Wie der Einzelhandel einen letzten, tödlichen Fehler vermeiden kann
Als Vater einer kleinen Tochter führt der Weg mich auf Geschäftsreisen oft in Spielzeugläden oder in die Spielzeugabteilung der großen Kaufhäuser. Ein kleiner Abstecher in die Süßwarenabteilung ist dabei aus reinem Eigennutz selten zu vermeiden. Oft enden diese Ausflüge enttäuscht und gelangweilt, denn immer wieder sind die gleichen Feuerwehrmann-Sam-, Elsa- und Legoprodukte zu sehen, immer wieder reiht sich Milka an Lindt und für laktosefreie Schokolade muss man die Lupe auspacken.
Es gibt Ausnahmen. Die Spielzeugabteilung im Le Bon Marché in Paris hat für meine Tochter eine bezaubernde Magnetspieldose mit abnehmbaren Figuren hervorgezaubert und Karstadt in Karlsruhe präsentiert einen Überfluss an laktosefreien Schokoladen und ungewöhnliche Schokoladen-Salz-Karamell-Kekse von Filet Bleu aus der Guerande, einer Region in der französischen Bretagne, die hierzulande besonders durch die Kommissar-Dupin-Romane von Jean-Luc Bannalec bekanntgeworden ist.
Wozu jetzt diese konsumverliebte Lobpreisung, mag sich der geneigte Leser denken. Ganz einfach: In beiden Fällen hat der Einkauf mich unterhalten, das Stöbern hat neue, interessante Produkte hervorgebracht und meine Bindung an das Geschäft erhöht.
Beliebigkeit ist der Tod des Einzelhandels
In den letzten Jahren hat der Siegeszug des Onlinehandels eine Veränderung im Konsumverhalten hervorgebracht, die wichtig für den stationären Handel ist: Reine Bedarfsartikel werden online bestellt, offline wird mehr und mehr lustgewandelt. Oder besser gesagt: Der Kunde würde gerne mehr lustwandeln, kann es aber meist nicht. Denn was ihm entgegengähnt in den Innenstädten, den Kaufhäusern, den Fachgeschäften, ist reine, belanglose, langweilige Beliebigkeit. Die ewiggleichen Läden, Produkte und Sortimente.
Oh, sicher, es gibt noch genug anderes, das im Argen liegt. Von notwendigen städtebaulichen Veränderungen bis zur fehlenden Technologisierung und anderen Problemen – aber die Beliebigkeit resultiert aus einer leicht behebbaren Vernachlässigung einer grundlegenden Kaufmannseigenschaft: der Warenkunde und der Sortimentskunde.„Reine, belanglose, langweilige Beliebigkeit.“
Mein Urgroßvater betrieb vor vielen Jahrzehnten ein Handelskontor, das viele große Kaufhäuser belieferte. Es gehörte zum Standard, dass das Kontor über Handelsagenten in jedem großen Hafen verfügte. Diese Agenten prüften Schiffsladungen und eingehende Importe auf besondere Stücke und sicherten dem Kontor ungewöhnliche Waren. Chinesische Eierbecher aus Keramik, Lederwaren aus Italien oder arabische Gläser mit Silberziselierungen fanden so ihren Weg in die Kaufhäuser.
Die Jahrzehnte und Jahre verstrichen. Die Bevölkerung wuchs, das Versandhaus kam auf, die Innenstädte wurden immer reicher bevölkert. Das Konsumverhalten veränderte sich, auch der tägliche Bedarf wurde jetzt in den Kaufhäusern gedeckt. Mehr und mehr verschwanden die außergewöhnlichen Produkte, der Massenumsatz war wirtschaftlich bedeutender. Das Pareto-Prinzip erhielt starkes Gewicht in vielen Einzelhandelsketten. Es besagt, dass 20 Prozent des Sortiments 80 Prozent des Umsatzes bringen. Die Sortimente wurden mehr und mehr zum Einheitsbrei. Das war vielleicht auch in Ordnung oder zumindest tragfähig, solange die Kunden ihren täglichen Bedarf in der Stadt deckten. Das ist heute aber Geschichte, der tägliche Bedarf wird im Netz gedeckt.„Einzelhändler müssen wieder mehr zu Kuratoren des Besonderen werden.“
Im Zeitalter des Onlineshoppings muss sich das Sortiment in der Innenstadt verändern. Weg vom Einheitsbrei, denn die Produkte, die jeder kauft, kann sich jeder im Netz bestellen. Einzelhändler müssen wieder mehr zu Kuratoren des Besonderen werden.
Mehr ungewöhnliche Auswahl, weniger gewöhnliche Auswahl
Es geht zukünftig nicht mehr darum, die 20 Prozent des Sortiments zu definieren, die den meisten Umsatz bringen. Der Umsatz der Zukunft wird sich nicht mehr auf 20 Prozent des Sortiments verteilen, er wird sich breiter verteilen. Es geht darum, die restlichen Prozentanteile möglichst sinnvoll zu selektieren und zu präsentieren. Besondere Produkte auf Lager haben, unspektakuläre Produkte in den Longtail verlagern und Lagerreichweiten reduzieren. Mehr ungewöhnliche Auswahl, weniger gewöhnliche Auswahl. Weniger Warendruck, mehr Sortimentsbreite und/oder Sortimentstiefe.
Der Einzelhandel kann nicht mit der Vielfalt des Onlinehandels konkurrieren, aber kann die Flut an Produkten durch Kuration zu seinem Vorteil machen. Versäumt der Händler das, begeht er einen letzten, tödlichen Fehler.
