Ach, was war das damals noch ein Spaß, als sich auf Facebook alle Menschen angestupst haben und die ganze Klasse bei SchülerVZ war. Mittlerweile sind die sozialen Netzwerke erwachsener geworden. Da, wo Menschen sich vernetzen, lässt sich gut Geld verdienen. Durch Tiktok haben die Plattformen eine neue Idee bekommen: Kurzvideos.
Das zeigt auch die ARD-ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2023: Während die generelle Nutzung von sozialen Medien von 2022 auf 2023 gesunken ist, ist die durchschnittliche Nutzungsdauer von Videoinhalten von 8 auf 14 Minuten pro Tag gestiegen. Laut Music Business Worldwide verbrachte die durchschnittliche Person 2021 89 Minuten auf Tiktok. Währenddessen deuten immer mehr Studien auf negative Auswirkungen bei exzessiver Nutzung sozialer Medien hin. Kann man hier schon von Sucht sprechen?
Ab wann Sucht Sucht ist
Ob und ab wann man süchtig nach Social Media ist, lässt sich nicht wirklich einfach sagen. Denn hier haben unterschiedliche Organisationen verschiedene Definitionen. Das DSM-V, das Diagnose-Buch für psychische Krankheiten in den USA, erkennt lediglich Internet-Gaming-Sucht als Krankheit an – aber auch nur als sogenannte Forschungsdiagnose. Die exzessive Nutzung von Social Media steht im Buch nur als Randnotiz. Die jetzt so beliebten Kurzvideos waren zur Veröffentlichung im Jahr 2013 noch nicht wirklich relevant. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO erkennt die Social-Media-Sucht nicht als Krankheit an, die Internet-Gaming-Sucht allerdings schon. Für Betroffene und Therapeut:innen erschwert das die Behandlung. Denn: Ab welcher Nutzungszeit Social Media als Sucht gilt, lässt sich nur schwer messen. Dennoch versuchen Forschende, Kriterien für eine Social-Media-Sucht zu entwickeln.
Auch Christian Montag sieht in Tiktok und Co. eine Suchtgefahr. Der Psychologe ist Dozent an der Universität Ulm. Er forscht und schreibt viel über die psychologischen Effekte digitaler Medien. Montag ist davon überzeugt, dass Menschen auf sozialen Medien in eine „suchtähnliche Nutzung abrutschen können“.
Was sind die Anzeichen
Ein mögliches Anzeichen, das diskutiert wird, ist zum Beispiel der Kontrollverlust. Wenn du viel länger auf Tiktok unterwegs bist, als du geplant hast, oder geplante Pausen von der App nicht einhältst, könnte das ein Anzeichen für exzessive Nutzung sein. Genauso sieht Montag eine starke Priorisierung der Nutzung über andere wichtigere Dinge als Warnsignal. Wer regelmäßig lieber Reels guckt und dadurch Alltagsaufgaben wie Putzen oder Einkaufen vernachlässigt, sollte seine Social-Media-Nutzung hinterfragen. Bist du, trotz wachsender Probleme im Alltag, weiterhin lieber auf Social-Media-Apps, könnte das ein Alarmsignal sein. Private Beziehungen dürfen nicht unter exzessiver App-Nutzung leiden.
Mittlerweile bilden sich im Internet Selbsthilfegruppen für Betroffene. Die Seite der anonymen Internet- und Technologiesüchtigen (ITAA) stammt eigentlich aus den USA. Mittlerweile organisiert die Gruppe auch Zoom-Treffen in Deutschland und bietet Aufklärungsmaterial an. Die ITAA unterscheidet sogar zwischen Suchtformen zwischen einzelnen Plattformen, zum Beispiel Tiktok. „Mit der Zeit kann die Tiktok-Sucht zu Veränderungen im Gehirn führen, die unsere Fähigkeit beeinträchtigen, uns zu konzentrieren, Prioritäten zu setzen, unsere Stimmung zu regulieren und Beziehungen zu anderen aufzubauen“, so die Seite. Dass die Plattformen so ein Potenzial zu suchtähnlichem Verhalten haben, ist dabei fest eingeplantes Design.
Wie Plattformen süchtig machen
Tiktok, Instagram und Youtube profitieren von exzessiver Nutzung. Wer länger auf den Plattformen unterwegs ist, gibt mehr über sich preis. Daten, die genutzt oder verkauft werden können, bedeuten für die Unternehmen vor allem eins: Profit. Dementsprechend sind die Formate und der Algorithmus so aufgebaut, dass du die Plattformen möglichst lange nutzt.
