierfrei werden, war längst überfällig, das passte nicht zu einem digitalen Staat“, sagt Alo Einla. Ausgedruckte Listen seien zu anfällig für menschliche Fehler. Ein netter Nebeneffekt: Dadurch sind die Wählerinnen und Wähler nicht mehr an ihr lokales Büro gebunden.
Und was ist mit den Kosten?
Das digitale Wahlsystem hat Investitionen in Infrastruktur und Cybersicherheit erfordert. Finanziell lohnt sich das System trotzdem, sagt Alo Einla. Berechnungen für die Wahl im Jahr 2017 hätten ergeben, dass eine Briefwahl 20,41 Euro pro abgegebener Stimme kostet, eine Stimmabgabe im Wahlbüro 4,37 Euro und eine digitale Wahl 2,32 Euro.
Nach dem Sicherheitsproblem 2017 wurde nochmals in Cybersicherheit investiert, was die Kosten pro Stimmabgabe auf 3,40 Euro erhöht hat. Damit ist sie aber immer noch günstiger als die Abstimmung an der Urne. „Und dabei sind noch nicht die Kosten eingerechnet, die die Bürger bei der normalen Wahl haben, zum Beispiel die Zeit und das Geld für die Anreise“, fügt Einla hinzu.
Digitale Wahl-as-a-Service
Die digitale Wahl verdeutlicht das Selbstverständnis der öffentlichen Institutionen in Estland: Es geht darum, den Bürgerinnen und Bürgern möglichst einfache Wege zu bieten, mit dem Staat zu interagieren, am besten komplett kontaktlos. Diese Service-Mentalität prägt auch die Zukunftspläne für das digitale Wahlsystem. Es sei zum Beispiel denkbar, Wahlen-as-a-Service anzubieten, sagt Einla. Bürgerinnen und Bürger könnten das staatliche System dann auch für ihre privaten Unternehmen oder Vereine nutzen.