Darum sehen Kreative die Welt mit anderen Augen

(Foto: Shutterstock / TunedIn by Westend61)
Die „Big Five“: Diese Faktoren liegen unserer Persönlichkeit zugrunde
Die Persönlichkeitspsychologie kennt das Modell der „Big Five“, also der fünf Hauptdimensionen einer Persönlichkeit, schon seit mehreren Jahrzehnten. Wissenschaftler vermuten, dass sie sich schon seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte als nützlich erwiesen haben und daher auch heute noch unserer Persönlichkeit zugrundeliegen.
Zu den „Big Five“ gehören:
- Verträglichkeit (engl. „agreeableness“: Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie)
- Offenheit für Erfahrungen (enl. „openness to new experiences“: Aufgeschlossenheit)
- Extraversion (engl. „extroversion“: Geselligkeit)
- Neurotizismus (engl. „neuroticism“: emotionale Labilität und Verletzlichkeit)
- Gewissenhaftigkeit (engl. „concientiousness“: Perfektionismus)
Je stärker das Merkmal Offenheit in einer Persönlichkeit ausgeprägt ist, desto besser passen Zuschreibungen wie „einfallsreich“, „originell“, „fantasievoll“, „neugierig“ oder „interessiert“ zur jeweiligen Person. Menschen mit niedrigen Offenheitswerten dagegen lassen sich als konservativ oder konventionell beschreiben – sie brauchen Routinen und halten lieber an Altbewährtem fest, statt das Neue zu suchen.
Kein Wunder also, dass dem Persönlichkeitsaspekt der Offenheit ein hoher Einfluss auf unsere Kreativität und unsere Problemlösungskompetenz zugesprochen wird. Denn offene Menschen betrachten die Dinge aus mehreren verschiedenen Perspektiven. Ihre Fähigkeit zu divergentem Denken, also der spielerischen, unsystematischen Auseinandersetzung mit Problemen, ist besonders stark ausgeprägt und hilft dabei, Denkblockaden zu überwinden.„Je offener wir sind, desto kreativer lösen wir Probleme.“
Das Prinzip der binokularen Rivalität

Die Forscher Anna Antinori und Luke Smillie haben herausgefunden, dass kreative Menschen dem Prinzip der binokularen Rivalität öfter ein Schnippchen schlagen können als andere. (Grafik: Luke Smillie, Anna Antinori)
Jetzt hat eine Forschergruppe an der Universität Melbourne herausgefunden, dass Menschen mit hohen Offenheitswerten nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn „mehr sehen“. Dazu haben sie Experimente mit dem Konzept des binokularen Wettstreits durchgeführt, bei dem jedem Auge ein anderes Bild gezeigt wird. Die meisten Menschen nehmen die beiden Bilder einzeln im schnellen Wechsel hintereinander wahr, aber niemals beide gleichzeitig. Die beiden Bilder stehen also in Rivalität zueinander.
Nur selten sehen Probanden wirklich beide Bilder zum selben Zeitpunkt, zumeist als Kombination oder Überlappung. In diesen Momenten gelingt es, die Rivalität der beiden Reize zu unterdrücken. Besonders offene Menschen allerdings sehen laut der Studie der Wissenschaftler häufiger solche Kombinationen – und vor allem auch für eine längere Dauer. Die Forscher haben 123 Studenten zwei Minuten lang je ein rotes Bild auf dem einen und ein grünes Bild auf dem anderen Auge gezeigt – je höher die Offenheitswerte der Teilnehmer waren, desto eher erlebten sie diese kombinierte Wahrnehmung beider Bilder.
In den Augen von Anna Antinori und Luke Smillie von der Universität Melbourne lässt dies grundsätzliche Rückschlüsse auf das Sehverhalten von offenen Menschen zu: „Offene Menschen könnten fundamental andere visuelle Erfahrungen haben als durchschnittliche Personen“, schreiben sie in der Zusammenfassung ihrer Studie auf theconversation.com.
Bessere Performance beim „Gorilla-Experiment“
Zusätzlich, so die Forscher, gelänge es Menschen mit besonders offenem Wesen oftmals besser, Dinge zu sehen, die sich an der Peripherie des Wahrnehmungsumfelds befinden oder die andere Menschen schlichtweg übersähen, weil sie sich auf etwas anderes fokussierten. Zur Illustration führen sie das berühmte „Gorilla-Experiment“ von Daniel Simons und Christopher Chabris an, bei dem die Betrachter eines Sportvideos die Anzahl an Basketball-Pässen zählen sollten – fast 50 Prozent der Probanden bemerkte dabei nicht, dass im Laufe des Videos ein Mann in Gorillakostüm durch das Bild lief.„Kreative Menschen sehen Dinge, die andere herausfiltern.“
Offene Menschen haben den Gorilla dagegen wahrscheinlich entdeckt: „Auch hier scheint mehr visuelle Information in die bewusste Wahrnehmung durchzudringen“, schlussfolgern Antinori und Smillie. „Sie sehen die Dinge, die andere herausfiltern.“
Wer bisher nicht zum besonders offenen, kreativen Teil der Bevölkerung gehört hat, muss nicht verzagen, so die Forscher: Es gebe Hinweise, dass sich das Persönlichkeitsmerkmal „Offenheit für Erfahrungen“ trainieren beziehungsweise positiv beeinflussen lasse. Allerdings bestehe auch der Verdacht, dass extrem hohe Offenheitswerte im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten, etwa Halluzinationen, stünden: „Vom ‚mehr sehen‘ bis zum ‚Sehen von Dingen, die gar nicht da sind‘ könnte es ein kurzer Weg sein.“