Kurz und suchtgefährdend
Auch Kurzvideos sollen die exzessive Nutzung verstärken. Das sieht auch Montag so: „Eine Hypothese lautet, dass kurze Videos die Gehirne der Nutzenden alle paar Sekunden durch neuartige Reize stimulieren. Wenn das aktuelle Video nicht interessant oder nicht lustig ist, entsteht zudem die Erwartungshaltung, dass das nächste womöglich besser ist.“ Trotzdem komme es auch darauf an, ob man die Plattform eher aktiv oder passiv nutzen würde. Bei aktiver Nutzung kann die Belohnung die Form von Views, Likes und Kommentaren annehmen.
Tiktok versucht nun über Tiktok Lite mit einem ähnlichen Belohnungssystem passive Nutzung, wie das Schauen von Videos, mehr zu belohnen. Die erhaltenen Münzen soll man dann sogar gegen Amazon-Gutscheine eintauschen können. Wegen der „Gefahr schwerer Schäden für die psychische Gesundheit der Nutzenden“ leitet die EU gerade ein Verfahren gegen die Plattform ein.
Der verdammte Algorithmus
Die Algorithmen der Plattformen sind wohl das wichtigste Element, damit User:innen endlos schnelle Videos schauen. Schon die schier unendliche Menge an Inhalten, die sogenanntes Doomscrolling ermöglichen, lassen Menschen Video nach Video schauen. Der wohl wichtigste Part ist allerdings die „Für dich“-Seite, die es sowohl bei Tiktok, Instagram und Youtube gibt. Hier werden dir Inhalte im Feed angezeigt, die basierend auf deiner vergangenen Nutzung laut Algorithmus für dich interessant sein könnten. Neben Videos, die dich thematisch interessieren, zeigt die Plattform auch virale Videos und größere Trends. Die Unternehmen halten sich über die genauen Funktionsweisen ihrer Algorithmen bedeckt. Die Mechanik hinter Tiktoks „Für dich“-Seite ist genauso ein Geheimnis, wie das originale Coca-Cola-Rezept. Laut der ITAA setze die Plattform jedoch besonders auf „zufällige Belohnungen und endlose kurze Videoinhalte, um die Social-Media-Nutzer wie bei einem Spielautomaten zu fesseln“.
Genau dieses Geheimnis macht es Montag schwer, die Suchtgefahr der einzelnen Plattformen genauer zu untersuchen. „Es ist grundsätzlich sehr schwer, einzelne Design-Elemente – wie das Zeigen kurzer Videos – von Social-Media-Plattformen zu untersuchen. Besonders weil auch die API häufig geschlossen sind“, sagt er. Dennoch sei es nicht der Algorithmus allein, der zur Sucht führen würde. Laut Montag dürfen auch soziodemografische Faktoren und Persönlichkeitseigenschaften nicht ignoriert werden. Wichtig sei auch, mit welchen Motiven man die Plattform nutze. Die ITAA beschreibt, dass exzessive Nutzung von Tiktok häufig als Vermeidungsstrategie genutzt wird. Doch wie können Nutzer:innen sich vor Sucht schützen?
So schützt du dich
Um seine Tiktok-Nutzung zu reduzieren, empfiehlt Montag, die Social-Media-Apps vom Smartphone zu löschen und sie nur zu Hause am stationären Computer zu nutzen. So würde man aufhören, bei jeder Gelegenheit auf die App zuzugreifen. Außerdem empfiehlt Montag das Tragen einer Armbanduhr. Dadurch müsse man nicht immer aufs Smartphone schauen und werde dadurch nicht durch Benachrichtigungen abgelenkt.
Solltest du es nicht schaffen, deine Nutzung zu reduzieren, könnte es helfen, darüber nachzudenken, wann du ans Smartphone gehst. So kannst du mehr über deine Nutzungsmotive herausfinden. Schränkt dich deine Social-Media-Nutzung trotz aller Maßnahmen immer noch ein, kann eine Therapie helfen.
Nicht deine Schuld
Die alleinige Verantwortung an exzessiver Social-Media-Nutzung haben Nutzende nicht. Auch Montag sieht die Unternehmen in der Verantwortung für das Verhalten der Einzelnen: „Zu sagen, wie sich Nutzende verhalten sollten, führt dazu, die Industrie aus dem Blick zu verlieren.“
In seinem Buch Du gehörst uns! diskutiert der Psychologe Alternativen zu den aktuellen Geschäftsmodellen der Plattformen. Er vertritt die Meinung, dass wir für ein gesundes Social Media, das nur bedingt mit den aktuellen Plattformen vergleichbar wäre, mit Geld bezahlen würden. Dadurch hätte die Industrie kein Interesse daran, die Onlinezeiten der Nutzenden zu verlängern.