Das ist ja grundsätzlich völlig richtig. Mich stört die Beliebigkeit und Eintönigkeit des Angebots (und damit verbunden oftmals die Qualität) ebenfalls. Mindestens genauso problematisch wie die mangelnde Attraktivität des Angebots ist aber das fehlende Interesse der Bevölkerung an aussergewöhnlichen Produkten, die dann vielleicht auch ein bisschen teurer als die Durchschnittsware sind. Ich fürchte, die meisten Läden könnten nicht von den wenigen Kunden leben, die bereit sind, solche Produkte zu kaufen. Das wird sich wohl nicht rechnen. Leider geht der gesellschaftliche Trend in die falsche Richtung…
Ich glaube nicht daran, dass die Bevölkerung sich gar nicht dafür interessiert – oder nicht ein wenig mehr dafür ausgeben würde. Der Preis muss einfach vernünftig sein. Ich stand früher oft selbst im Laden, Einkäufe sind nie daran gescheitert, dass etwas ein paar Euro teurer als im Internet war. Sie sind daran gescheitert, dass es unverschämt teurer als im Internet war.
Karstadt hatte eine ganze Wand mit Aktionsware von Filet-Bleu und die Kekse sind mindestens einen bis zwei Euro teurer als Leibniz-Standardware: Innerhalb von drei Wochen abverkauft. Habe gestern nochmal nach der Ware gesucht, die Verkäuferin hat mich dann zu einer einsamen Schachtel geführt, die noch übrig blieb. Für besondere Artikel gibt der Kunde schon mehr aus. Solange es im Rahmen bleibt.
Es muss vor Ort die Käuferstruktur analysiert werden, um die Preisgestaltung des Sortiments auf den Punkt zu bringen. Nur außergewöhnliches geht natürlich auch nicht, wie ICU oben schreibt, sollten die wichtigsten Basics, die der Kunde erwartet auch auf Lager sein – und preiskompetitiv sein.
„Mehr ungewöhnliche Auswahl, weniger gewöhnliche Auswahl“
Noch weniger gewöhnliche Auswahl?
Also ich finde bei den meisten Läden schon jetzt die gewöhnliche Auswahl unterirdisch. Der gewöhnliche Milchaufschäumer eines großen Markenherstellers ist im Laden nicht verfügbar. Die gewöhnliche dreigestreifte Sporthose auch nicht. Der gewöhnliche Adapter für den Schlauch und Gartenwasserhahn auch nicht. Das gewöhnliche weiße Oberhemd eines deutschen Herstellers ist nicht im Laden. Der gewöhnliche schwarze Büroschuh auch nicht, ach die Hose auch nicht. Alles nur noch online erhältlich. Wenn der Einzelhandel im Umkreis von 20 km schon mit den Basics Probleme hat, dann rettet ihn auch nicht ungewöhnliches.
Gut mag vielleicht auch daran liegen, dass ich nicht der Shopper bin – also nicht die Innenstadt hoppel oder durch die Mall mit dem Ziel eigentlich nichts kaufen zu wollen sondern nur mal zu schauen, ob es was zu kaufen gäbe. Da verbringe ich meine Freizeit woanders ;-)
Dass die Basics in kleiner Stückzahl auf Lager sind um den dann doch mal anfallenden Bedarfseinkauf zu erfüllen, setze ich voraus. Zu akzeptablen Preisen. Das ist auch Kuration.
Mit Verlaub: eine eher platte, nur durchs Anekdotische belegte Aussage. „Kuratierte“ Sortimente (ich mag das Wort kaum nutzen) sind Stationär nur sehr selten erfolgreich zu vermarkten, jedenfalls sind sie nicht die Rettung „für den Einzelhandel“. Genausogut könnte man auch das genaue Gegenteil behaupten: online wird mittlerweile das exotische, seltene, manchmal sogar individualisierte Produkt überall erhältlich, der stationäre Handel hat dagegen keine Chance, die seltenen Produkte „zu kuratieren“ und erfolgreich abzusetzen. Nur ein Beispiel: in Düsseldorf hat Karstadt (in Wirklichkeit: REWE) jahrelang versucht, den Lebensmittelbereich durch sorgfältige, hochwertige Auswahl (Weine, Frischfisch, Fleisch…..) attraktiver zu machen: erfolglos. Jetzt kommt auf die Fläche: ja, man wagt es kaum zu sagen: ALDI. Kunden suchen sicher auch im stationären Handel das besondere Produkt, aber einfacher zugänglich sind solche Exoten online. Manufactum ist in den Metropolen stationär zu finden, aber online eben auch in Castrop Rauxel verfügbar, mit voller Größenauswahl und ohne Gerenne. Ein Hauptproblem ist die mangelnde Qualitätssensibilität vieler Kunden: man gucke sich den Siegeszug der Diskounter an. Wer Kaffee für 2,79€/Pfund kauft, darf sich über eine grottoide Qualität nicht wundern. Und wer sich für 30€ komplett einkleiden will genausowenig. Hier mangelt es nicht am sorgfältig kuratierten Sortiment, sondern am qualitätsbewußten Kunden.
Guter Artikel. Ich denke die Mischung macht es und es kommt auch sicher auf den Bereich an.
Aber der Kunde, der in den kleinen Inhaber geführten Laden geht der möchte auch besondere und trendige Produkte und sucht einige ständige Veränderung. Die Kunden kaufen nicht 20x das gleiche.
Ein großen Anteil haben aber auch die Hersteller, sie haben es in der Hand zu welchen Preisen ihre Produkte verkauft werden, oder auch den Gebietsschutz. Ich finde sie streuen oft zu breit.