Warum wir einen digitalen Humanismus brauchen
2020 zählt: Schaffen wir es, den Planeten für unsere Enkel bewohnbar zu erhalten? Bewehren wir unsere Demokratie gegen den Einfluss asozialer Medien? Finden wir ein neues Konzept für Identität und Selbstwert im KI-Zeitalter? Große Fragen, große Herausforderungen. Wie geht es dir, wenn du solche Fragen liest? Pendelst du zwischen „Ist doch klar“ oder „Puh – muss das sein?“. Dann herzlich willkommen: Du bist in bester Gesellschaft. Spätestens seit immer mehr Teilnehmer für Fridays For Future auf die Straße gehen, läuft die gesellschaftliche Debatte um die Frage nach dem Wie heißer als lange zuvor.
Kurze Debatten – bis zur nächsten Ablenkung
Wie zum Beispiel könnten wir klimafreundlicher leben? Wie besser und nachhaltiger einkaufen, wie reisen, wie heizen und wie über all diese Fragen diskutieren? Und doch bleibt es oft bei einer angesichts der Problemdimension eher kurzen Diskussion. Dann widmen sich viele wieder den ganz weltlichen Fragen: Woher die Zeit und das Geld für die Gründung dieser vielversprechenden Fintech-Idee nehmen? Mit welchem Hack den Traffic im eigenen Shop maximieren? Welchen Deal am Black Friday unbedingt noch mitnehmen?
Dabei ist es doch so
Dass den ein oder anderen bei der nächsten Verbalschlacht in der Kommentarspalte zu einem Beitrag über zukünftige Mobilität in Innenstädten die Frage beschleicht, ob unsere Meinung bei einer Bürgerdiskussion mit echten Nachbarn nicht doch besser aufgehoben wäre, ist ein gutes Zeichen. Sind wir doch letztlich trotz aller grenzüberschreitenden Vernetzung auch Knotenpunkte in sehr realen, sozialen Räumen unserer Viertel oder Straßenzüge. Wir wissen, dass demokratischer Konsens anstrengender Aufwand in Form von ermüdendem Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner ist. Und eben auch das beste unter allen schlechten Systemen, solange wir uns frei denkend äußern können wollen.
Dass den ein oder anderen bei der nächsten Begeisterungswelle für die Fortschritte maschinellen Lernens und Automatisierung anlässlich einer Tech-Konferenz die Frage beschleicht, ob es nicht sinnvoll sein könnte, eher heute als morgen über den Sinn des Lebens jenseits von Lohnerwerbsarbeit nachzudenken, zeugt von Kenntnis. Sind wir uns doch wohl gewahr, dass wir einerseits mit völlig enthemmtem Überall- und Ständig-Arbeiten längst übertreiben und psychosoziale Erkrankungen damit zur Volkskrankheit gemacht haben. Während wir andererseits längst ahnen, dass die Besteuerung von repetitiven Tätigkeiten, ausgeführt von Menschenhand und -hirn, im 21. Jahrhundert ein Auslaufmodell ist.
Dass den ein oder anderen dann spätestens bei der nächsten Hitzewelle doch die Frage beschleicht, warum wir eigentlich nicht viel tiefgreifender über unsere Lebensmodelle nachdenken statt über den Effekt von Plastiktüten-Verboten zu diskutieren, wundert nicht. Sind wir doch letztlich trotz aller psychometrisch-medialer Verzerrungen meist aufgeklärte, an der modernen Wissenschaft orientierte Menschen. Wir können nicht erklären, dass wir nicht wüssten, was weltweiter Konsens unter Klimaforschern ist: unser derzeitiges Wirtschaftsmodell verheizt den Planeten – buchstäblich.
Wir müssen Digitalismus und Humanismus zusammenbringen
Wenn wir wirklich Sinn finden wollen, dann müssen wir uns ein Mandat für die Hüterschaft über die Zukunft besorgen. Und wer dann noch behauptet, Visionen seien ein Krankheitsbild, sollte selbst dringend ärztlichen Rat einholen. Alternativlos ist nämlich weder Politik noch Wirtschaft oder eben: das Menschsein und das Menschbleiben.
Es ist Zeit, sich anlässlich des Anbruchs der dritten Dekade im 21. Jahrhundert über die Verbindung von Digitalismus und Humanismus nachzudenken und sich dazu zu verhalten.
Wollen wir uns weiterhin von den großen Digitalkonzernen am Nasenring durch die Manege ziehen lassen und wie eine Kuh in einer Vorrichtung selbsterhaltender Stimuli gemolken werden? Wollen wir uns weiterhin der Überforderung durch neue Technologien hingeben und als blinde Datenlieferanten ausgenutzt werden? Oder wollen wir jetzt unsere Chance nutzen und uns auf das Positive und den Gestaltungsraum fokussieren, den der aktuelle Wandel unserer Welt mit sich bringt?
Deine Wahl: Progressiver Optimist oder analoger Opportunist?
Ich spitze zu, denn die weiter zunehmende Beschleunigung von Technologieadaption und Datennutzung erfordert rasches Handeln: Wollen wir als analoge Opportunisten durchs Leben gehen, die den Status-quo beibehalten wollen und Mensch und Technologie in Konflikt sehen? Oder wollen wir uns als progressive Optimisten dazu aufmachen, die Welt als Ort zu betrachten, an dem menschliche Wesen und unsere Technologie zu einer produktiven Einheit verschmelzen können? Als einen Ort, an dem Menschsein auch die Möglichkeit umfasst uns neu als Teil eines „Internets der Wesen“ zu verstehen? Warum sprechen wir so viel von der Bedeutung von Netzwerken und den daraus resultierenden Paradigmenwechseln, wenn wir dann doch strikt zwischen Internet der Dinge und sozialen Medien oder unserem quantifizierten Selbst unterscheiden? Handelt es sich nicht letztlich um Organe eines Gesamtorganismus in eben diesem neuen Konzept eines Internets der Wesen? Würde es nicht ungemein hilfreich sein, diese bislang getrennt voneinander betrachteten Phänomene zusammen zusehen, zu deuten und dazu eine Haltung zu entwickeln?
Zugegeben: Ich verstehe mich als progressiven Optimisten, der die Herausforderungen unserer Zukunft im Ansatz erkennt; die Wahl, vor der wir stehen, sieht. Und ich bin überzeugt, dass wir auch dank und mit Technologie zukunftsfähige Antworten auf brennende Fragen des Menschseins in unserer Gegenwart finden können – ja müssen. Unabhängig von meiner Position ist es mein Wunsch an jeden, der bis hierher gelesen hat: Überprüfe doch mal, auf welcher Seite du dich derzeit mehr wiederfindest? Allein die Auseinandersetzung mit dieser Frage wird schon Orientierung stiften und dem Menschbleiben zutragen.
Ich kann dem nur zustimmen. Als Behinderte fühle ich mich von der Digitalisierung oft ausgeschlossen.