„Meilenstein der Gentherapie“: Baby erhält erstmals maßgeschneidertes Medikament gegen seltene Krankheit

Mediziner:innen und Forscher:innen aus Philadelphia berichten, dass sie ein Baby mit einer tödlichen Stoffwechselerkrankung erfolgreich behandelt haben. Dafür hatten sie zuvor in weniger als sieben Monaten eine maßgeschneiderte Gentherapie entwickelt. Dies sei laut eines Berichts im New England Journal of Medicine, der erste Fall, in dem die Genbearbeitung auf die Behandlung einer einzelnen Person zugeschnitten wurde.
Gentherapie auf Baby KJ zugeschnitten
Das behandelte Baby, Kyle „KJ“ Muldoon Jr., leidet an einer seltenen Stoffwechselerkrankung namens Carbamoylphosphat-Synthetase-1(CPS1)-Mangel, die durch einen besonders ungewöhnlichen Gendefekt verursacht wird. Die Forscher:innen sagen, dass ihr Versuch, den Fehler in der DNA zu korrigieren, die hohe Präzision neuer Arten von Genbearbeitungsmethoden demonstriert.
„Ich glaube nicht, dass ich übertreibe, wenn ich sage, dass dies die Zukunft der Medizin ist“, sagt Kiran Musunuru, Experte für Genbearbeitung an der University of Pennsylvania, dessen Team das Medikament entwickelt hat. „Ich hoffe, dass eines Tages kein:e Patient:in mit einer seltenen Krankheit mehr vorzeitig aufgrund von Fehlern in seinen:ihren Genen sterben muss, weil wir diese korrigieren können.“
Das Projekt verdeutlicht auch, was einige Expert:innen als wachsende Krise der Genbearbeitungstechnologie bezeichnen. Denn obwohl die Technologie Tausende von genetischen Erkrankungen heilen könnte, sind die meisten davon so selten, dass Unternehmen die Kosten für die Entwicklung einer Behandlung niemals wieder hereinholen könnten.
Im Fall von KJ wurde die Behandlung so programmiert, dass ein einzelner Buchstabe in seiner DNA korrigiert wurde.
„Tatsächlich wird dieses Medikament wahrscheinlich nie wieder verwendet werden“, gibt Rebecca Ahrens-Nicklas, Ärztin am Kinderkrankenhaus von Philadelphia, eine Prognose. Sie behandelt Stoffwechselerkrankungen bei Kindern und hat die Gesamtleitung der Behandlung des Kindes übernommen.
Kosten für das Gentherapie-Medikament
An dieser Initiative waren mehr als 45 Wissenschaftler:innen und Ärzte:innen sowie mehrere Biotechnologieunternehmen beteiligt, die ihre Dienste unentgeltlich zur Verfügung stellten. Musunuru sagt, er könne nicht abschätzen, wie viel Zeit und Aufwand dafür aufgewendet wurde.
Letztendlich könnten die Kosten für maßgeschneiderte Gen-Editierungsbehandlungen ähnlich hoch sein wie die für Lebertransplantationen, die sich auf etwa 800.000 US-Dollar belaufen, ohne die lebenslange medizinische Versorgung und Medikamente.
Gentherapie: Wie die besondere Behandlung funktioniert
Die Forscher:innen verwendeten eine neue Version der CRISPR-Technologie, die als „Base Editing“ bezeichnet wird und einen einzelnen Buchstaben der DNA an einer bestimmten Stelle ersetzen kann. Frühere Versionen von CRISPR wurden in der Regel dazu verwendet, Gene zu löschen, nicht aber, um sie neu zu schreiben und ihre Funktion wiederherzustellen.
Die Behandlung des Babies war so etwas wie eine glückliche Fügung: Laut der Forscher:innen hätten sie bereits nach einem Patienten für eine derartige Behandlung gesucht, als sie von KJ erfuhren. Nach seiner Geburt im August stellte ein Arzt fest, dass der Säugling lethargisch war. Tests ergaben, dass er an einer Stoffwechselstörung litt, die aufgrund des Mangels des Enzyms CPS1 zur Ansammlung von Ammonium im Blut führt. Das wiederum kann zu neurologischen Schäden, Entwicklungsstörungen und sogar Todesfällen im Neugeborenenalter führen. Eine Lebertransplantation ist eine mögliche Behandlung.
