Solid: Wie WWW-Erfinder Tim Berners-Lee ein neues, besseres Internet plant
Als Tim Berners-Lee am 12. März 1989 seinem Arbeitgeber vorschlug, ein System zum Management von Information auf der Basis von Hypertext zu entwickeln, ahnte kaum jemand, wie sehr seine Idee das Internet und die Welt verändert würde. Wer Zugriff auf einen Webserver hatte, konnte Dokumente online stellen und mit anderen Dokumenten auf der ganzen Welt verlinken. Die meisten Experten glaubten, das Rennen würden kontrollierte Dienste wie AOL oder Compuserve machen, weil diese übersichtlicher seien, doch all die vielen Webseiten im wilden WWW waren auf Dauer interessanter und die klassischen Online-Dienste verschwanden.
Allerdings entwickelte sich das Web nicht so ganz wie im Sinne des Erfinders. Heute wird es von einigen großen Anbietern wie Google, Facebook, Amazon oder Netflix dominiert, die viele Daten über ihre Nutzer sammeln und zugleich kontrollieren, welche Inhalte diese Nutzer zu Gesicht bekommen. Ihre Geschäftsmodelle basieren allesamt darauf, Dienste aufgrund von Daten anbieten zu können, die sie in Silos speichern und eifersüchtig hüten. Ein Beispiel: Es wird häufig behauptet, Facebook verkaufe die Daten seiner Nutzer. Das stimmt so nicht. Im Gegenteil, Facebook hütet diese Daten wie einen Schatz, verkauft aber auf ihrer Basis Werbeplätze.
Linked Data: Ein WWW für Daten aller Art
Die Bedeutung von Daten zeichnete sich früh ab. Bereits 2006 entwickelte Tim Berners-Lee das Konzept von Linked Data. Nicht mehr nur Dokumente sollten vernetzt in einem standardisierten Format veröffentlicht und verlinkt werden, sondern Daten aller Art. Regierungsdaten, Wetterdaten, Forschungsdaten und sogar persönliche Daten sollen auf viele Server verteilt online gestellt werden, um in diesen Daten suchen zu können, von Link zu Link zu springen und aus immer neuen Kombinationen Erkenntnisse ziehen zu können. Bekannte Projekte, die diesem Konzept folgen, sind Wikidata oder auch das EU-Open-Data-Portal.
Doch natürlich wird niemand sein persönliches Adressbuch bei Wikidata hochladen wollen. Um den Nutzern die Kontrolle über die Daten zurückzugeben, entwickelte Tim Berners-Lee seine Idee weiter, und nannte sie Solid. Das Kürzel steht für Social Linked Data. Persönliche und soziale Daten wie Kontakte, Freundeslisten, Blogposts, Gesundheitsdaten oder auch Bankbewegungen sollen in verschiedenen Containern gespeichert werden, so genannten Pods. Jeder Pod kann irgendwo liegen: auf der lokalen Festplatte, dem Firmenserver, im eigenen Webspace oder bei einem Cloud-Anbieter. Für jeden Pod lässt sich einstellen, wer darauf zugreifen darf. Benutzt jemand zum Beispiel ein Fitness-Armband, werden die Daten im Pod für Gesundheitsdaten gespeichert. Wer dann von einem Anbieter zum anderen wechseln möchte – etwa von Fitbit zu Apple Health – entzieht dem alten Anbieter die Rechte und gewährt sie dem neuen. Genauso könnte ein Umzug von einem sozialen Netzwerk in ein anderes vonstatten gehen. Die Macht der Datensilos wäre gebrochen.
Echte Solid-basierte Dienste fehlen noch
Seit Tim Berners-Lee Solid vor etwa zwei Jahren vorstellte, hat sich einiges getan. Das Qatar-Computing-Research-Institute und Mastercard haben das am MIT beheimatete Projekt mit Millionensummen gefördert. Das Team stellt Beispielanwendungen bereit, die interessierte Entwickler sich bei Github besorgen können. Darunter finden sich Anwendungen wie ein Adressbuch, das Kontakte verwalten und freigeben kann, ein Twitter-ähnlicher Microblogging-Dienst namens Cimba oder ein Tool, mit denen Wissenschaftler kollaborativ ihre Paper veröffentlichen können.
Doch das sind alles noch Prototypen. Echte Projekte in freier Wildbahn scheint es noch nicht zu geben. Das ist wenig überraschend, denn Unternehmen, deren Geschäftsmodelle auf Datensilos basieren, werden wenig Interesse an Techniken wie Solid haben. Und Startups, die „das nächste Facebook“ anbieten, aber Daten nicht selbst sammeln, werden Schwierigkeiten bekommen, Investoren zu überzeugen. Tim Berners-Lee verweist auf Community-Projekte wie die Wikipedia oder der Open Streetmap und hofft auf eine Graswurzel-Bewegung, die Solid einmal ähnlich populär machen soll wie zuvor das Web. Bis dahin muss sein Team aber noch einige offene Fragen beantworten. Zum Beispiel, wie verhindert werden soll, dass Dienste, die auf einen Pod zugreifen dürfen, diese Daten nicht trotzdem in ihren eigenen Silos speichern.
Solid könne eine kritische Masse erreichen, wenn immer Menschen der Ansicht sind, dass ihre Daten ihnen gehören und das auch einfordern. Dieses Ziel liegt aber noch in weiter Ferne. Datenschutzskandale bis hin zur Überwachung durch die NSA konnten bisher wenig an der Bequemlichkeit der Nutzer ändern oder daran, dass alle bei Facebook sind, weil alle anderen auch bei Facebook sind. Aber vielleicht bekommen Konzepte wie Solid ihre Chance, sobald die Community Dienste bereit stellt, die alle nutzen wollen, weil sie einfach und praktisch sind.