Jugendliche zocken während der Pandemie mehr als vorher – ja, und?

Jugendliche daddeln zu viel im Internet rum, sagt eine Studie – ausgerechnet, während die Covid-19-Pandemie Jugendlichen kaum eine andere Wahl lässt.
Eine Studie (PDF zum Download) der Deutschen Angestellten-Krankenversicherung (DAK) und des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) untersucht das Online-Verhalten Jugendlicher während des Coronashutdowns. Vordergründiges Ergebnis: Jugendliche verbringen mehr Zeit mit dem Internet, mehr Zeit mit Games und mehr Zeit mit Social-Media-Apps und Messengern. Dass ich (und etliche Kommentatoren auf Twitter und anderen Plattformen) zunächst spontan „No shit, Sherlock!“ dachten, liegt weniger an der Studie, als an der Berichterstattung darüber.
Denn natürlich war den Autoren der Studie vorher klar, dass die Netznutzung höher ausfallen würde, weshalb entsprechende Schlagzeilen von Tagesschau bis Focus als inhaltslose Nullmeldungen zu betrachten sind. Denn was genau sollen Kinder und Jugendliche eigentlich sonst tun, wenn sie in Zeiten der Pandemie weder zur Schule gehen noch Freunde treffen dürfen sowie fast alle Freizeitaktivitäten außerhalb des Hauses einstellen müssen? Es ist ja allgemein bekannt, dass Spaziergänge im Park und eine Runde Mensch-Ärgere-Dich, beides jeweils mit den Eltern, sobald die im Homeoffice Feierabend haben, nicht zu den aufregendsten Aktivitäten gehören, deren ein Jugendlicher so nachgehen kann.
Pathologisierung neuer Formen von Sozialverhalten
Der DAK/UKE-Studie ging es allerdings um etwas anderes: Die Autoren wollten untersuchen, wie sehr sich die Nutzung verändert und vor allem, ob und wie sehr der Anteil derjenigen Jugendlichen steigt, die in einer solchen Situation eine Gaming-Disorder entwickeln, also eine Form von Spielsucht, die nach der zukünftigen Klassifikation ICD 11 von der Weltgesundheitsorganisation WHO als Erkrankung eingestuft wird.
Bei aller Kritik an der Pathologisierung normalen Alltagsverhaltens insbesondere bei Jugendlichen in der Pubertät hat diese Einstufung nicht mehr so viel mit den albernen „Online-Sucht“-Debatten vergangener Zeiten zu tun. Als damals versucht wurde, zu definieren, dass man ab einer Internet-Nutzung von so und so vielen Stunden wohl süchtig sei, reagierten natürlich all diejenigen verständnislos, die sich zwischen Orientieren per Google Maps, Korrespondenz per E-Mail und Messenger, Homebanking, Zeitunglesen im Netz, Fernsehen in der Mediathek usw. fragten, wie man denn nicht den ganzen Tag online sein könne. Und was das mit Sucht zu tun haben soll, wenn zuvor ganz normale, analoge Tätigkeiten nun eben über dasselbe Medium laufen. Wer erst einmal verstanden hat, dass Whatsapp und andere Messenger der Ort sind, an dem Sozialverhalten stattfindet, denkt beim Wort „Online-Sucht“ natürlich an eine Art „Sozialsucht“, fragt sich was das sein soll und unter welchem Stein diejenigen, die solche Wörter benutzen, eigentlich leben.
Computerspielsucht nach ICD-11 eine Erkrankung
Die Gaming-Disorder/Computerspielsucht nach der ab 2022 gültigen ICD-11 ist mit derlei veralteten Vorstellungen nicht vergleichbar. Hier geht es darum, dass Leute so exzessiv viel Zeit mit Computerspielen verbringen, dass sie die typischen Symptome einer Sucht entwickeln: Fehlende Kontrolle, Entzugssymptome, Vernachlässigung des sozialen Umfeldes und des Berufslebens. Diese Kriterien sind immer noch fragwürdig, denn wie ist es zu bewerten, wenn Jugendliche für E-Sports trainieren und dafür selbstverständlich genauso viel Zeit aufbringen wie für andere Sportarten? Und ist es nicht immer Merkmal des Aufwachsens und der Pubertät gewesen, eskapistische Verhaltensweisen an den Tag zu legen? Immerhin muss man aber den WHO-Kriterien zugutehalten, dass von einem konkreten Leidensdruck ausgehen und tendenziell etwas weniger als früher versuchen, sozial unerwünschtes und abweichendes Verhalten zu pathologisieren.
Aber zurück zur DAK/UKE-Studie und ein paar konkrete Zahlen: Die Anzahl der Jugendlichen, die regelmäßig Computerspiele spielten, stieg von 84,1 auf 96,6 Prozent, die Zahl derer, die das sogar täglich tun, stieg von 39,3 auf 54,3 Prozent. Diejenigen, die regelmäßig spielen, bringen es werktags auf 138,6 Minuten (vorher 79,2) und am Wochenende auf 193,1 Minuten (vorher 149,4). Diese Anstiege werden als „besorgniserregend“ eingestuft, obwohl sie vollständig durch die besondere Situation der Pandemie zu erklären sind.