Die Forscher:innen wandten sich an KJs Eltern, Nicole und Kyle Muldoon, und schlugen vor, die DNA ihres Babys mithilfe von Genbearbeitung zu korrigieren. Die Eltern stimmten zu. Dann startete ein Wettlauf um die Entwicklung des Medikaments sowie dessen Testung an Tieren und die Genehmigung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA, um KJ damit behandeln zu können. „Der Fallbericht zeigt eindrucksvoll, dass durch Parallelisierung der Prozesse – Entwicklung, Prüfung im Zell- und Tiermodell und Zulassung – eine individualisierte Gentherapie innerhalb von wenigen Monaten zur Anwendung kommen kann“, beurteilt Prof. Dr. Maja Hempel gegenüber dem Science Media Center (SMC). Sie ist Leiterin der Genetischen Poliklinik und stellvertretende Ärztliche Direktorin des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg. Prof. Dr. Julian Grünewald, Assistant Professor für Gene Editing, Technische Universität München (TUM), bezeichnet den Fall ebenfalls gegenüber dem SMC gar als „Meilenstein der Geneditierung“.
Wie wurde die Gentherapie verabreicht?
Der noch nicht einmal einjährige Junge erhielt drei Dosen des Gen-Editierungsmedikaments in schrittweise steigender Dosierung. Wie gut die Gen-Editierung funktioniert hat, lässt sich noch nicht abschließend sagen, da das Team noch keine Leberbiopsie durchgeführt hat. Diese wäre notwendig, um zu überprüfen, ob KJs Gene tatsächlich korrigiert wurden.
Ahrens-Nicklas sagt jedoch, dass das Kind „wächst und gedeiht“ und sie daher davon ausgeht, dass die Genbearbeitung zumindest teilweise erfolgreich war und er nun möglicherweise „eine mildere Form dieser schrecklichen Krankheit“ hat. „Er hat drei Dosen der Therapie ohne Komplikationen erhalten und zeigt erste Anzeichen einer Besserung“, sagt sie. „Es ist wirklich wichtig zu betonen, dass es noch sehr früh ist, daher müssen wir KJ weiterhin genau beobachten, um die volle Wirkung dieser Therapie zu verstehen.“
Zukunft der Medizin?
Der Fall skizziert eine Zukunftsvision: Eltern bringen ihre kranken Kinder in eine Klinik, wo deren DNA sequenziert wird, und sie dann schnell eine individuelle Behandlung erhalten. Derzeit funktioniert dies nur bei Lebererkrankungen, bei denen es einfacher ist, Anweisungen zur Genbearbeitung zu geben, aber irgendwann könnte dies auch ein möglicher Ansatz für die Behandlung von Hirnerkrankungen und Erkrankungen wie Muskeldystrophie werden.
Das Experiment macht zugleich auf eine Lücke aufmerksam: Zwischen dem, was die Genbearbeitung leisten kann, und den Behandlungen, die Menschen, die sie benötigen, wahrscheinlich zur Verfügung stehen werden. „Man schätzt, dass auf der Erde 300 Millionen Menschen leben, die an einer der 7.000 sogenannten ,seltenen‘ Erkrankungen leiden“, liefert Grünewald von der TUM eine Einordnung. 80 Prozent dieser Fälle seien genetisch verursacht. Bisher gebe es für die allermeisten dieser Patient:innen keine Möglichkeit einer Gentherapie.
Biotechnologieunternehmen, die Genbearbeitung testen, nur an relativ häufigen Generkrankungen wie Sichelzellenanämie. Einmalige Behandlungen wie die, die KJ geholfen hat, sind zu teuer, um ohne eine Möglichkeit zur Kostendeckung entwickelt und zugelassen zu werden.
Doch für Grünewald zeigt der Fall von KJ „eindrücklich, dass man heute technologisch weit genug fortgeschritten ist, um manche dieser genetischen Erkrankungen durch maßgeschneiderte Editierung in der Leber zu behandeln. Es bleibt die Frage der Skalierbarkeit und der praktischen Umsetzung.“ Das räumen auch die Forscher:innen ein: Sie wissen noch nicht, wie personalisierte Behandlungen in größerem Maßstab durchgeführt werden können. Doch der Experte für Genbearbeitung Musunuru sagt, dass erste Schritte zur Standardisierung des Verfahrens an seiner Universität und in Europa bereits unternommen werden.