Warum Startups für die Produktion nicht auf Behindertenwerkstätten setzen sollten

Die meisten Menschen, die das System der Werkstätten nicht genauer kennen, denken, dass es eine gute Sache ist, wenn Menschen mit Behinderung durch die Werkstätten eine Chance bekommen, am Arbeitsleben teilzuhaben. Schaut man aber genauer hin, entspricht die Realität der Werkstätten nicht der gut gemeinten Vorstellung vieler Startups und Konsument*innen.
- Beschäftigte in einer Werkstatt werden nicht fair bezahlt. Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstatt beschäftigt sind, erhalten keine faire Bezahlung. Der gesetzliche Mindestlohn gilt nicht für Werkstattbeschäftigte. Sie bekommen neben einer Grundsicherung nur zwischen 80 und 180 Euro Taschengeld pro Monat für ihre Arbeitsleistung.
- Werkstätten unterliegen dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Die Beschäftigten arbeiten oft sechs bis acht Stunden am Tag. Nicht selten haben sie den Druck, bestimmte Stückzahlen in einer gewissen Zeit zu erreichen. Es ist quasi Akkord- und Fließbandarbeit..
- Es gibt fast keinen Ausstieg aus der Werkstatt heraus. Der Weg rein ist leicht, der Weg raus sehr schwer. Obwohl es der gesetzliche Auftrag einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) ist, Menschen mit Behinderungen zu befähigen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten, kommen die Werkstätten dem überhaupt nicht nach. Der Übergang von Menschen mit Behinderung aus der WfbM in den Arbeitsmarkt hinein beträgt seit Jahren unter einem Prozent.
- Menschen mit Behinderungen arbeiten in WfbMs in einer Sonderwelt. Menschen ohne Behinderung kommen in Werkstätten ausschließlich als Anleiter*innen und Vorgesetzte vor. Es besteht also immer ein Machtgefälle zwischen Menschen mit Behinderung und ohne. Häufig steckt hinter den Trägern einer WfbM ein großer Träger der Behindertenhilfe. Diese halten oft auch gleich Wohnheime für die Beschäftigten bereit. Das bedeutet, dass komplette Leben – Arbeit, Wohnen, Freizeit – der Menschen mit Behinderung findet in einer Einrichtung statt, die meistens noch außerhalb von Städten oder gut versteckt am Stadtrand liegt.
Werkstätten für behinderte Menschen widersprechen also in vielerlei Hinsicht den guten Vorsätzen vieler Startups. Doch es gibt Alternativen zu WfbMs für Arbeitgeber*innen, die wirklich Gutes bewirken können:
- Praktikable Aufgaben für Menschen mit Behinderung schaffen. In jedem Unternehmen gibt es Zuarbeitstätigkeiten in der Produktion, dem Versand oder der Logistik, die ein Mensch mit Lernschwierigkeiten mit etwas Anleitung gut bewältigen kann. Auch ein Empfang oder Telefondienst kann gut angelernt werden. Der Begriff „Lernbehinderung“ wird nämlich häufig missverstanden oder falsch interpretiert: Er bedeutet oft, dass eine Person andere Denkstrukturen und eine andere Herangehensweise hat. Dafür können Unternehmen Zugänge schaffen, Prozesse anpassen oder geeignetere Strukturen finden. Besonders agile Startups können sich dabei kreativer und flexibler zeigen als große Betriebe. Barrierefreiheit und Zugänglichkeit bedeutet demnach nicht nur, dass jemand mit einem Rollstuhl ins Unternehmen reinkommt, sondern es gibt viele kleine Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz zugänglich zu gestalten.
- Die Umstellung und neue Herausforderungen müssen nicht allein bewältigt werden. Es gibt viele Organisationen, die arbeitsuchende Menschen mit Behinderung und Arbeitgeber*innen unterstützen. Dort gibt es kompetente Beratung, die sowohl beim Umgang mit Menschen mit Behinderung als auch bei der Beantragung von Fördergeldern unterstützt.
- Praktika als einen ersten Türöffner anbieten. So müssen sich Arbeitgeber*innen nicht gleich entscheiden und können gucken, ob das Unternehmen und der Mensch mit Behinderung zueinander passen. Wenn sie gut zusammenarbeiten können, aber noch bestimmte Soft Skills beim neuen Mitarbeiter*in oder Hardware im Unternehmen fehlen, dann kann man dafür Unterstützung beantragen.
- Übergange aus der WfbM realisieren. Wenn das Unternehmen schon mit einer Werkstatt zusammenarbeitet, kann gemeinsam geschaut werden, wie man für ein paar Personen den Übergang aus der Werkstatt ermöglichen könnte. Seit einiger Zeit gibt es für den Übergang aus der Werkstatt das Budget für Arbeit. Mit einem Budget für Arbeit können Menschen mit Behinderungen einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 75 Prozent und entsprechende Unterstützungen erhalten.
- Kontakt zur Agentur für Arbeit aufnehmen. Dort gibt es den Arbeitgeber-Service. Wenn das Unternehmen Menschen mit Behinderung einstellen will, ist dies die Anlaufstelle, um Menschen mit Behinderungen zu rekrutieren und Fördergelder zu beantragen. Am besten sagt das Unternehmen gleich, in welchen Bereichen es sich vorstellen kann, einen Menschen mit Behinderung zu beschäftigen.
- Geduld ist die Mutter der Inklusion. Menschen mit Behinderung sind auch nur Menschen. Es heißt also nicht, dass gleich bei der ersten Person, die für eine Stelle infrage kommt, die Chemie dann auch stimmt. Für alle ist dieser Weg ein ungewohnter. Also nicht gleich frustriert sein, wenn etwas nicht klappt. Die Amtsmühlen mahlen langsam, aber es lohnt sich für die gute Sache gemeinsam durchzuhalten.
Um zum Abschluss Deichkind zu zitieren: „Denken Sie groß!“ Von Inklusion können alle profitieren – nicht nur Menschen mit Behinderung!