Insgesamt legten laut Studie nur 2,7 Prozent der Jugendlichen ein „pathologisches“ Verhalten an den Tag. Weil diese Zahl sehr unspektakulär klingt, wird medienwirksam noch die „riskante Nutzung“ hinzu addiert, also eine Nutzung, die auch von der WHO nicht als „krankhaft“ angesehen wird. So kommt man auf schlagzeilentaugliche Zahlen von 13 Prozent oder, auf die Bevölkerung umgerechnet, 700.000 Jugendliche.
Das wird natürlich sofort mit der gebührenden Panikmache aufgegriffen und in allen großen Medien verbreitet, wobei sich an Wortwahl und Struktur der Beiträge ablesen lässt, dass ein großer Teil der Redaktionen die DPA-Meldung paraphrasiert hat, ohne sich die Mühe einer weiter gehenden Recherche oder eines Blickes in die Studie zu machen. Denn ein solcher würde allerlei weitergehende Fakten offenlegen, unter anderem, dass in Sachen Social Media und Gaming die Kinder und Jugendlichen großenteils nur nachahmen, was ihre Eltern ihnen vorleben!
Die alte Sorge um „die Jugend von heute“
Bei der Nutzung von Social Media sind die Zahlen laut DAK/UKE-Studie übrigens um einiges höher als beim Gaming. Aber weil in der Studie unter Social Media ausdrücklich so unterschiedliche Dinge wie Youtube, Whatsapp, Instagram und Xing zusammen gefasst werden, sind diese Zahlen in keiner Weise ernst zu nehmen. Zu einem unklaren Anteil wird hier weitgehend normales Sozialverhalten pathologisiert, wobei die Jugendlichen überdies wegen der Pandemie kaum Alternativen hatten.
Der Teil der Bevölkerung, der seine „Sorge um die Jugend von heute“ zeigt, indem er offensiv alles ablehnt, was Kinder und Jugendliche so machen, nimmt eine solche Studie natürlich dankbar auf. Normalerweise finden sich traditionell viele Politiker, die versuchen, mit diesem Thema zu punkten, aber dieses Mal ist es erstaunlich still. Das liegt vielleicht an der Sommerlochigkeit der Meldung, vielleicht aber auch daran, dass selbst konservative Politiker längst in ihrem eigenen Umfeld bemerken, in welchem Umfang digitale Mediennutzung mittlerweile normal ist. Und sie sich vielleicht sogar erinnern, dass die Debatte genau die gleiche war, als sie selbst noch klein waren und vor dem Fernseher abhingen.
Drogenbeauftragte Daniela Ludwig findet es „heftig“
Immerhin lässt es sich die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig (CSU), nicht nehmen, ein alarmierend klingendes und zugleich nichtssagendes Statement abzugeben. Das ist halt ihr Job als Drogenbeauftragte und wahrscheinlich ist sie erfreut, ihre drogenpolitische Inkompetenz endlich mal auf einem anderen Gebiet als Cannabis zur Schau stellen zu können.
Und so verkommt das an sich wichtige Thema zum üblichen Kurzaufreger im Sommerloch, mit der Relevanz einer Nessie-Sichtung im Badesee. Das ist schade, denn zum einen litten wirklich viele Menschen unter den Einschränkungen, die die Covid-19-Pandemie mit sich brachte; und zum anderen gibt es wirklich Jugendliche, die computerspielsüchtig sind und gemeinsam mit ihrem Umfeld darunter leiden. An dieser Stelle könnte man darüber nachdenken, wie digitale Medien und ihre Nutzung verändert und verbessert werden könnten, um diesen Gruppen zu helfen. Aber eine Debatte auf diesem Niveau ist derzeit von Politikern, Publikumsmedien und, ja, leider auch einem Teil der Forschenden nicht zu erwarten. In der DAK/UKE-Studie blitzt in dieser Hinsicht wenigstens ein Hauch von Differenziertheit auf, wenn als Platzhalter für konkrete Ideen die alte, immer gleiche und selten konkretisierte Forderung nach Verbesserung der Medienkompetenz genannt wird.
Ja wenn man zuhause sitzt dann zocken die Jugendlichen mehr, während die Erwachsenen mehr, ähm, ja was machen die eigentlich?
https://www.statista.com/statistics/1106853/pornhub-traffic-change-during-the-coronavirus-outbreak-uk/
Es ist klar, das die Jugendlichen mehr Zocken. Man kann ja nicht vieles außer Zocken als jugendlicher Zuhause mache. Aber ein Interessanter Artikel.
finde ich auch.